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Soziologe Andreas Reckwitz
Die Krise des Westens

In westlichen Gesellschaften hat sich ein Gefühl zunehmender Unsicherheit etabliert. Globalisierung und Digitalisierung werden als Bedrohung empfunden. "Der Glaube an die Fortschrittserzählung ist erschüttert", sagte der Kultursoziologe Andreas Reckwitz im Dlf.

Andreas Reckwitz im Gespräch mit Karin Fischer |
    Der Schriftsteller und Kultursoziologe Andreas Reckwitz am 7.11. 2017 nach der Verleihung des Bayerischen Buchpreises für sein Buch "Die Gesellschaft der Singularitäten - Zum Strukturwandel der Moderne".
    Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz (picture alliance / Sven Hoppe/dpa)
    Ausgelöst durch die "populistische Revolte", so Reckwitz, wie sie in Italien, Frankreich, den USA, also in vielen westlichen Gesellschaften zu erleben sei, sei bewusst geworden: "Wir befinden uns in einem Prozess, in dem es Gewinner und Verlierer gibt."
    Diese "Krise des Westens" betrifft seiner Analyse nach das Selbstbild westlicher Gesellschaften als Zentrum des Modernisierungsprozesses. "Das westliche Fortschrittsnarrativ gilt nicht mehr so wie noch nach 1989, als man noch glauben konnte, die Welt verändere sich nach westlichem Muster, in Richtung auf Demokratie und Liberalisierung." Der derzeitige Wandel, durch die Globalisierung, den Aufstieg Chinas, die Verschiebung ökonomischer Gewichte, aber auch der Brexit oder die Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten seien Symptome dafür. Reckwitz beschreibt "das Ende der Illusionen eines gewissermaßen unbegrenzten und rückschrittsfreien Fortschrittsprozesses".
    Das Internet als Kulturmaschine
    Der gesellschaftliche Wandel der vergangenen Jahrzehnte ist auch am Beispiel Internet zu beschreiben. Zum einen präsentiert sich das Individuum dort in kulturellen Formaten, in Geschichten und Stories oder in Bildern und Spielen, die uns vor allem emotional ansprechen. "Davon lebt das Internet als Kulturmaschine", so Reckwitz. Die Möglichkeit des Rollenwechsels, dass jeder und jede potentiell Produzent und Produzentin sein kann, bedinge aber auch den Zwang zur Selbstdarstellung, zu dem schon Jugendliche herangezogen würden. Das Medium verlange, sich darzustellen nach den Kriterien der Einzigartigkeit, der Besonderheit, der Originalität oder Differenz. Damit stehe das spätmoderne Individuum im ständigen Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Akzeptanz. Diejenigen, die nicht "dabei sind", würden kulturell entwertet.
    Französische Gelbwesten als Symptom
    Das betrifft bestimmte Milieus, Reckwitz nennt sie die "alte Mittelklasse", wie etwa Menschen, die in ländlichen Gebieten wohnen mit mittleren oder einfachen Bildungsabschlüssen. "In diesen Milieus findet eine gefühlte Entwertung statt", so Andreas Reckwitz. Die Gelbwesten in Frankreich beanspruchten für sich eine neue Sichtbarkeit, aufgrund von Entwertungserfahrungen, die in Ländern wie Frankreich oder den USA durchaus real seien. Die Kehrseite der liberalen Politik werde inzwischen tatsächlich bewusster wahrgenommen. Gleichheitsmodelle in der Gesellschaft zu stärken und zu fragen, "was sind Ressourcen, die allen zur Verfügung gestellt werden können", wie in der Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen, zeigten, dass in Politik und Gesellschaft ein Umdenken statt finde.