Wissen Sie, was rechts ist? Oder links? Was für Fragen! Sofort fallen einem die Gewissheiten ein, die man diesen politischen Schlagworten zuordnet. Links - das ist pazifistisch, hedonistisch, wachstumskritisch, radikaldemokratisch. Und rechts? Das muss ja dann das Gegenteil sein.
Aber wer genauer hinschaut, dem zerbröseln die Gewissheiten: Es gibt linke Bellizisten, linke Asketen und Moralisten, Linke, die wirtschaftliches Wachstum als unabdingbar für die gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums ansehen, und es gibt auch Linke, die überhaupt keine Demokraten sind, sondern Anhänger einer Diktatur - in dem Fall einer der Ausgebeuteten und Subalternen über ihre früheren Ausbeuter.
Das Spiel, Gewissheiten zu zersetzen, funktioniert auch bei rechten Positionen. Es dürfte schwer sein, ja eigentlich unmöglich, "rechts" und "links" autonom aus sich heraus zu bestimmen. Was ein Linker ist, wissen wir, wenn ein Rechter auftaucht. Und umgekehrt. Die Unterscheidungen, die die Begriffe rechts und links intendieren, sind nur als relative, aufeinander bezogene, kontextabhängige denkbar. Und diese Unterscheidungen, das ist die These, die der Münchner Soziologieprofessor Armin Nassehi in seinem Buch "Die letzte Stunde der Wahrheit" vertritt, verlieren zunehmend ihre Orientierungskraft. Weil die gesellschaftlichen Kontexte zu komplex für diese Unterscheidung geworden sind. Oder in seinen Worten:
"Dass etwas rechts oder links sei, konservativ oder progressiv, enthält immer weniger Informationswerte. (...) Es hängt damit zusammen, dass die gewohnten Beschreibungschiffren, mit denen sich unsere Gesellschaft öffentlich selbst beschreibt, offenbar nicht mehr das treffen, worum es geht (...)."
Natürlich verschwinden linke und rechte Gesellschaftsbeschreibungen nicht einfach, denn:
"Das ganze Arsenal moderner Komplexitäten verlangt nach Erzählbarkeiten, nach Vereinfachungen, nach Komplexitätsreduktionen."
Aber diese Beschreibungen neigen dazu, "die erhebliche Komplexität und Unübersichtlichkeit, die Perspektivendifferenz und Widersprüchlichkeit der modernen Gesellschaft zu negieren oder zu ignorieren."
"Links denken - rechts leben"
Nassehis stellt fest, dass typisch linke und rechte Gesellschaftsbeschreibungen von der Homogenität der Gesellschaft ausgehen: Gesellschaften wären demnach aus einem Guss, einem dominierenden Prinzip unterworfen. Dagegen möchte Nassehi zeigen, dass es sich bei diesen Homogenitätsbehauptungen um Rhetorik handelt. Und für das praktische Leben spielten linke und rechte Beschreibungen kaum eine Rolle. "Links denken - rechts leben", sagt Nassehi dazu. Man tue sich leicht, "universalistische Argumente zu formulieren, sich die Welt aus einem Guss vorzustellen oder sie in einer bestimmten Weise für umbaufähig zu halten, ergo: eher links zu sein. Die konkrete Lebenspraxis dagegen folgt genau dieser Logik nicht und ist eher partikularistisch, gebrochen durch Unübersichtlichkeiten, Zugehörigkeiten und alltagstaugliche Stereotype, also eher rechts."
"Links denken - rechts leben" versteht der Soziologe nicht als einen moralischen Vorwurf, sondern als realen Zustand. Erst wer diese gesellschaftliche Realität anerkennt, ohne Scheuklappen, wer also den transzendentalen Unterbau ausblendet, kommt ihrer Komplexität näher.
"Wir erleben doch in unserer privaten Lebensführung, dass wir unterschiedlichste Perspektiven und Orientierungen der Gesellschaft in uns selber vorfinden, wir sind gleichzeitig Wirtschaftsbürger, wir sind Staatsbürger, wir sind Leute, die Familien haben, wir haben Freizeitinteressen, wir sind Gläubige in Kirchen und vieles andere mehr. Und diese unterschiedlichen Orientierungen müssen wir ja in uns selbst ineinander übersetzen."
Die eigenen Limitationen verstehen
Nassehi stammt aus der Schule der Systemtheorie, die hierzulande der 1998 verstorbene Niklas Luhmann geprägt hat. Die dort eingeübten Figuren der Selbstbezüglichkeit, der Paradoxie und der Meta-Ebene sind ihm beim Denken und Schreiben vertraut. Das versetzt ihn in die Lage, die blinden Flecken in linken und rechten Argumentationen zu identifizieren - einerseits. Andererseits aber verbauen diese Figuren ihm den eigenen Argumentationsgang. Das Buch strotzt vor Selbstbezüglichkeit, sagen wir es so: Nassehi schätzt die paradoxale Erklärung der eigenen Erklärung der Paradoxie. Das ist nicht ohne Witz, aber auf Dauer ermüdend. Und da drängt sich ein Verdacht auf: Ist der Autor es selbst, der die Komplexität der Gesellschaft erst herbeischreibt, um dann das Scheitern überlieferter Beschreibungsmodelle an dieser Komplexität zu konstatieren?
Das wäre schade, denn im Kern ist "Die letzte Stunde der Wahrheit" ein Plädoyer für eine kollektiv gesellschaftliche Empathie, etwas was Nassehi Übersetzen nennt. Die Partikularismen unserer Gesellschaft müssen, damit sie nicht zum Zerfall führen, untereinander abgeglichen werden - das setzt voraus, so Nassehi, dass wir in der Lage sind, in einer Entscheidungssituation das Verhalten der anderen zu antizipieren, zu verstehen und auch zu respektieren. Erst von da aus ließen sich gesellschaftliche Veränderungen denken.
"Eine Übersetzungsleistung würde immer darin bestehen, die andere Perspektive in ihren Erfolgsbedingungen und Limitationen zu verstehen und auch die eigenen Limitationen zu verstehen, um dann dazuzukommen, mit der komplexen Situation selbst umzugehen."
Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss.
Murmann Verlag, Hamburg 2015, 344 Seiten, 20,00 Euro.
Murmann Verlag, Hamburg 2015, 344 Seiten, 20,00 Euro.