Stefan Heinlein: Ein Leben auf dem Land, idyllisch in der Natur, fern vom Trubel der Großstadt – für viele ein Traum. Doch immer mehr Menschen in der Provinz sind offenbar unzufrieden mit ihrer Situation. Es gibt viele Probleme in strukturschwachen Regionen. Auch in manchen Ballungsräumen fühlen sich die Menschen abgehängt. Die Bundesregierung hat dies erkannt und deshalb vor einem Jahr eine Kommission ins Leben gerufen. Das Ziel ist ein genaues Bild der unterschiedlichen Lebensverhältnisse in Deutschland. Mitte der Woche wird der Bericht in Berlin präsentiert. Gleich drei Minister gehen gemeinsam an die Öffentlichkeit. Doch die Kernaussagen der Lagebeurteilung sind bereits heute auf dem Nachrichtenmarkt gelandet.
Am Telefon ist nun der Soziologe und Autor Michael Hartmann. Ich grüße Sie! Guten Tag, Herr Hartmann.
Am Telefon ist nun der Soziologe und Autor Michael Hartmann. Ich grüße Sie! Guten Tag, Herr Hartmann.
Michael Hartmann: Guten Tag!
Heinlein: Noch fehlen ja die Einzelheiten, aber dennoch Ihre Einschätzung, Herr Hartmann. Ist das der große Wurf, den Minister Seehofer vor einem Jahr versprochen hatte?
Hartmann: Nein, ich glaube nicht. Wenn die Kommission sich nicht mal einigen kann, kann man davon ausgehen, dass es keinen Bericht gibt, der politisch wirklich wirksame Konsequenzen hat. Und wenn man sich die letzten zwei Jahrzehnte anguckt, so muss man sagen, dass die Politik ja entscheidend dazu beigetragen hat, dass die Unterschiede nicht kleiner, sondern größer geworden sind. Durch Steuerpolitik, durch Arbeitsmarktpolitik hat sie dazu geführt, dass das untere Fünftel der Gesellschaft heute zehn Prozent real weniger Einkommen hat als vor 20 Jahren, und das obere Fünftel (*) hat 16 Prozent real mehr. Und das spiegelt dann solche regionalen Unterschiede wieder. Es gibt Städte im nördlichen Ruhrgebiet, genauso wie in den neuen Bundesländern oder im Saarland, wo die durchschnittlichen Einkommen relativ niedrig sind, und es gibt Regionen, an der Spitze Starnberg, aber auch im Taunus, aber auch jetzt im Rhein-Main-Gebiet, wo die Einkommen relativ hoch sind. Diese Auseinanderentwicklung, die man regional sehen kann, aber auch innerhalb einzelner Städte, wenn man jetzt Essen-Nord mit Essen-Süd vergleicht, Dortmund-Nord mit Dortmund-Süd, da hat die Politik sehr stark zu beigetragen. Und wenn man da was ändern wollte, ernsthaft, müsste man natürlich viele politische Weichenstellungen anders stellen, und das kann ich mir im Augenblick nicht vorstellen.
Heinlein: Die Politik hat geschlafen in den letzten Jahren. Verstehe ich Sie richtig, Herr Hartmann? – Ist es denn grundsätzlich richtig, dass die Politik, dass die Bundesregierung jetzt nun diese Kommission ins Leben gerufen hat und man jetzt die Lage analysiert und versucht, die Dinge zu ändern?
Hartmann: Ich habe bei diesen Kommissionen immer ein bisschen den Verdacht, wenn man real nichts machen will, ruft man erst mal eine Kommission ein. Dann gewinnt man Zeit und dann kann man sich in der Kommission streiten. Bestimmte Dinge liegen ja seit langem auf dem Tisch. Wenn man sich den sehr großen Niedriglohn-Sektor anguckt, der zur deutlichen Senkung von Einkommen in bestimmten Regionen geführt hat, oder die Steuererleichterung für hohe Einkommen, das ist klar, was das für Konsequenzen hat. Wenn man sich die Wohnungspolitik anguckt, die hohen Einkommen können in bestimmten Regionen oder Stadtteilen die hohen Mieten bezahlen oder die hohen Grundstückspreise. Da wüsste man, wo man ansetzen könnte. Ich persönlich habe immer das Gefühl, dass so eine Kommission nicht wirklich ernsthaft mit dem Ziel eingesetzt wird, an diesen Punkten was zu ändern.
Gestiegene Ungleichheit insgesamt
Heinlein: Strukturschwache Regionen, das sind ja nicht nur menschenleere Regionen auf dem Land, sondern Sie haben es gesagt, auch Ballungsräume mit hoher Arbeitslosigkeit wie etwa das Ruhrgebiet. Essen-Nord haben Sie genannt. Sind die Probleme für die Menschen in diesen unterschiedlichen Regionen aus soziologischer Sicht vergleichbar?
Hartmann: Nein, die Probleme sind natürlich nicht vergleichbar, weil die Strukturen unterschiedlich sind. Was Sie aber generell sagen können ist, dass es eine Auseinanderentwicklung gibt, und das ist unabhängig von Ost und West. Ich nehme jetzt mal im Osten eine der sogenannten Boom-Regionen Potsdam. Potsdam hat inzwischen ein durchschnittliches Einkommen, was ein Viertel höher ist als in Gelsenkirchen. Das heißt, es ist nicht mehr ein reines Ost-West-Problem, obwohl der Osten insgesamt immer noch deutlich schlechter dasteht, sondern es ist ein Problem, was mit gestiegenen Ungleichheiten in der Gesellschaft generell zu tun hat. Da wo sich hohe Einkommen ballen, da gibt es natürlich auf dem Wohnungsmarkt Probleme für Leute, die diese hohen Einkommen nicht haben, mitzuhalten und dann müssen die an die Ränder der Städte ziehen oder ins Umland, oder sie müssen sich woanders was suchen. Und das haben Sie in allen Regionen in Deutschland und Sie haben es manchmal in einer Stadt konzentriert. Das hat dann auch politische Konsequenzen, wenn Sie sich Essen angucken. Bei den letzten Wahlen in Essen-Nord hat die AfD dreimal so viel gekriegt wie in Essen-Süd.
Heinlein: Wenn Menschen sich nun dauerhaft benachteiligt und abgehängt fühlen, egal ob auf dem Land oder in diesen Ballungsräumen, welche Folgen hat das für das politisch-gesellschaftliche Denken, für das Klima in unserer Gesellschaft?
Hartmann: Die Konsequenzen sind abzusehen am Aufstieg der AfD. Die AfD hat ja vor allem im Ruhrgebiet dort gewonnen, wo die Lebensbedingungen sich deutlich verschlechtert haben. Das ist eine Protesthaltung. Und es hat generell die Konsequenz, dass in einer Gesellschaft der Zusammenhalt Stück für Stück nachlässt. Das heißt, ein zunehmender Teil der Gesellschaft fühlt sich in dieser Gesellschaft nicht mehr repräsentiert, geht dann gar nicht mehr wählen oder wählt aus Protest, und diese Tendenz kann man in den letzten 20 Jahren in vielen Regionen Deutschlands sehen. Da wo die Einkommensverhältnisse unterdurchschnittlich sind, ist die Protesthaltung in der Regel am stärksten.
Das gilt nicht in allen Regionen gleichermaßen, aber wenn Sie sich die Bundesländer angucken, ist das ein durchgehender Faden. Was man häufig vergisst, wenn man dann darauf hinweist: Na ja, da wo die Einkommen niedrig sind, sind ja auch die Mieten niedrig. Das stimmt zwar. Aber wenn Sie sich die Wohnkostenentwicklung angucken: Beim unteren Fünftel der Gesellschaft ist der Anteil des realen Einkommens, der für Wohnen ausgegeben wird, in den letzten 20 Jahren von 27 auf 39 Prozent gestiegen, und beim oberen Fünftel ist er gesunken von 16 auf 14 Prozent, weil die Zinsbelastungen für Kredite gesunken sind. Das sind alles Entwicklungen, die den Zusammenhalt in einer Gesellschaft Stück für Stück auflösen.
AfD-Aufstieg auch wegen wachsender Ungleichheit
Heinlein: Wenn Sie sagen, die AfD profitiert von diesen unterschiedlichen Lebensverhältnissen, von diesem Gefühl des abgehängt seins, dann müssen Sie mir erklären: Warum ist die AfD vor allem im Osten, in den neuen Bundesländern so stark, aber nicht im Ruhrgebiet, eine Region, wie Sie sagen, die ja auch ebenfalls abgehängt ist und schlechtere Lebensverhältnisse hat?
Hartmann: In den neuen Bundesländern kommen spezifische Bedingungen dazu, weil man das Gefühl hat, man ist generell abgehängt worden. Durch die Politik der Treuhand, die De-Industrialisierung, die Besetzung fast aller hohen Führungspositionen mit Westimporten ist da das Gefühl besonders ausgeprägt. Dazu kommt, dass vor allem im ländlichen Raum, was die Infrastruktur angeht, die Verkehrsanbindungen, was Bahn, Busse und Ähnliches angeht, flächendeckend einen sehr schlechten Zustand hat, dass die Bevölkerung im Osten, vor allem junge Frauen in großem Maßstab abgewandert sind. Die Übriggebliebenen haben das Gefühl, wir sind die Vergessenen. Aber wenn man sich das nördliche Ruhrgebiet anguckt und nimmt jetzt die letzten Landtags- und Bundestagswahlen - auch im nördlichen Ruhrgebiet, Essen-Nord, Recklinghausen, hat die AfD bei den Landtagswahlen 15 Prozent bekommen. Das heißt, die Unterschiede zu Regionen im Osten sind nicht so groß, wie man das vermutet. Die Regionen im Westen sind nur kleiner.
Heinlein: Herr Hartmann, auch in anderen europäischen Flächenländern wie Frankreich oder Großbritannien gibt es ja große Unterschiede zwischen den Regionen. Sind da die Probleme vergleichbar, oder ist Deutschland dann, wie Sie sagen, mit den neuen Bundesländern noch immer in einer Sondersituation?
Frankreich und Großbritannien als Negativbeispiel
Hartmann: Es gibt ein bisschen eine Sondersituation, aber die Probleme in Frankreich sind meines Erachtens oder auch in Großbritannien sogar noch schärfer. In Großbritannien haben die konservativen Regierungen seit langem den Norden völlig vernachlässigt. Das Geld ist konzentriert worden im Großraum London und das hat dazu geführt, dass der Norden zu großen Teilen dann beim Brexit für den Brexit gestimmt hat – mit der Begründung: Es gibt einen Journalisten, der ist mal durch den Norden gefahren und der hat dann Leute gefragt, warum sie für den Brexit stimmen, obwohl in ihrer eigenen Stadt ein japanischer Autohersteller das Werk schließt. Dann war die Antwort, das ist uns inzwischen egal, viel schlechter kann es nicht werden. Hauptsache, die in London trifft es auch mal. Und in Frankreich mit der Zentralisierung auf Paris - da gibt es Paris und die Provinz. Die Anbindungen verkehrstechnisch in der Provinz sind noch viel schlechter als in Deutschland. Verglichen mit den beiden Ländern ist die Situation in Deutschland noch vergleichsweise günstiger, aber es geht in dieselbe Richtung.
Heinlein: Viel Kritik aus Ihrem Mund an der Arbeit der Bundesregierung und an der Arbeit dieser Kommission. Vielleicht zum Schluss noch ein versöhnliches Wort. Ist es denn grundsätzlich richtig, wenn jetzt Horst Seehofer und die anderen Minister vorhaben, nicht länger nach Ost und West zu gehen, sondern nach Bedarf zu fördern, auch das Ruhrgebiet und nicht nur die Lausitz?
Hartmann: Ja, das ist natürlich richtig. Man muss immer gucken, wo verschlechtert sich was oder wo ist es schlecht. Und dann ist es so: Im Osten gibt es Regionen wie Dresden oder Leipzig oder Potsdam, wo der Bedarf deutlich niedriger ist als in Teilen des nördlichen Ruhrgebiets oder im Saarland oder auch im südwestlichen Rheinland-Pfalz.
(*) Der Gesprächspartner hatte hier versehentlich eine falsche Anteilsangabe genannt. Wir haben den Fehler auf seinen Wunsch hin im Text korrigiert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.