Sozialpolitik
Soziologe Sell kritisiert "verengte Diskussion" zu Bürgergeld

Die Diskussionen der vergangenen Monate rund um das Thema "Bürgergeld" hat der Sozialwissenschaftler Stefan Sell als "äußerst verengt" kritisiert. Es seien seit der Einführung zwar in der Tat weniger Menschen aus der Grundsicherung in Arbeitsverhältnisse gekommen, dies sei jedoch kein ausschließlicher "Bürgergeld-Effekt". Verstärkt auf Sanktionen zu setzen, hält er zudem für einen Fehler.

    Der Schriftzug "Agentur für Arbeit" und das Logo der Agentur sind an einem Jobcenter in Kreuzberg zu sehen.
    Soziologe Stefan Sell kritisiert eine "Rückabwicklung" des ursprünglichen Bürgergeld-Konzepts. (picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg)
    Man müsse bei der schlechten Vermittlungsquote aber auch die schwierigere gesamtwirtschaftliche Situation berücksichtigen, sagte der Wissenschaftler von der Hochschule Koblenz im Deutschlandfunk. Hinzu komme, dass von den rund fünfeinhalb Millionen Empfängern von Bürgergeld nur etwa ein Drittel tatsächlich arbeitslos sei. Hunderttausende seien pflegende Angehörige und Alleinerziehende, die sehr intensiv arbeiteten, betonte Sell. Denen könne kein Vorwurf gemacht werden, dass sie zu faul zum Arbeiten seien.
    Bürgergeldbezieher seien zudem nicht selten Langzeitarbeitslose mit zahlreichen sogenannten Vermittlungshemmnissen, die es auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer hätten. Viele Menschen seien gesundheitlich beeinträchtigt oder hätten mangelhafte Sprachkenntnisse. Als weiteres großes Problem nannte Sell, dass zwei Drittel aller Langzeitarbeitslosen keinen Berufsabschluss haben.

    "Rückabwicklung des ursprünglichen Bürgergeld-Plans"

    Zwar sollte die Bürgergeld-Reform durch eine verstärkte Förderung die Empfänger fitter machen für die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt, aber nun werde vieles rückabgewickelt. Statt Anreize zu geben werde nun wieder verstärkt auf Sanktionen gesetzt wie beim früheren Hartz-IV-System, erklärte Sell.
    Im Zuge ihrer Einigung auf den Bundeshaushalt 2025 hatten die Spitzen der Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP eine sogenannte Wachstumsinitiative beschlossen, die auch Änderungen beim Bezug von Bürgergeld vorsieht. Sanktionen beim Ablehnen einer Arbeits- oder Ausbildungsstelle sollen verschärft und die Annahme einer Arbeitsstelle auch bei langen Arbeitswegen verlangt werden können. Auch soll Schwarzarbeit von Bürgergeldbeziehern künftig stärker geahndet werden.

    "Kindergrundsicherung ist gescheitert"

    Ein vernichtendes Urteil fällte der Sozialwissenschaftler über die Pläne der Ampel-Koalition zur Kindergrundsicherung. Diese sei ein Trauerspiel und als grundlegendes Reformwerk gescheitert, sagte Sell. Dafür sei zum einen der enorme bürokratische Aufwand verantwortlich, zu der die Kindergrundsicherung geführt hätte, zum anderen die Tatsache, dass die Regierung angesichts des maroden Haushalts nicht bereit gewesen sei, ausreichend Geld für das Projekt zur Verfügung zu stellen.
    Die Verknüpfung der Kindergrundsicherung mit anderen Maßnahmen widerspreche dem ursprünglichen Plan, die Kindergrundsicherung als eigenständiges Instrument zu etablieren.
    Diese Nachricht wurde am 10.07.2024 im Programm Deutschlandfunk gesendet.