Reimer Gronemeyer ist Jahrgang 1939. Bis heute ist er Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit den Fragen des Alterns in der Gesellschaft. Ein besonderes Anliegen ist ihm die diakonische Arbeit. Seit einem Vierteljahrhundert liegen seine Schwerpunkte auch auf der Hospizbewegung, auf Demenz und Palliative Care.
Kurz vor der EKD-Synode im November legt Gronemeyer nun ein Buch vor mit dem Titel: "Der Niedergang der Kirchen – Eine Sternstunde?" Darin blickt er zurück; aber vor allem entwirft er eine Vision, wie die Kirchen im Jahr 2060 aussehen könnten. Aktuelle Krisen wie die Corona-Pandemie würden diese Umbrüche beschleunigen.
"Es bleibt auch ein Stück Wehmut"
Andreas Main: Was macht Sie wehmütig, wenn Sie an die Kirche denken, wie sie war, als sie vor 50 Jahren Seelsorger in Hamburg waren?
Reimer Gronemeyer: Nun, die Kirche ist auch vor 50 Jahren nach meiner Erinnerung schon in einer Krise gewesen. Also, das Wegbleiben der Gottesdienstbesucher, das hat ja damals schon begonnen. Ich weiß, dass ich als junger Vikar noch voller Empörung und Enthusiasmus mich geärgert habe darüber, dass Weihnachten die Gotteshäuser voll waren und sonst leer. Ich fand das irgendwie einen Skandal. Und heute habe ich darauf natürlich einen anderen Blick. Aber die Krise ist schon länger da. Sie ist ja in Ostdeutschland ohnehin, jetzt und früher auch noch, mit ganz anderen Dimensionen ausgestattet gewesen.
Main: Aber das, was Sie damals erlebt haben, was es heute womöglich nicht mehr gibt, das ist dann wahrscheinlich schon ein Punkt, was Sie auch ein bisschen traurig macht?
Gronemeyer: Es gibt in dieser Krise, die die Kirche erfährt, vieles, was mich traurig macht. Manches davon ist vielleicht die Sentimentalität des Verschwindens von Dingen, die dann auch verschwinden müssen. Aber, wenn ich heutzutage in einen Gottesdienst gehe, dann sehe ich - auch Weihnachten - und höre ich, dass ich mehr oder weniger mit dem Singen alleine bin. Ich meine, jetzt bei Corona ist das ja noch mal wieder was Anderes. Aber das ist auch etwas traurig, natürlich.
Auch die selbstverständliche Gegenwart von Kirche in der Öffentlichkeit schmilzt ja ab wie die Polkappen. Und wenn ich klar und rational darüber nachdenke, dann finde ich das auch vielleicht sogar begrüßenswert. Aber es bleibt auch ein Stück Wehmut.
Main: Etwa, wenn ich mir vorstelle, dass diese großartigen Kirchengebäude, egal, ob evangelisch oder katholisch genutzt, dass die demnächst nur noch Touristenmagnete sind. Nichts gegen Touristen und gegen Kulturinteressierte, aber dass sie sozusagen ihres Sinnes entleert sind, also, wenn einen das wehmütig macht, ist man ja nicht per se reaktionär, oder?
Gronemeyer: Das ist ein großer Schmerz geradezu. Ich war vor einigen Monaten, als man noch reisen konnte, in Straßburg im Münster. Vollgestopft mit Touristen aus der ganzen Welt. Und ich habe gedacht: Ja, das ist eigentlich jetzt schon ein Museum, in dem das, was da mal stattgefunden hat, der jahrtausendelange Gesang der Mönche, das ist alles verschwunden. Uns bleiben eigentlich kalte Mauern, in denen der Geist, der dort mal beseelt hat, weitgehend verschwunden ist. Und das ist schon für diejenigen, die daran eine Erinnerung haben oder sich das vorstellen können, was da gewesen ist, ein sehr trauriger Augenblick.
"Eine große Zukunft für eine ganz andere Kirche"
Main: So, jetzt könnten einige Hörerinnen und Hörer denken: Mensch, Mensch, Mensch, diese alten sentimentalen, nostalgischen Männer. Und, wenn ich Sie jetzt auch noch frage: Eine Rückbesinnung auf Religion, auf Spiritualität, auf den Kern - ist es das, was den Niedergang aufhalten könnte hierzulande?
Gronemeyer: Na ja, der Niedergang der Kirchen ist ja vor allen Dingen ein Niedergang der Steuerzahler, sagen wir mal. Also, da wird sich bis zum Jahre 2060 die Zahl noch mal halbieren. Und das wird die Kirchen, evangelisch, katholisch, in große ökonomische und auch wohl kulturelle Krisen stürzen.
Aber ich glaube – und ich bin fast sicher –, dass die Sehnsucht nach Spiritualität, nach der Erfahrung des ganz Anderen, nicht mit dem Aussterben der Kirchensteuer zusammengeht. Ich würde das eher hoffen, dass es eine große Chance ist, in der etwas aufbricht, was jetzt vielleicht schon unter den Trümmern begraben zu sein scheint, aber das vielleicht eine große Zukunft hat für eine ganz anders gewordene Kirche.
"Was tröstet?"
Main: An Sie als Soziologe die Frage: In welche Reaktionen flüchten sich zurzeit die Kirchenleitungen?
Gronemeyer: Nun ja, ich meine, mit Hochglanzbroschüren wird man den Zusammenbruch der traditionellen Volkskirche nicht aufhalten können. Und diese Vorstellung, man müsste doch immer irgendwie jedenfalls noch mitreden, wenn es große ethische Fragen gibt oder politische Richtungen zu kritisieren oder zu loben sind, diese Flucht in einen Elfenbeinturm, den manche unserer Bischöfe, Bischöfinnen versuchen, das ist ein Ausweg in eine Richtung, die nicht hilfreich ist.
Es ist der Augenblick einer Umkehr, eines Neuanfangs, in dem diese Fragen wichtig werden: Was tröstet? Wo ist die Sehnsucht nach Sinn? Wo ist die Sehnsucht nach Spiritualität? Wo ist die Sehnsucht, mit der Diesseitigkeit dieser Welt auch zu brechen?
Main: Es steht demnächst eine EKD-Synode an. Welchen Appell haben Sie an die Synodalen, was die aktuelle Situation betrifft? Was ist zu tun?
Gronemeyer: Ja, ich fürchte, dass der Blick sich ganz stark auf Corona richten wird. Das ist ja auch nicht falsch. Das ist ja ein wirklich großes Thema. Aber, dass gewissermaßen die Sensibilität für die Sehnsüchte der Menschen dabei zu kurz kommt, also Social Distancing, also Distanz halten, Masken etc., alles gut und richtig, aber die Frage nach der körperlichen Begegnung, nach der Leiblichkeit, nach dem, was Gemeinde ist, die wird, glaube ich, nicht eindringlich genug gestellt. Also, man findet sich ab mit einem Begriff wie dem der Risikogruppe. Aber die Frage, was uns verbindet oder was uns trennt und woran wir leiden, wofür wir kämpfen wollen, die beantwortet sich nicht mit der Kennzeichnung meiner Person als Angehöriger einer Risikogruppe.
Main: Sie fühlen sich da sogar ausgegrenzt, vermute ich.
Gronemeyer: Ich fürchte, das lässt am Horizont so etwas wie eine neue Altenfeindlichkeit möglich werden.
"Der Papst hat die triumphierende Kirche verabschiedet"
Main: Reimer Gronemeyer, Theologe und Soziologe, Professor an der Universität Gießen, im Deutschlandfunk mit einer Diagnose von Kirchen und Gesellschaft in diesen merkwürdigen Zeiten. Herr Gronemeyer, Sie erinnern in Ihrem Buch an jenen Urbi-et-orbi-Segen von Papst Franziskus - ich meine, es war im März oder war es April? – der Sie zutiefst berührt hat und von dem Sie glauben, dass er das Bild sein dürfte, was bleiben wird, um auch sich zu verdeutlichen, was die Kirche in diesem Corona-Jahr und in den künftigen Jahren durchmachen wird. Was lesen Sie raus aus diesem Bild?
Gronemeyer: Ich bin ja ein evangelischer Theologe gewesen und bin es immer noch. Aber ich habe einen großen Respekt, ja, fast kann ich sagen, Bewunderung für diesen Papst Franziskus, der immer wieder Dinge tut, die mich hoffen lassen.
Die Übertragung dieses Gottesdienstes aus der leeren Petersbasilika, von einem leeren Platz vor der Peterskirche, wo dieser alte Mann – der ist noch älter als ich – diese Messe zelebrierte, nur assistiert von ein paar Priestern und Zeremonienmeistern, das hat mich sehr berührt als etwas, was in einem Augenblick konzentriert das deutlich machte, was der Kirche bevorsteht. Der Wegfall dieser großen, mit bunten Roben und großer Macht ausgestatteten, auch mit Geld ausgestatteten Kirche und Kirchen. Und ich glaube, dass dieser Papst die Verabschiedung dieser Ecclesia Triumphans, der triumphierenden Kirche, in diesem Augenblick sehr deutlich empfunden hat. Für mich war das jedenfalls so ein Augenblick, wo der Schalter umgedreht wurde und etwas sehr Trauriges passierte, aber gleichzeitig auch sich der Horizont öffnet für eine neue, für eine andere Weise Kirche zu leben, Christ zu sein.
"Der Konsumrausch war über Nacht verschwunden"
Main: Wir müssen nicht darüber reden, dass fast niemand Corona als Strafe Gottes sieht. Aber Sie reden vom Zeichen Gottes. Was zeigt Ihnen Corona?
Gronemeyer: Na, ich kann das an meinem eigenen Leben und dem, was ich in diesen Monaten erfahren habe, zunächst mal klarmachen. Ich ein Mensch, der sehr viel unterwegs gewesen ist, sehr viel gereist hat. Ich habe verschiedene Projekte in Afrika, an denen ich arbeite. Und über Nacht war das alles weg. Es war der Himmel ohne Flugzeuge. Und der Konsumrausch war über Nacht eigentlich verschwunden.
Das ist etwas, was ich nicht für möglich gehalten habe. Ich habe ja immer davon geredet, dass wir weniger konsumieren müssen, dass wir weniger reisen müssen, dass wir im Interesse des Lebens unserer Nachkommen auf die kommende Klimakatastrophe reagieren müssen. Und mir ist immer nicht vorstellbar gewesen, dass das möglich ist. Und es war über Nacht möglich.
Das ist schon etwas, was mich sehr tief berührt hat. Ob man das nun als ein Zeichen sehen will oder nicht, das ist was ungeheuerlich Aufregendes, was einhergeht für viele Menschen mit der Vernichtung ihrer ökonomischen Existenz, mit Vereinsamung, mit Gewalt in Familien und so. Das ist mir alles bewusst. Aber, dass es möglich ist, dass wir uns radikal ändern, das hat Corona mit sich gebracht.
"Die Rücksichtslosigkeit der neuen Wissenschaftsreligion"
Main: Die Covid-19-Pandemie ist für Sie als Soziologe ein wesentlicher Punkt des Umbruchs, wenn ich das mit meinen Worten sagen darf. Es kommt dann zu einem Punkt in Ihrem Buch, wo es darum geht, dass quasi die Naturwissenschaft die neue Religion werde – so Ihre These. Sie sprechen dann von der "Rücksichtslosigkeit der neuen Wissenschaftsreligion". Das ist starker Tobak.
Gronemeyer: Ja. Und es ist gewissermaßen sehr gegen den Strom der Zeit formuliert. Und die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Strom der Zeit mich wegspült, ist ziemlich groß. Aber ich glaube, dass es richtig ist zu sagen, dass wir einen tiefen Umbruch erleben, der auch darin besteht, nicht nur im Zusammenhang mit Corona, sondern im Zusammenhang mit einem neoliberalen Entfesselungsakt, der dazu führt, dass man den Eindruck haben kann, dass die Reichen dieser Welt die Armen eigentlich abgehängt haben und die ihnen egal sind.
Also, diese absurde Geschichte von Elon Musk, dem Tesla-Fabrikanten, der sagt, wir müssen an Raumschiffe denken, mit denen wir diesen Planeten, der verwüstet ist, verlassen können, um uns auf anderen Planeten in eine Rettungssituation zu begeben, das ist natürlich ein Bild, das erstens wahrscheinlich absurd ist und zweitens eigentlich nur vor einer Elite, die sich rettet, spricht.
Und ich glaube, dass diese Tatsache, dass wir es mit immer mehr Flüchtlingen, mit einem anwachsenden Hunger, wie es die Welthungerhilfe gerade noch mal wieder unterstrichen hat, zu tun haben, die große Herausforderung ist, die wir aber mit ganz anderen Wegen und ganz anderen Mitteln in Angriff nehmen müssen.
"Diesseitskrüppel ohne Hoffnung"
Main: Sie zitieren in Ihrem Buch den italienischen Philosophen Giorgio Agamben, der in einem sehr umstrittenen Essay in der NZZ, in der Neuen Zürcher Zeitung, geschrieben hat: "Es ist als hielte das religiöse Bedürfnis, dass die Kirche nicht mehr zu befriedigen vermag, tastend nach einem anderen Aufenthaltsort Ausschau und fände denselben in derjenigen Religion, die längst zur wahren Religion unserer Zeit geworden ist, der Wissenschaft."
Gronemeyer: Ja, ich glaube, dass, wenn man sich zum Beispiel in universitären Kontexten bewegt, wie ich das ja nun irgendwie in meinem Berufsleben lang gemacht habe …
Main: Ein halbes Jahrhundert.
Gronemeyer: Ja. Dass das sehr evident ist. Die Frage nach Sinn ist aus der Universität verschwunden. Es ist ein Ort radikaler Diesseitigkeit, radikaler Vorstellung der Berechenbarkeit und der Planbarkeit des Lebens. Und ich neige dazu, die Menschen, die dabei herauskommen, als Diesseitskrüppel zu bezeichnen, also als Menschen, die für sich und für die Welt nichts anderes hoffen.
Ich bin ja engagiert in der Hospizarbeit. Und ich höre von Leitern und Leiterinnen von Hospizen, dass sie die Erfahrung machen, dass noch vor 20 Jahren gewissermaßen die Vorstellung, dass etwas über mich hinausweist, die letzten Stunden vieler Menschen bestimmt hat. Heute überwiegt eigentlich die Zahl der Menschen, die dieser Diesseitigkeit vollkommen verfallen sind und deren vollkommen abgeschotteter Glaube an die Naturwissenschaft als ihrer Religion, die ihnen keinerlei Hoffnung macht zu irgendetwas, dass die alles besetzt hat.
Das erinnert mich an Kardinäle des 16. Jahrhunderts, des 15. Jahrhunderts vielleicht auch, die meinten, man könne jeden, der ihre Religion bestreitet, verbrennen und damit aus der Welt schaffen. So kommen mir manchmal die Kardinäle der Naturwissenschaft heute wie Menschen vor, die mit einer verbissenen Eindimensionalität das naturwissenschaftliche Alleinvertretungsgebot vertreten, bestimmen und nichts Anderes mehr denkbar lassen wollen.
Das ist natürlich etwas, was im Moment noch nicht so richtig spürbar ist, aber was natürlich dazu führen muss auch, dass die Theologie zum Beispiel als Wissenschaft in der Universität keine Chancen mehr hat. In 20 Jahren wird sie es da nicht mehr geben.
Wie sieht die Kirche 2060 aus?
Main: Reimer Gronemeyer, Soziologieprofessor und Theologe, im Deutschlandfunk, in der Sendung "Tag für Tag – aus Religion und Gesellschaft". Herr Gronemeyer, wir haben begonnen mit dem Niedergang der Kirchen, waren jetzt in dieser Umbruchsituation in diesen merkwürdigen Covid-19-Zeiten. Jetzt schauen wir nach vorne, schauen nach 2060. Sie entwickeln eine Vision für die evangelische Kirche 2060, auch für die Kirchen. Erst mal: Ist das eine Horrorvision für Sie zum Teil? Oder ist das auch mehr Ihre Hoffnung?
Gronemeyer: Also, mir scheint es so, als wenn die Krise der Kirche auch mit der Krise des "weißen Mannes", auch des "alten weißen Mannes" einhergeht, der ja großartige Dinge zustande gebracht hat, aber im Moment eigentlich in den letzten Jahren und Jahrzehnten vor allen Dingen mit daran wirkt, diesen Planeten zu einem unbewohnbaren Ort zu machen. Von da aus denke ich, dass die Kirche eine Zukunft hat, ob sie evangelisch ist oder katholisch, nur, wenn sie sich von dieser Herrschaft der "weißen alten Männer" befreit.
"Ich hoffe, dass die Kirche in die Hände der Frauen gerät"
Main: Das heißt, es wird eine Kirche sein, die Priesterinnen und Bischöfinnen ganz selbstverständlich hat, egal, ob katholisch oder evangelisch?
Gronemeyer: Davon gehe ich aus. Wobei ich gleich die Einschränkung hinzuführen muss: Damit ist noch nicht alles gerettet. Die Möglichkeit, dass Frauen denselben Schrott dann machen wie Männer ihn gemacht haben, die ist natürlich da.
Aber das, was ich sehe, gerade, wenn ich an meine afrikanischen Zusammenhänge denke, da, wo soziale Kräfte stark sind, wo Menschen sich darum bemühen, Waisenkinder zu retten oder Hunger zu bekämpfen, dann sind das eher die Frauen als die Männer. Und insofern ist meine Hoffnung damit verbunden, dass Kirche eine Zukunft hat, wenn sie in die Hände der Frauen gerät.
"Die Kirche 2060 wird die trösten, die leiden"
Main: Sie haben Afrika angesprochen. Sie haben Frauen angesprochen. Ähnelt diese Kirche, wenn die dann überhaupt noch Kirche heißt, eher einer afrikanischen Pfingstgemeinde oder einer US-amerikanischen Freikirche? Alles Kirchen, die heute noch belächelt bis bekämpft werden.
Gronemeyer: Ich habe keine große Zuneigung zu evangelikalen Kirchen. Aber ich erlebe, wenn ich in Afrika bin, vor allem im südlichen Afrika, eine solche ergreifende Frömmigkeit und Lebendigkeit. Da hingucken, heißt etwas lernen können davon, dass, sagen wir mal, diese kalte Herrschaft der naturwissenschaftlichen Diesseitigkeit bei uns in afrikanischen Zusammenhängen sich sofort in nichts, in Rauch auflöst.
Da ist etwas Anderes lebendig. Das wird vielleicht im Moment gerade evangelikal ein Stück weit kolonisiert. Da muss man aufpassen. Aber im Großen und Ganzen muss ich sagen, dass ich in afrikanischen Zusammenhängen etwas zu erfahren meine, was mich an urkirchliche Zustände erinnert, so, wie ich sie mir jedenfalls vorstelle.
Also, das, was ja die Urgemeinde ausgemacht zu haben scheint, ist, dass jemand an die Tür klopfen konnte und es war immer eine Matratze, es war immer ein Stück Brot und es war immer eine Kerze für den da, weil man wusste, der da klopft, das ist Jesus, sozusagen das ist der Mensch gewordene Gott. Und ich glaube, dass diese kommende neue, alte Gemeinde davon leben wird, die zu trösten, die getröstet werden müssen, die mit Brot zu versorgen, soweit es geht, die hungern und die zu trösten, die leiden.
Ich würde mal sagen, die Kirche ist heute so überflüssig wie nie zuvor. Und sie ist gleichzeitig so notwendig wie nie zuvor. Wir rutschen in eine Situation hinein, wo jeder, der das wissen will, wissen kann, dass Krisen unglaublichen Ausmaßes auf uns zukommen. Die Zahl der Menschen, die leiden, wird zunehmen. Und wie soll denn die Antwort darauf sein? Sollen wir die auslöschen? Sollen wir die verhungern lassen? Oder sollen wir die Flamme der Geschichte des barmherzigen Samariters, also der Zuwendung zu den anderen, anfachen? Wir pusten, pusten, bis sie so lodert, dass sie die Menschen wärmt.
Main: Reimer Gronemeyer, Professor für Soziologie an der Universität Gießen und Theologe. Danke, Herr Gronemeyer, für Ihre Einschätzung und für den Besuch im Studio.
Gronemeyer: Vielen Dank, Herr Main.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Reimer Gronemeyer: "Der Niedergang der Kirchen: Eine Sternstunde?"
Claudius Verlag, 176 Seiten, 18 Euro.
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