Die Soziologie bekommt meist dann große Aufmerksamkeit, wenn in der Gesellschaft etwas schief läuft. Sie ist, wenn man so will, eine Art Krisengewinnlerin. Das war vor allem 2008 so, als die Finanzkrise Märkte und Gesellschaft ins Wanken brachte. Heute, so die hiesige Reflexion in Politik und Medien, kriselt es vor allem in den Ländern am Mittelmeer; in Griechenland besonders heftig.
Für Professor Klaus Dörre, einer der Direktoren des Jenaer Postwachstum-Kollegs, ist Griechenland jedoch eine Gesellschaft neuen Typs, "die nur noch deshalb funktioniert, weil sich informelle Strukturen herausbilden. Also Ärzte, die nach Feierabend Kranke versorgen, die keinen Anspruch auf Leistungen haben. Tauschringe ohne Geld. Man bringt Leute kostenlos auf Campingplätzen und in den eigenen Wohnungen unter und so weiter. Also informelle Strukturen, die paradoxerweise den Kapitalismus ohne Wachstum stabilisieren und gleichzeitig die noch bestehenden Institutionen unterhöhlen. "
"Auch Griechenland ist eine Alternative zum Wachstumsmantra. Das ist, wie Nichtwachstum in der heutigen Gesellschaft aussehen würde", meint Christine Schickert, die ebenfalls am Jenaer Kolleg forscht. Sie fügt ein Aber an:
"Es geht nicht darum, dass wir als Soziologinnen und Soziologen sagen: Wir müssen jetzt zurück zu kleinen Strukturen, wir müssen unsere Lebensmittel selber anbauen – wir geben ja nicht vor, was der Weg sein könnte. Es gibt eine Analyse, dass es so nicht weitergehen kann mit dem Wachstum, da sagt das Kolleg: Nein! Aber die Alternativen wären dann breit gefächert."
"Kein Feld mehr, das nicht vermarktlicht ist"
Die deutsche Gesellschaft, die nach wie vor und recht erfolgreich durch Wachstum stabilisiert wird, steht dem eher ablehnend gegenüber, gleich wenn wenige durch den machtvollen Finanzkapitalismus aufgestiegen sind, viele dagegen abgestiegen. "Paternostereffekt" nennt es Klaus Dörre: Es entstehe eine neue Art der "Risikogesellschaft" – ein Begriff, den der jüngst verstorbene Ulrich Beck in den 1980er-Jahren geprägt hat.
"Da war eigentlich die Leistung, zu sagen: Der ökologische Gesellschaftskonflikt ist so zentral, dass er gesellschaftsbildend geworden ist. Die ungesehenen Nebenfolgen industrieller Produktion, die Schadstoffproduktion, die Erzeugung ökologischer Gefahren – das wirkt gesellschaftsbildend. Das ist nicht völlig falsch. Aber was sich nicht mehr aufrechterhalten lässt, ist, dass diese Logik ökologischer Risikoproduktion die Logik der Reichtumsproduktion und -verteilung außer Kraft setzt. Das war die Vorstellung von Ulrich Beck: Wir bewegen uns in einer Gesellschaft, die nicht mehr in Klassen strukturiert ist, mit weitreichenden Individualisierungsprozessen, die neue Koalitionen schafft und so weiter. Das lässt sich nicht aufrechterhalten…"
Im Gegenteil würden Klassenkonflikte neu aufbrechen. Klaus Dörre spricht deshalb von einer ökonomisch-ökologischen "Zangenkrise", weil zur Aufrechterhaltung eines sozialen Friedens weiterhin für Wachstum gesorgt werden muss. Das aber schädigt die Umwelt, wie der nach wie vor wachsende CO2-Ausstoß belegt. Zudem schreitet die Ein- und Unterordnung unseres gesamten Lebens in "den Markt" fort.
"Sie haben im Prinzip jetzt kein Feld mehr, das nicht vermarktlicht ist", meint Professorin Brigitte Aulenbacher von der Uni Linz. Wasser, Sozialdienstleistungen, ja sogar die biologische Reproduktion seien Bestandteile des Marktes geworden.
Die Öffentlichkeit hat ein eigenes Selbstverständnis von der Welt
"Leihmutterschaft beispielsweise in Indien wird hochgradig privatwirtschaftlich betrieben. Also Sie haben da Firmen, die sich darauf spezialisiert haben, Leihmutterschaft zu organisieren. 'Social freezing' ist eine neue Technologie, die es ermöglicht, Eizellen einzufrieren, die aber auch hochgradig mit neuen wirtschaftlichen Maßnahmen einhergeht."
Und auch die Bildung an den Universitäten sei in die Vermarktung eingeordnet worden, sagte Michael Burawoy, Professor im kalifornischen Berkeley und Stargast der Konferenz. Er war es auch, der bereits vor Jahren für eine "öffentliche Soziologie" plädiert hat. Ein traditioneller Weg ist, dass Wissenschaftler ihre Forschungsergebnisse veröffentlichen und per Interview erläutern, wenn Journalisten Interesse daran haben. Für den neuen Weg brauche es kein Medium.
"Es ist ein direktes Gespräch zwischen dem Sozialwissenschaftler und der Öffentlichkeit wie religiösen und kommunalen Organisationen oder Gewerkschaften. Es ist eine Beziehung, die ohne Medien auskommt."
Das bezeichnet Michael Burawoy als "organisch". Was allerdings eines voraussetzt:
"Das heißt, dass der Sozialwissenschaftler anerkennen muss, dass die Öffentlichkeit ein eigenes Selbstverständnis von der Welt hat. Es ist nicht das Gleiche, was ein Soziologe hat. Ein Beispiel aus dem Sozialen: Wir sprechen über Arbeitslosigkeit. Wenn einer arbeitslos ist, könnte man sagen: Da hat er halt Pech. Oder er ist schlecht ausgebildet. Der Soziologe kann verstehen: Es ist es nichts dergleichen. Das ist nur ein Teil der Geschichte. Der andere Teil ist: Wir leben in einer Gesellschaft, die eine Wirtschaft hat, die systematisch Arbeitslosigkeit erzeugt und möglicherweise auch Nutzen und Interesse an Arbeitslosigkeit hat. So können Sozialwissenschaftler und Öffentlichkeit zu Entscheidungen kommen. Das ist es, was ich mit organisch-öffentlicher Soziologie meine."
Dialog wird gefördert
Auch Stephan Lessenich, Professor an der Uni München und seit Kurzem Vorsitzender der DGS, der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, plädiert sowohl für eine Aufnahme von mehr und vor allem globalen Themen in die soziologische Forschung als auch für eine stärkere öffentliche Form ihrer Vermittlung.
"Also wenn ich vor mir herdenke und mir meinen Reim auf irgendetwas mache - das nenne ich dann die monologische Form der Produktion -, dann mag das alles sinnvoll sein und ein in sich geschlossenes Gebäude. Aber ich glaube, die Anschlüsse für Dritte und Vierte, mit mir darüber zu diskutieren, sind eher gering. Wenn man sich schon strukturell auseinandersetzt mit anderen Positionen, mit Kritiken schon bei der Produktion seiner eigenen Wissensbestände, dann wird so ein schon dialogisch produziertes Wissen sehr viel einfacher anschlussfähig sein beim Dialog auch mit der Öffentlichkeit."
Diesen Dialog fördere die Soziologen-Gesellschaft mit bis zu 1000 Euro je Veranstaltung, "weil die Idee auch ist, dass diese Veranstaltung nicht an der Universität stattfinden soll, sondern in einem öffentlichen Raum, in einem Bürgerhaus oder ähnlich. Die ideale Idee wäre spontan: München, BAGIDA demonstriert und man möchte gern lokal, von einem soziologischen Institut in München aus, eine Veranstaltung machen über Fremdenfeindlichkeit, über Asylmigration, über die Unterbringung von Flüchtlingen vor Ort, und dort migrationssoziologisches Wissen mit einbringen und mit den Bürgern und Bürgerinnen im Dialog darüber beraten. Dann zahlt die DGS Mieten oder unterstützt das bei der Bewerbung, bei der Organisation. Und die DGS publiziert dann die entsprechenden Ergebnisse auf der Homepage."