Dass der Kapitalismus mehr ist als ein Wirtschaftssystem, hatte schon der Soziologe Max Weber vor über 100 Jahren beschrieben. Der Kapitalismus sei begleitet von einer praktisch-rationalen "Lebensführung", geprägt von Effizienz und Leistungssteigerung. Er bringe einen Menschentypus hervor, über den die äußeren Güter eine "unentrinnbare Macht" gewonnen haben. Max Webers Thesen waren das Leitmotiv der Frankfurter Tagung "Kapitalismus als Lebensform". Allerdings sei – anders als zu Zeiten Max Webers - die Ökonomisierung der Gesellschaft noch weiter fortgeschritten, sodass es kaum noch kritische Gegenbewegungen dazu gebe. Prof. Sascha Münnich, Soziologe und Veranstalter der Tagung:
"Wir haben eigentlich eine Entwicklung, dass unter kulturellen Gesichtspunkten Markt und Profitorientierung etwas sehr Positives geworden ist für Leute und sich unter Umständen sich in Bereiche fortsetzt, wo er eigentlich gar nicht etabliert ist. Das wäre der Unterschied, dass der Kapitalismus eine kulturelle Kraft entwickelt, die Weber ihm gar nicht zugeschrieben hätte."
Thema der Frankfurter Tagung war deshalb, in welche öffentlichen, aber auch privaten Bereiche marktkonforme Werte wie Erfolgsorientierung, Effizienz und Konkurrenz heute eingedrungen sind. Dr. Patrick Sachweh, Soziologe an der Universität Frankfurt und Mitveranstalter der Tagung:
"Wir sehen heute, dass in Bereichen, die außerhalb der wirtschaftlichen Sphäre liegen, zunehmend Marktprinzipien Anwendung finden und als Steuerungsinstrumente eingesetzt werden. Wenn zum Beispiel Universitäten nach bestimmten Kennzahlen bewertet werden oder wenn in Schulen bestimmte Standards gesetzt werden, dann versucht man damit die Leistungserbringung ein Stück weit zu objektivieren."
Das Selbstverständnis von Beschäftigten im öffentlichen Dienst, so ein Ergebnis der Tagung, nähert sich durchaus Beschäftigten in der Privatwirtschaft an. Vormalige Staats"diener" werden zu "Dienst"leistern, Hartz IV-Empfänger zu deren "Kunden", die Arbeit insgesamt ist geprägt von "Effizienz, Kundenorientierung und Flexibilität". Im Bildungssystem hält Qualitätsmanagement Einzug und die Altenpflege entwickelt sich zunehmend zu einer "Care Industry" mit privaten Pflegeeinrichtungen. Und der flexible, mobile Mensch wird zum Ideal der globalisierten Arbeitsgesellschaft.
"Das bedeutet zum Beispiel, dass ich ein Arbeitsverhältnis, in dem ich auf ständige Flexibilität angewiesen bin, ständig wechselnde Arbeitsgebiete, Arbeitszeiten habe, wenn ich anfange zu glauben, das ist für mich mein Lebensstil. Aus der Situation, dass mich mein Unternehmen um die Welt jagt, mache ich mein glückliches, mobiles, globales Leben und bin sehr zufrieden damit. Ich will damit nicht sagen, dass die Leute sich was vormachen, sondern es könnte ja sein, dass die kulturellen Prägungen heute so sind, dass dieser flexible Mensch im modernen Kapitalismus zu einer Orientierung geworden ist für die Menschen."
Auch da, wo der flexible Mensch in die Krise kommt, etwa weil er mit dem Arbeitstempo nicht mithalten kann, protestiere er nicht, sondern greife zu leistungssteigernden Pillen. "Human Enhancement" ist das Schlagwort, die Verbesserung des Menschen mit technischen Mitteln.
Partnersuche über das Netz für maximale Ähnlichkeit der Charakter
"Wie gehen eigentlich die Leute mit diesen Anforderungen um, wenn sie denn merken, dass es letztlich mit dem unkontinuierlichen Leben, dass es schwierig ist, das zu verarbeiten? Sie könnten protestieren, das tun sie aber nicht. Stattdessen wenden sie das nach innen, brauchen Psychotherapie oder nehmen Psychopharmaka oder andere Präparate. Auch da gibt es Entwicklungen, die zeigen, dass die Leute an ihrer Selbstoptimierung im Marktsinne arbeiten, freiwillig."
Doch nicht nur das öffentliche und das berufliche Leben, sondern, so das Fazit, auch das Privatleben sei mittlerweile von marktwirtschaftlichen Vorstellungen geprägt:
"Wenn Sie kleine Kinder haben, und in die Situation kommen, eine geeignete Betreuungseinrichtung auszuwählen, da können Sie das genau beobachten, dass es einen Teil von Eltern gibt, die sehr genau schauen, was die jeweilige Bildungseinrichtung für die Kinder leistet. Und 'leistet' bedeutet in dem Sinn auch 'wie werden die Kinder gefördert?' auch im Hinblick auf ihre potenzielle Wettbewerbsfähigkeit, auch im Hinblick darauf, dass sie den Anforderungen einer globalisierten, flexibilisierten Marktwirtschaft in Zukunft gerecht werden."
Auch bei der Partnersuche im Internet, so Sascha Münnich, spielten mittlerweile marktwirtschaftliche Kalküle eine Rolle.
"Wenn ich jetzt an Onlineportale denke - und ich habe gehört 20 Prozent aller Beziehungen werden mittlerweile im Internet angebahnt, da werden Kriterien angelegt, welche Leute passen zusammen? Und das müssen dann irgendwelche Computersysteme definieren und das führt zu einer Warenförmigkeit der Beziehung, denn solche Computeranbieter müssen ja auch Geld verdienen. Die müssen erfolgreich sein bei einer Beziehungsanbahnung, das ist so eine Vermarktlichung des Privatlebens."
Spätestens seit dem Ausbruch der Finanzkrise erfuhr Kapitalismuskritik ja geradezu eine Renaissance. Kritisiert werden die Macht der Banken, die wachsende Ungleichheit, Armut, Ausgrenzung. Doch die Veranstalter stellten die Frage, ob nicht die "Kultur" des Kapitalismus viel tiefer in jeden einzelnen eingedrungen ist als die Wiederbelebung der Kapitalismuskritik glauben macht. In den Lebensformen der wohlhabenden Länder des Westens nehmen Leistungsorientierung, Selbstoptimierung, Mobilität und Konsum einen breiten Raum ein. Wir handeln also im kapitalistischen Geist noch da, wo wir ökonomische Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit kritisieren. Sascha Münnich brachte das ironisch auf den Punkt, indem er einen New Yorker Cartoon präsentierte: Da entgegnet ein Passant einem kapitalismuskritischen Demonstranten in einer Shopping Mall: Ich bin völlig mit Ihrer Kritik am Kapitalismus, Neo-Kolonialismus und der Globalisierung einverstanden – aber über das Shoppen urteilen Sie doch wirklich zu hart.
"Wenn eine kapitalistische Ordnung schon so lange etabliert ist wie der Kapitalismus, dann ist natürlich die Ausstrahlung auf das, was Leute denken, wissen, was sie richtig finden noch sehr viel höher als vielleicht im 19. Jahrhundert. Wir haben uns an den Kapitalismus nicht nur gewöhnt, sondern wir glauben auch stärker daran, dass das gute Leben erreicht werden kann, wenn man sich marktförmig verhält."