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Soziologin zur Bayern-Wahl
"Freie Wähler haben sich geschickt im ländlichen Raum positioniert"

Bei der Wahl in Bayern hat sich erneut gezeigt: Stadt und Land wählen unterschiedlich. Die Soziologin Claudia Neu sieht den Grund dafür unter anderem in der mangelnden Infrastruktur auf dem Land. In Bayern hätten die Freien Wähler das gut aufgefangen, sagte sie im Dlf.

Claudia Neu im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker |
    Das Wahlplakat der deutschen Kleinpartei Freie Wähler zeigt die Kandidaten Marianne Heigl und Rainer Schneider
    Die Freien Wähler hätten die Sorgen der Menschen im ländlichen Raum gezielt angesprochen (picture-alliance / dpa / Revierfoto)
    Ann-Kathrin Büüsker: Mehrere grüne Direktmandate in München. Bei der Landtagswahl in Bayern kann man wieder einmal beobachten, wie eher grüne und linke Parteien in den Städten mehr Stimmen bekommen, während der ländliche Raum tendenziell eher konservativer wählt. Beobachten konnte man das auch beim Brexit. Da war es vor allem London, wo besonders viele für Remain gestimmt haben. Bei der Präsidentschaftswahl in Österreich bekam der grüne Kandidat mehr Stimmen in den Städten, und Donald Trump hat viele Unterstützer auf dem Land. Deshalb gucken wir uns den ländlichen Raum jetzt mal genauer an, die Lebenswelten der Menschen dort, zusammen mit Professor Claudia Neu, Professorin an den Universitäten Kassel und Göttingen, dort am Lehrstuhl Soziologie ländlicher Räume. Schönen guten Morgen, Frau Neu.
    Claudia Neu: Guten Morgen, Frau Büüsker.
    Büüsker: Es gab ja in den vergangenen Jahrzehnten unter Soziologinnen und Soziologen die These, dass der ländliche und der urbane Raum stärker zusammenwachsen, unter anderem auch durch eine verbesserte Mobilität zwischen den Regionen. Zeigen uns jetzt solche Wahlergebnisse, das mit dem Zusammenwachsen funktioniert doch nicht so, wie man sich das vorgestellt hatte?
    Neu: Für Deutschland gilt, dass wir ja nicht den ländlichen Raum haben, und wir schauen jetzt in Bayern auf einen ländlichen Raum, dem es in weiten Strecken ausgezeichnet geht und auch seit den 1950er-Jahren unentwegt besser gegangen ist. Aber wir haben auch hier ländliche Räume eher an den Grenzregionen, denen es nicht so gut geht, und da sieht man auch bei den Wahlergebnissen, dass wir sehr unterschiedliche Gemeindewahlergebnisse haben. Tendenziell haben auch – und das ist sehr interessant – die Grünen im ländlichen Raum deutlich zugelegt, selbst in den Kleinstädten und den kleinen Gemeinden. Ich würde sagen, die These des Zusammenwachsens würde ich nicht außen vor lassen. Es gibt nach wie vor Unterschiede. Die sind aber vielleicht zwischen Regionen deutlich größer als im Bundesland Bayern insgesamt.
    Gleichung "völlig entlegen = abgehängt" gilt nicht unbedingt
    Büüsker: Wie definieren Sie denn ländliche Räume grundsätzlich?
    Neu: Wir gehen normalerweise davon aus, in der Erreichbarkeit von Großstädten, in Mobilität, in der Bevölkerungsdichte sehen wir das. Wir haben ganz klassisch die Stadt-Umland-Gebiete, die nach wie vor auch wachsen. Gerade in München, Stuttgart, Hamburg haben wir zwar so etwas wie einen verstädterten ländlichen Raum, der viele Menschen anzieht. Dahinter gibt es dann aber in immer größeren Abständen auch in Deutschland einige periphere ländliche Räume. Das sind aber nicht nur die Grenzregionen, sondern auch in der Mitte Deutschlands finden wir Regionen, die sehr wenig besiedelt sind, in denen man sehr lange dann zum nächsten Bahnhof oder zum nächsten Flughafen fährt.
    Das ist aber natürlich eine Vorstellung von ländlichem Raum, der vor allem auf Dichte und Entfernung beruht. Das wäre aber, wenn wir uns anschauen, wie sich ländliche Räume in der Vergangenheit entwickelt haben, nicht unbedingt zielführend. Wir sehen selbst in entlegenen ländlichen Räumen durchaus Gemeinden, die sich ganz gut entwickeln und auch dem demographischen Trend wirtschaftlich entgegenstellen. Gerade im Süden der Republik haben wir dort viele Hidden Champions, viele Arbeitgeber, so dass Entlegenheit in der Tendenz nach wie vor bedeutet, dass wir weniger Menschen haben, dass geschrumpft wird, dass vor allem gealtert wird. Aber trotzdem wäre es für die Zukunft sinnvoll, wenn wir ein bisschen wegkämen von dieser Fixierung, völlig entlegen gleich abgehängt.
    Büüsker: Sie haben gerade das Stichwort demografischer Trend genannt. Was heißt das für den ländlichen Raum?
    Neu: Dass wir wie überall in Deutschland eine alternde Gesellschaft sind. Wir haben, wenn wir uns die Zahlen anschauen, immer noch sehr, sehr wenig Migration. Wir haben wenig Kinder, auch wenn es einen ganz, ganz leichten Trend nach oben gibt, aber die Tendenz nicht nur im ländlichen Raum. Es gibt sicher einige ländliche Räume, in denen die Abwanderung sehr starke Folgen hinterlassen hat. Vor allem die Abwanderung von jungen Frauen ist eine entscheidende Größe dafür, wie Regionen sich auch in Zukunft als Familien aufstellen können. Aber insgesamt ist das schon ein Trend, der für ganz Deutschland gilt.
    "Häufig eine Geschichte des Verlustes, die die Menschen dort erleben"
    Büüsker: Aus Ihrer Forschung heraus, welche Erfahrung haben Sie da gemacht? Was beschäftigt die Menschen in ländlichen Räumen ganz besonders? Oder unterscheidet sich das vielleicht gar nicht so von urbanen Räumen?
    Neu: Doch, da würde ich schon einen Unterschied sehen. Das sehen wir ja jetzt auch, wenn wir uns die Wahlerfolge der AfD in Bayern anschauen. Dann gibt es schon Gemeinden, in denen auch hier die AfD über 20 Prozent gekommen ist, und das sind die Regionen, die sich selber als abgehängt wahrnehmen. Das gilt jetzt nicht unbedingt für Bayern. Der größte Teil der ländlichen Räume in Bayern nimmt sich nicht als abgehängt wahr. Deswegen hat man ja auch sehr, sehr stark immer noch in die Mitte hinein gewählt, die Freien Wähler, die CSU. Aber es gibt natürlich Regionen, in denen die Menschen seit vielen Jahren weniger Arbeit haben, weniger Entwicklungschancen sehen, in denen öffentliche Infrastruktur abgebaut worden ist, in denen das Gefühl, nicht mehr gehört zu werden, nirgendwo mehr hinzukommen und von den allgemeinen Tendenzen abgekoppelt zu sein, da ist.
    Das wird sehr stark auch an dem Ausbau von Infrastruktur beziehungsweise in den vergangenen Jahren am Abbau der Infrastruktur gesehen, und das ist etwas, was Menschen unmittelbar erlebt haben. Das sind so kleine Verluste: Der Bus fährt weniger, dann findet die Ärztin keine Nachfolgerin mehr, dann hat doch der Gemeindesaal geschlossen, etwas, was unmittelbar im Leben greifbar ist, und das ist häufig eine Geschichte des Verlustes, die die Menschen dort erleben.
    Büüsker: Hubert Aiwanger, der Vorsitzende der Freien Wähler in Bayern, der hat gestern hier im Deutschlandfunk gesagt, den Menschen gehe es häufig eher im Kleinigkeiten, um so was, dass das Telefon bei ihnen nicht gehe, und dass das etwas sei, was man lösen müsse. Also ist er da eigentlich mit einer guten Strategie unterwegs, wenn es darum geht, die Menschen in den Regionen zu erreichen, die sich abgehängt fühlen?
    Neu: Ja, ich glaube schon. Die Freien Wähler – das zeigen ja auch die Wahlanalysen – haben sich sehr geschickt im ländlichen Raum positioniert und haben viele Kompetenzen auf sich vereinigen können und die Bürger haben ihnen das auch abgenommen, dass sie sehr nah mit dem Ohr an der Bevölkerung, an den Nöten, vielleicht auch manchmal nur den gefühlten Nöten der Kleinstädte und der ländlichen Regionen gewesen sind. Ich glaube, die Strategie ist da auch ganz gut aufgegangen. Also nicht skandalisieren wie die AfD und auch nicht Hetzen wie die CSU, sondern wir hören zu und wir sehen, es ist mit der Infrastruktur nicht mehr ganz so gut, was können wir da tun. Hier geht es darum, was ist mit Mobilität, was ist mit Breitbandausbau, tatsächlich an den Fragen der Infrastruktur, die direkt bei den Menschen auch ankommt.
    "Freie Wähler habe sich geschickt im ländlichen Raum positioniert"
    Büüsker: Welche Rolle spielt in diesen ländlichen Regionen, dass man sich vielleicht auch ein bisschen besser kennt, weil einfach weniger Menschen da sind? Führt das zu einem größeren Zusammenhalt unter den Menschen?
    Neu: Das könnte man mit einem klaren Jein beantworten. Man kann empirisch nicht sagen, dass Menschen im ländlichen Raum mehr Netzwerke haben oder mehr Verbindungen, mehr Kontakte als in der Stadt. Der einzige Unterschied ist, wie Sie sagen, dass man sich häufiger trifft und daraus ein größeres Gefühl der Verpflichtung einander gegenüber entsteht. Die Menschen haben sich nicht lieber oder verstehen sich nicht besser im ländlichen Raum, aber wenn ich den Menschen häufiger begegne, dann kann ich natürlich schlecht auch ausweichen. Nachbarschaft spielt in vielen Regionen eine entscheidende Rolle, um sich etwas mitzubringen, und gerade in Dörfern, in denen viele alte Menschen wohnen, ist man aufeinander angewiesen. Das heißt aber nicht, dass man sich deswegen besser versteht oder die Netzwerke größer wären als in der Stadt. Darauf gibt es keinen Hinweis.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.