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Späte Aufarbeitung
Misshandlungen in dänischem Kinderheim

Jahrzehntelang wurden Kinder in einem dänischen Kinderheim misshandelt. Vom Ausmaß der Gewalt hat die dänische Öffentlichkeit erst spät erfahren. Betroffene wie Poul Erik Rasmussen sehen eine Mitverantwortung beim dänischen Staat. Jetzt bekommen sie eine Entschuldigung.

Jana Sinram im Gespräch mit Katrin Michaelsen |
Poul Erik Rasmussen
Poul Erik Rasmussen ist das bekannteste Gesicht der betroffenen ehemaligen Heimkinder (imago / Ritzau Scanpi Mads Claus Rasmussen )
Wenn Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen an diesem Dienstag vor die Presse tritt, dann wird sie eine Zeit wieder aufleben lassen, die für einige Kinder eine Zeit des Schreckens war, für Heimkinder, die über Jahre hinweg misshandelt und missbraucht worden sind. Ihr Leiden liegt schon Jahrzehnte zurück, und es hat lange gedauert, bis die dänische Öffentlichkeit davon erfahren hat. Das war 2005. Aber was bislang fehlte, war eine Geste der Entschuldigung von Seiten des dänischen Staates - auch wenn Betroffene, wie Poul Erik Rasmussen, dies seit Jahren erbeten haben, wie hier in einem Bericht des dänischen Fernsehsenders TV2. Es gehe nicht nur um ihn, sagt Poul Erik Rasmussen, sondern um tausende Menschen, die sich von der Gesellschaft immer noch nicht anerkannt fühlten. Darum kämpfe er für eine Entschuldigung. Und diese Entschuldigung sollen die Betroffenen heute bekommen: von der dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. Meine Kollegin Jana Sinram hat für Europa Heute recherchiert und zusammengetragen, was bislang bekannt ist. Ich habe sie zunächst gefragt, um welche Dimension es bei den Missbrauchsfällen geht.
Jana Sinram: Mette Frederiksen entschuldigt sich hauptsächlich bei den ehemaligen Bewohnern des Knabenheims "Godhavn" im Norden der dänischen Insel Seeland. "Godhavn" das bedeutet übersetzt so viel wie "guter Hafen". Und in diesem Heim waren früher Jungen untergebracht, deren Eltern zum Beispiel gestorben waren - und es war alles andere als ein guter Hafen. Zwischen 1946 und 1976 wurden dort Kinder systematisch physisch, psychisch und auch sexuell misshandelt. Das ist 2005 durch eine Fernseh-Dokumentation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bekannt geworden - und 2011 hat eine Historikerin einen umfassenden Bericht vorgelegt, für den sie mit Kollegen ehemalige Schüler und Mitarbeiter befragt hat. Und der hat dann das ganze Ausmaß deutlich gemacht.
"Hunderte Jungen betroffen"
Katrin Michaelsen: Und welches Ausmaß hatte der Kindesmissbrauch?
Sinram: Bis zur Schließung des Heims in den 70ern waren hunderte Jungen betroffen, und in dem Bericht wird klar, wie grausam ihr Alltag eigentlich war. Da ist die Rede von täglichen Schlägen, von Jungen, die flüchteten und nach ihrer Rückkehr grün und blau geschlagen wurden. Es gibt die Geschichte eines Jungen, der vom Tod seines Vaters erfuhr und nicht aufhören konnte, zu weinen. Deshalb wurde er von Mitarbeitern so lange geschlagen, bis er sein Essen erbrach. Und die Historikerin hat auch rausgefunden: Ein Psychiater in dem Heim hat mit Jungen medizinische Experimente durchgeführt, hat ihnen zum Beispiel Medikamente wie Valium und Amphetamine verabreicht. Die Institution war offiziell als Schule anerkannt. Deshalb meinen die ehemaligen Heimkinder, dass der Staat eine Mitschuld trägt.
"Dänemark diskutiert schon lange über den Fall"
Michaelsen: Die Missbrauchsvorwürfe gegen das Kinderheim sind schon länger bekannt. Warum kommt von staatlicher Seite erst jetzt eine Entschuldigung?
Sinram: Also, diskutiert wird in Dänemark über den Fall schon lange - er ist 2016 sogar verfilmt worden mit Lars Mikkelsen in einer der Hauptrollen. Über die Entschuldigung ist aber lange gestritten worden. Das bekannteste Gesicht der Heimkinder, Poul Erik Rasmussen, der hat selbst in den 1960ern in Godhavn gelebt, und er ist mehrfach vor Gericht gezogen, um eine Entschuldigung und eine symbolische Entschädigung von gut 10.000 Kronen, das sind ungefähr 1.300 Euro, zu erstreiten. Er hat aber nie Erfolg gehabt, weil der Fall als verjährt eingestuft wurde. Und vor das oberste dänische Gericht wollte er jetzt nicht mehr ziehen, auch, weil ihm einfach die finanziellen Ressourcen fehlten. Und jetzt bekommt er eben doch noch die ersehnte Entschuldigung, weil die neue Ministerpräsidentin Mette Frederiksen das Thema zur Chefsache erklärt hat.
"Frederiksens Entschuldigung ist ein politischer Akt ohne juristische Folgen"
Michaelsen: Mette Frederiksen ist ja noch nicht lange im Amt. Warum ist ihr das Thema so wichtig?
Sinram: Die Sozialdemokratin hat schon vor ihrem Amtsantritt im Juni gesagt: Die Entschuldigung bei den Heimkindern von Godhavn ist eine der ersten Dinge, die sie als Ministerpräsidentin angehen wird. In ihrem offiziellen Statement zum Termin heute heißt es: "Einige der Kinder in unserer Gesellschaft, die den größten Schutz gebraucht hätten, wurden misshandelt - von Erwachsenen, die sich hätten um sie kümmern sollen. Die Behörden haben damals nichts unternommen. Wir können nicht ändern, was passiert ist. Aber wir können und müssen daraus lernen."
Dass die ehemaligen Heimkinder von Godhavn jetzt auch eine finanzielle Entschädigung bekommen, ist aber trotz der Entschuldigung alles andere als klar. Dänische Juristen sagen: Mette Frederiksens Entschuldigung ist ein politischer Akt, aber hat erstmal keine juristischen Folgen.