Wochenlang wurde die Berichterstattung über den NSU-Prozess diskutiert – heute nun kamen die ersten Bilder und Nachrichten aus dem Münchener Oberlandesgericht. Der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützter des NSU hat also begonnen. Und darüber wollen wir heute in diesem aktuellen Hintergrund berichten. Dazu sind wir mit Holger Schmidt verabredet, er ist Terrorexperte der ARD und hatte heute einen der begehrten Plätze im Gerichtssaal A 101.
Außerdem berichten wir, wie Journalisten in der Türkei und die Menschen in der Kölner Keupstraße den Prozessauftakt heute erlebten. Am Mikrofon begrüßt Sie Christiane Wirtz. Das Vorspiel vor diesem Prozess hat gezeigt: Die Frage der Berichterstattung und der Öffentlichkeit ist immer wieder heikel – gerade bei Strafprozessen. In Deutschland sind während der Sitzungen grundsätzlich keine Kameras erlaubt. Denn sonst, so die Befürchtung, würden Angeklagte wie im Mittelalter an den Pranger gestellt.
Terrorexperte der ARD im Interview
Christiane Wirtz: Herr Schmidt, bevor das Verfahren heute Morgen um zehn Uhr losging, gab es einige Bilder von Frau Zschäpe – da machte sie nicht unbedingt den Eindruck, als fühle sie sich an den Pranger gestellt.
Holger Schmidt: "Ja, ich bin nicht ganz sicher, welche Bilder Sie jetzt genau meinen, in der Tat ich war den ganzen Tag im Verhandlungssaal, habe mich relativ früh angestellt und hatte noch nicht die Gelegenheit, jetzt viele Bilder vom Verlauf des heutigen Tages zu sehen. Das, was ich im Gerichtssaal gesehen habe, wenn Sie das meinen, da kam Beate Zschäpe wirklich sehr locker rein und wirkte nicht wie jemand, der in dieser ganz großen Bedrohung eines Strafprozesses steht. Ich habe mich so gefragt, ganz egal, ob sie jetzt schuldig oder unschuldig ist, das muss doch eine ganz belastende Situation sein, jetzt hier hereinzukommen und dieser großen Strafandrohung "lebenslänglich" möglicherweise sogar noch besondere Schwere der Schuld, möglicherweise sogar noch Sicherungsverwahrung im Anschluss. Da kann man doch eigentlich gar nicht gelassen und locker reingehen und doch hat sie das getan und wirkte doch so, wie jemand, den das eigentlich gar nicht betrifft, was hier passiert und wirkte eher so, wie ein weiteres Mitglied des Anwaltsteams und das wurde noch unterstrichen durch die Kleidung. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug, eine weiße Bluse und sah im Grunde genommen genau so aus, wie ihre Verteidiger in ihren dunklen Anzügen oder ihre Verteidigerin, die auch ein schwarzes Kostüm mit weißer Bluse trug. Also, es wirkte nicht passend und das war bei den anderen Angeklagten anders, die haben sich so verhalten, wie man das von einem Angeklagten erwartet.
Ganz offen gesagt, sind sie schuldig oder unschuldig, das möchte ich außen vor lassen und nur sagen, es ist ja der Eindruck, der entsteht, wenn jemand ins Gericht kommt. Da ist man doch nicht cool und relaxed – Beate Zschäpe, die war es erstaunlicherweise."
Wirtz: Das war ja heute eine Gelegenheit, wo auch die Nebenkläger praktisch mit Beate Zschäpe und auch den anderen vier Angeklagten zusammentrafen. Wie haben die reagiert aufeinander?
Schmidt: "Das war für uns Beobachter bedauerlicherweise relativ schlecht zu sehen. Man muss sich das so vorstellen, es gab in diesem Verhandlungssaal eine Empore, auf der die Zuschauerplätze und die Journalistenplätze waren – etwa 100 Plätze waren das oben und unterhalb dieser Empore, da war der Bereich, in dem sich die Nebenkläger und die Angehörigen aufgehalten hatten, wo sie ihre Sitzplätze hatten und das hat man also von oben überhaupt nicht sehen können. Das Gericht hat das gelöst durch eine Videokamera, die im Grunde den ganzen Bereich – die obere Empore und den unteren Bereich – den Bereich der Nebenkläger in der Totalen aufgenommen hat und das hat man entsprechend sich anschauen können auf dieser Leinwand, aber obwohl ich einige Angehörige, einige Nebenklägervertreter persönlich kenne, ist es mir nicht gelungen, zu identifizieren, wo sitzen die denn jetzt und entsprechend konnte man noch viel weniger sagen, wie geht es denen, wie reagieren oder wie gucken sie – da waren wir also im Grunde völlig abgeschnitten davon, das kann man nur ahnen, wie es denen gegangen ist, als dieser Antrags-Marathon am heutigen Tag über sie her gebrochen ist."
Die Berichterstattung in der Türkei
Dieses Strafverfahren hat schon jetzt eine historische Dimension, zumal dieses Verfahren eine Mordserie juristisch aufarbeiten soll, der nationalsozialistische Motive zugrunde lagen. Das weckt dunkle Erinnerungen, nicht nur bei den türkischen Demonstranten, die sich heute Morgen vor dem Gerichtsgebäude in München versammelten. Auf einem ihrer Plakate war auf Türkisch und auf Deutsch zu lesen: "Hitlerkind Zschäpe, du wirst für die Morde bezahlen". Wie die türkischen Medien über die Verfahren berichten, hat Luise Sammann für uns recherchiert:
Zehn Uhr morgens in München, der NSU-Prozess beginnt. Im Istanbuler Studio des Nachrichtensenders NTV ist es da bereits Zeit für die Elf-Uhr-Nachrichten. Hinter einer Glaswand lächelt eine junge Moderatorin in die Kamera und liefert einen ersten Themenüberblick. Der NSU-Prozess ist das Top-Thema - zumindest bei NTV, einem der größten Nachrichtensender der Türkei. Ein Korrespondent berichtet live aus München:
"Wer hat es in den Gerichtssaal geschafft und wer nicht?"
…fragt er in die Kamera. Und erklärt dann beinahe triumphierend:
"Die Diskussion um die Akkreditierung hat sich lange hingezogen. Inzwischen können wir mitteilen, dass viele unserer Kollegen es in den Gerichtssaal geschafft haben. Sechs türkische Parlamentarier haben außerdem seit dem frühen Morgen in der Schlange gewartet, auch sie sind jetzt im Gerichtssaal."
Während der Reporter vor Ort nun einen türkischstämmigen Grünen-Abgeordneten dazu befragt, wie wichtig der Prozess für das Image Deutschlands sei, dreht in Istanbul Fehmi Gürdalli die Lautstärke herunter. Bei NTV ist er für die Auslandsberichterstattung zuständig. Das Thema NSU habe in der Türkei bisher eigentlich wenig interessiert, erzählt der Chefredakteur: bis zum missglückten Akkreditierungsverfahren:
"Wir hatten zunächst nicht einmal vor, einen Reporter nach München zu senden. Erst, als klar wurde, dass kein türkischer Journalist in den Saal kommen sollte, haben wir beschlossen, jemanden zu schicken."
Denn da plötzlich ging es nicht mehr nur um ein paar verwirrende Morde im fernen Deutschland, sondern um die Diskriminierung türkischer Journalisten dort. Politiker in Ankara äußerten vor laufenden Kameras Kritik am Oberlandesgericht in München, der NSU-Prozess rutschte auf die Themenliste großer Sender wie NTV…
Auch die 12-Uhr-Nachrichten machen dort mit dem Prozess in Deutschland auf. Im Studio ist ein Politikprofessor aus Ankara zu Gast, der über mögliche Verwicklungen zwischen der Neonazi-Terrorzelle und deutschen Geheimdiensten spricht. Aus den Programmen anderer Fernsehsender ist das Thema zu diesem Zeitpunkt längst wieder verschwunden, in den großen Zeitungen "Hürriyet" und "Milliyet" ist es ein Thema unter vielen. Chefredakteur Fehmi Gürdalli wundert das nicht.
"Die Türkei befindet sich im Moment im Friedensprozess mit der PKK, das ist seit Wochen das Hauptthema bei uns, immerhin geht es um ein 30 Jahre altes Problem. Und auch um die Türkei herum ist viel los: Seit Tagen gibt es Explosionen in Damaskus. Und auch im Irak gab es wieder Anschläge."
Krieg bei den syrischen Nachbarn, ein möglicher Frieden im eigenen Land - der NSU-Prozess in München hat es schwer auf der aktuellen Nachrichtenagenda der Türkei. Während die interessierte Öffentlichkeit in Deutschland längst alles über den NSU zu wissen glaubt, hatten die meisten Türken bis zur Akkreditierungspanne noch nie davon gehört. Höchstens das Stichwort "Dönermorde" geisterte hier und da durchs Internet.
Auch bei NTV hält sich das Thema nicht lange. Um 15 Uhr – also
14 Uhr deutscher Zeit – beginnt die lächelnde Moderatorin die Nachrichten nicht mehr mit München, sondern mit einem ganz und gar türkischen Thema: Der Militärdienst soll verkürzt werden! Danach folgt ein Bericht über den bevorstehenden Abzug der kurdischen PKK. Der NSU-Prozess ist ans Ende der Nachrichten gerutscht. Normal? Chefredakteur Gürdalli zuckt mit den Schultern.
"In der Türkei wechselt die Nachrichtenagenda sehr schnell. Eine Nachricht wie diese bleibt nicht lange heiß, dann verschwindet sie nach hinten. Das ist nicht nur bei dem Prozess in Deutschland so, sondern bei allen Themen."
Als der erste Prozesstag um 17 Uhr fast vorüber ist, schafft es der Korrespondent in München noch einmal an den Anfang der Nachrichten. Auf Englisch befragt er die Anwälte der Opferfamilien zum Prozessauftakt. Eine Stunde später ist das Thema aus den NTV-Nachrichten verschwunden. Ein Leichenfund in Istanbul sorgt für Aufregung, die meisten Medien aber dominiert ein anderes Thema: Galatasaray ist alter und neuer Meister der Türkei. Zum hundertsten Mal heute ziehen die jubelnden Fußballfans durchs Bild.
Terrorexperte der ARD im Interview
Christiane Wirtz: Herr Schmidt, das klingt fast so, als müssten die türkischen Kollegen in München bald um einen Platz bei der Berichterstattung für ihre jeweiligen Sender und Redaktionen kämpfen. Mit welcher Erwartung gehen die Kollegen in den Prozess?
Holger Schmidt: "Also, ich glaube, die Kollegen, die es hereingeschafft haben, in den Saal, mit denen ich sprechen konnte, die haben sehr große Erwartungen, weil für viele Kollegen auch das ganze Verfahren neu ist und da ist es einfach erst mal aufregend und journalistisch interessant, was man da heute berichten kann. Ich hatte jetzt nicht die Zeit, so ausführlich mit den Kollegen zu sprechen, dass ich genau sagen könnte, in welchem Umfang sie berichten, welchen Stellenwert das in ihren Redaktionen hat, aber für die Kollegen selbst war ganz wichtig und interessant, wie es vor Gericht abgelaufen ist – aber auch, so habe ich es jedenfalls empfunden – unter den Kollegen, die angestanden haben heute Morgen und im Verhandlungssaal waren und den Tag über – dass da eine große Kollegialität geherrscht hat. Dass man sich gegenseitig geholfen hat. Es ging darum, wer hat jetzt ein Ladekabel für welchen Handy-Typ [hat], es ging darum, wer kann mir erklären, wie heißen die Beteiligten, wie sind die Vornamen, wie schreibt man das. Solche Dinge, die im journalistischen Alltag wichtig sind, dass man sich darüber austauscht, auf der anderen Seite aber gar nicht unbedingt selbstverständlich bei Journalisten sind. Einzelkämpfer, die sehr häufig nur ihre Arbeit im Blick haben und das gar nicht so gerne sehen, wenn da jemand stört und Dinge fragt und das war heute ganz anders, das war heute wirklich ein sehr kollegiales Miteinander im Verhandlungssaal."
Wirtz: Über die Arbeitsbedingungen im Gerichtssaal ist ja vorher viel gesprochen worden, geschrieben und diskutiert worden. Wie müssen wir uns das ganz konkret vorstellen? Wie konnten Sie arbeiten im Gericht?"
Schmidt: "Also ganz konkret war es für mich so, dass ich einer der wenigen Journalisten war, der einen gesicherten Platz hatte innerhalb der ARD und wir haben ja alle zusammen gesagt, es ist ganz egal, welche Reporter welchen Platz bekommen, wir tauschen uns aus und wir versuchen das eben als große Gemeinschaftsaufgabe auch zu sehen, von diesem wichtigen Prozess zu berichten. Praktisch, so, dass wir im Gerichtssaal saßen, dort eben die entsprechenden Notizen über den Verhandlungsverlauf angefertigt haben und immer in den Pausen, immer wenn es möglich war, über E-Mails das nach draußen geschickt haben zu den Kolleginnen und Kollegen, die das heute den Tag über gemacht haben.
Das sind keine optimalen Bedingungen. Es ist einfacher, wenn man im Gerichtssaal aufstehen und vor die Tür gehen kann, vielleicht auch einmal herausgehen kann und aus dem Ü-Wagen ein Gespräch führen kann. Aber da war eben die Sicherheitsverfügung des Vorsitzenden davor – das wollte er aus Sicherheitsgründen und wegen der Störung des Prozesses nicht zulassen. Deswegen bin ich wirklich heute Morgen in den Verhandlungssaal hereingegangen, durfte das Oberlandesgericht nicht verlassen, den ganzen Tag über und dann erst gegen 17.00 Uhr wieder raus kommen. In der Mittagspause hatte das Oberlandesgericht dafür gesorgt, dass wir Brötchen kaufen konnten, und hat uns einen Wasserspender hingestellt und so haben wir im Grunde den Tag im Gericht verbracht."
Reaktionen zum Prozess in der Kölner Keupstraße
Vor neun Jahren explodierte in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe und verletzte 22 Menschen, zum Teil lebensgefährlich. Schutzgelderpressungen oder organisierte Kriminalität – das waren damals die Vermutungen, denen die Ermittler nachgingen. Teilweise wurden die Opfer zu mutmaßlichen Tätern. Der heutige Tag weckt bei den Menschen in der Keupstraße schmerzliche Erinnerungen – unsere Korrespondentin Barbara Schmidt-Mattern hat mit ihnen gesprochen:
Conny Barendt-Höffgen will an den 9. Juni 2004 am liebsten nicht mehr erinnert werden. Der Auftakt des NSU-Prozesses in München sei zwar gut, aber er reißt alte Wunden wieder auf:
"Thema war das schon, aber viele haben das doch verdrängt, und jetzt durch den Prozessauftakt kommt das alles wieder hoch."
Seit bald zwei Jahrzehnten betreibt die 50-Jährige mit ihrem türkischen Lebenspartner das Café Cengizhan mitten auf der Keupstraße in Köln-Mülheim. Das Café ein beliebter Treffpunkt für Kartenspieler. Keine 30 Meter von hier explodierte mit voller Wucht jene Nagelbombe, die die Keupstraße bundesweit in die Schlagzeilen katapultierte. Conny Barendt-Höffgen redet über all das nur ungern.
"Ich war geschockt über so viel Blut, über so viel Scherben und Trümmer und das Entsetzen in den Gesichtern der Menschen. Und diese Angst in den Augen, das war furchtbar, ich werde das in meinem Leben nicht vergessen. Es ist einfach nur der Schock und Wut und Trauer."
Wegen der Druckwelle der Explosion ging damals in ihrem Café die große Frontscheibe zu Bruch. Verletzt wurde zum Glück niemand:
"Wenn da einer gesessen hätte, wir hätten Tote hier im Laden gehabt."
Mehrere Geschäftsleute aus der Keupstraße, darunter ein Juwelier, dessen Geschäft direkt gegenüber vom Anschlagsort liegt, treten als Nebenkläger im NSU-Prozess auf. Doch die Hoffnung, alle Hintergründe und Tatbeteiligungen bei der Terrorserie aufklären zu können, hält Conny Barendt-Höffgen für einen frommen Wunsch:
"Ich denke, man bekommt keine maximale Aufklärung. Man weiß ja nicht, über was sie redet…"
Gemeint ist die Hauptangeklagte Beate Zschäpe, die seit ihrer Festnahme schweigt.
"Ich denke, sie wird überhaupt nix sagen. Wie will man einen Tod rechtfertigen? Wie kann man das? Und ich weiß auch nicht, ob die Leute das jemals verzeihen können, denn es ist doch eine sehr tiefe Kerbe in den Seelen der Menschen – die kann man nicht reparieren, auch nicht mit Gerechtigkeit."
So denken viele auf der Keupstraße, doch die Bewohner wollen in Ruhe gelassen werden. Interviews lehnen sie ab, draußen auf der Straße genauso wie drinnen im Café Cengizhan. Es herrscht gähnende Leere, einzig ein Grüppchen Rentner sitzt beisammen und spielt Rommé. Nur einer meldet sich anonym kurz zu Wort:
"Keupstraße… diese Bombe (ist) schon neun Jahre her. (Ist eine) tote Straße geworden."
Das stimmt so nicht, seit Jahren schon herrscht wieder geschäftiges Treiben: beim Friseur, im Reisebüro, in den Juweliergeschäften. Doch die Frustration sitzt bei vielen tief. Sevim, die 42-jährige Besitzerin des Restaurant Mevlana, ist sauer, weil sich inzwischen kaum noch ein deutscher oder türkischer Politiker in der Keupstraße sehen lasse. Auch damals, kurz nach dem Anschlag habe niemand geholfen:
"Ich habe kein Vertrauen, deswegen mische ich mich gar nicht ein. Ja natürlich, zwei, drei Jahre war ja auf dieser Straße gar nichts los. Aber wer würde uns denn helfen? Wer macht das denn? Keiner."
Dass die meisten Geschäftsleute der Keupstraße mehrere tausend Euro Entschädigung von der Bundesrepublik Deutschland erhalten haben, sagt die Restaurantbesitzerin nicht. Auch die Gedenkfeier des Bundespräsidenten für die NSU-Opfer im letzten Jahr bleibt unerwähnt. Die türkische Community in der Keupstraße hat sich eingeigelt. Nicht nur, dass die Bewohner damals selbst beschuldigt wurden, mit dem Anschlag etwas zu tun zu haben – auch die jahrelangen Schlampereien der Ermittler haben das Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat erschüttert. Die Erwartungen an den Gerichtsprozess sind deshalb gedämpft, sagt Café-Besitzerin Conny Barendt-Höffgen:
"Wenn es kein klares Urteil gibt, dann sind die Menschen, glaube ich, noch mehr enttäuscht als jetzt. Jetzt ist da ja schon dieses Fragezeichen: Ist das nur, weil wir Türken sind? Diese Fragezeichen werden dann immer mehr, und ich glaube, der Glaube an die Justiz, an den Staatsapparat würde dann ganz verloren gehen."
Terrorexperte der ARD im Interview
Christiane Wirtz: Herr Schmidt, wir haben es in dem Beitrag gehört, die Menschen in der Keupstraße hoffen auf ein klares Urteil. Wie berechtigt ist diese Hoffnung?
Holger Schmidt: Da muss ich im Grunde zurückfragen: Was ist ein klares Urteil? Ein Urteil nach den Buchstaben des Strafgesetzbuches wird der Senat am Ende des Verfahrens zweifellos sprechen. Meine große Sorge in diesem Verfahren ist, das dann viele Nebenkläger die Öffentlichkeit und uns Journalisten unglücklich machen wird. Wir werden Dinge erfahren über Schuld oder Unschuld von Beate Zschäpe, von den anderen Angeklagten – möglicherweise wird die Anklage nicht in dem Umfang zu einem Urteil führen, wie es der Generalbundesanwalt sich vorgestellt hat, aber wir werden nach den Buchstaben des Strafgesetzbuches und der Strafprozess-Ordnung ein Urteil haben. Und dann bleiben aber ganz viele Fragen offen, beispielsweise, warum Opfer zu Opfern wurden, warum sie ausgesucht wurden, was die genauen Hintergründe sind und was mit den ganzen Ermittlungspannen ist und die ganze Geschichte des Verfahrens anders hätte laufen können, wenn Sicherheitsbehörden anders gehandelt hätten. Auf diese Fragen wird wahrscheinlich der Prozess keine Antworten geben, aber viele der Nebenkläger rechnen damit und deswegen sind Enttäuschungen eigentlich vorprogrammiert, auch wenn möglicherweise ein ganz klares juristisches Urteil herauskommen wird, vielleicht auch eine hohe Haftstrafe für Beate Zschäpe.
Wirtz: Nun haben wir ja nun erst einmal den ersten Prozesstag hinter uns gebracht, der sehr schleppend vorangegangen ist – ein Antrag nach dem nächsten – eine Sitzungspause nach der nächsten. Jetzt hat das Gericht den Prozess auch noch vertagt auf den 14. Mai – warum?
Schmidt: Weil es diese Befangenheitsanträge, die es heute gegeben hat, Zeit braucht, die vernünftig zu entscheiden. Auch da gibt es klare Regeln in der Strafprozessordnung, wie so etwas abzulaufen hat. Das muss binnen zwei Hauptverhandlungstagen passieren, das hieße also eigentlich bis Mittwoch-Morgen, wenn morgen und übermorgen weiter verhandelt worden wäre, hätte die Entscheidung da sein müssen und da hat der Vorsitzende sehr zurecht gesehen, dass das eigentlich vernünftig solide nicht zu machen ist. Deswegen sagt er, wir machen am Dienstag weiter, dann ist mehr Zeit da, diese Befangenheitsanträge so zu bearbeiten, wie es sich gehört und wir Richter des Oberlandesgerichts werden jetzt darüber befinden, ob Fred Götze und weitere Senatsmitglieder befangen waren.
Wirtz: Vielen Dank, Herr Schmidt – für diesen Augenzeugenbericht aus München. Wir werden in der nächsten Woche sicher noch häufig von Ihnen hören. Hier folgen jetzt die Nachrichten und anschließend wird unser Korrespondent Rolf Clement den Prozessauftakt kommentieren.
Am Mikrofon bis hierher war Christiane Wirtz. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.
Außerdem berichten wir, wie Journalisten in der Türkei und die Menschen in der Kölner Keupstraße den Prozessauftakt heute erlebten. Am Mikrofon begrüßt Sie Christiane Wirtz. Das Vorspiel vor diesem Prozess hat gezeigt: Die Frage der Berichterstattung und der Öffentlichkeit ist immer wieder heikel – gerade bei Strafprozessen. In Deutschland sind während der Sitzungen grundsätzlich keine Kameras erlaubt. Denn sonst, so die Befürchtung, würden Angeklagte wie im Mittelalter an den Pranger gestellt.
Terrorexperte der ARD im Interview
Christiane Wirtz: Herr Schmidt, bevor das Verfahren heute Morgen um zehn Uhr losging, gab es einige Bilder von Frau Zschäpe – da machte sie nicht unbedingt den Eindruck, als fühle sie sich an den Pranger gestellt.
Holger Schmidt: "Ja, ich bin nicht ganz sicher, welche Bilder Sie jetzt genau meinen, in der Tat ich war den ganzen Tag im Verhandlungssaal, habe mich relativ früh angestellt und hatte noch nicht die Gelegenheit, jetzt viele Bilder vom Verlauf des heutigen Tages zu sehen. Das, was ich im Gerichtssaal gesehen habe, wenn Sie das meinen, da kam Beate Zschäpe wirklich sehr locker rein und wirkte nicht wie jemand, der in dieser ganz großen Bedrohung eines Strafprozesses steht. Ich habe mich so gefragt, ganz egal, ob sie jetzt schuldig oder unschuldig ist, das muss doch eine ganz belastende Situation sein, jetzt hier hereinzukommen und dieser großen Strafandrohung "lebenslänglich" möglicherweise sogar noch besondere Schwere der Schuld, möglicherweise sogar noch Sicherungsverwahrung im Anschluss. Da kann man doch eigentlich gar nicht gelassen und locker reingehen und doch hat sie das getan und wirkte doch so, wie jemand, den das eigentlich gar nicht betrifft, was hier passiert und wirkte eher so, wie ein weiteres Mitglied des Anwaltsteams und das wurde noch unterstrichen durch die Kleidung. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug, eine weiße Bluse und sah im Grunde genommen genau so aus, wie ihre Verteidiger in ihren dunklen Anzügen oder ihre Verteidigerin, die auch ein schwarzes Kostüm mit weißer Bluse trug. Also, es wirkte nicht passend und das war bei den anderen Angeklagten anders, die haben sich so verhalten, wie man das von einem Angeklagten erwartet.
Ganz offen gesagt, sind sie schuldig oder unschuldig, das möchte ich außen vor lassen und nur sagen, es ist ja der Eindruck, der entsteht, wenn jemand ins Gericht kommt. Da ist man doch nicht cool und relaxed – Beate Zschäpe, die war es erstaunlicherweise."
Wirtz: Das war ja heute eine Gelegenheit, wo auch die Nebenkläger praktisch mit Beate Zschäpe und auch den anderen vier Angeklagten zusammentrafen. Wie haben die reagiert aufeinander?
Schmidt: "Das war für uns Beobachter bedauerlicherweise relativ schlecht zu sehen. Man muss sich das so vorstellen, es gab in diesem Verhandlungssaal eine Empore, auf der die Zuschauerplätze und die Journalistenplätze waren – etwa 100 Plätze waren das oben und unterhalb dieser Empore, da war der Bereich, in dem sich die Nebenkläger und die Angehörigen aufgehalten hatten, wo sie ihre Sitzplätze hatten und das hat man also von oben überhaupt nicht sehen können. Das Gericht hat das gelöst durch eine Videokamera, die im Grunde den ganzen Bereich – die obere Empore und den unteren Bereich – den Bereich der Nebenkläger in der Totalen aufgenommen hat und das hat man entsprechend sich anschauen können auf dieser Leinwand, aber obwohl ich einige Angehörige, einige Nebenklägervertreter persönlich kenne, ist es mir nicht gelungen, zu identifizieren, wo sitzen die denn jetzt und entsprechend konnte man noch viel weniger sagen, wie geht es denen, wie reagieren oder wie gucken sie – da waren wir also im Grunde völlig abgeschnitten davon, das kann man nur ahnen, wie es denen gegangen ist, als dieser Antrags-Marathon am heutigen Tag über sie her gebrochen ist."
Die Berichterstattung in der Türkei
Dieses Strafverfahren hat schon jetzt eine historische Dimension, zumal dieses Verfahren eine Mordserie juristisch aufarbeiten soll, der nationalsozialistische Motive zugrunde lagen. Das weckt dunkle Erinnerungen, nicht nur bei den türkischen Demonstranten, die sich heute Morgen vor dem Gerichtsgebäude in München versammelten. Auf einem ihrer Plakate war auf Türkisch und auf Deutsch zu lesen: "Hitlerkind Zschäpe, du wirst für die Morde bezahlen". Wie die türkischen Medien über die Verfahren berichten, hat Luise Sammann für uns recherchiert:
Zehn Uhr morgens in München, der NSU-Prozess beginnt. Im Istanbuler Studio des Nachrichtensenders NTV ist es da bereits Zeit für die Elf-Uhr-Nachrichten. Hinter einer Glaswand lächelt eine junge Moderatorin in die Kamera und liefert einen ersten Themenüberblick. Der NSU-Prozess ist das Top-Thema - zumindest bei NTV, einem der größten Nachrichtensender der Türkei. Ein Korrespondent berichtet live aus München:
"Wer hat es in den Gerichtssaal geschafft und wer nicht?"
…fragt er in die Kamera. Und erklärt dann beinahe triumphierend:
"Die Diskussion um die Akkreditierung hat sich lange hingezogen. Inzwischen können wir mitteilen, dass viele unserer Kollegen es in den Gerichtssaal geschafft haben. Sechs türkische Parlamentarier haben außerdem seit dem frühen Morgen in der Schlange gewartet, auch sie sind jetzt im Gerichtssaal."
Während der Reporter vor Ort nun einen türkischstämmigen Grünen-Abgeordneten dazu befragt, wie wichtig der Prozess für das Image Deutschlands sei, dreht in Istanbul Fehmi Gürdalli die Lautstärke herunter. Bei NTV ist er für die Auslandsberichterstattung zuständig. Das Thema NSU habe in der Türkei bisher eigentlich wenig interessiert, erzählt der Chefredakteur: bis zum missglückten Akkreditierungsverfahren:
"Wir hatten zunächst nicht einmal vor, einen Reporter nach München zu senden. Erst, als klar wurde, dass kein türkischer Journalist in den Saal kommen sollte, haben wir beschlossen, jemanden zu schicken."
Denn da plötzlich ging es nicht mehr nur um ein paar verwirrende Morde im fernen Deutschland, sondern um die Diskriminierung türkischer Journalisten dort. Politiker in Ankara äußerten vor laufenden Kameras Kritik am Oberlandesgericht in München, der NSU-Prozess rutschte auf die Themenliste großer Sender wie NTV…
Auch die 12-Uhr-Nachrichten machen dort mit dem Prozess in Deutschland auf. Im Studio ist ein Politikprofessor aus Ankara zu Gast, der über mögliche Verwicklungen zwischen der Neonazi-Terrorzelle und deutschen Geheimdiensten spricht. Aus den Programmen anderer Fernsehsender ist das Thema zu diesem Zeitpunkt längst wieder verschwunden, in den großen Zeitungen "Hürriyet" und "Milliyet" ist es ein Thema unter vielen. Chefredakteur Fehmi Gürdalli wundert das nicht.
"Die Türkei befindet sich im Moment im Friedensprozess mit der PKK, das ist seit Wochen das Hauptthema bei uns, immerhin geht es um ein 30 Jahre altes Problem. Und auch um die Türkei herum ist viel los: Seit Tagen gibt es Explosionen in Damaskus. Und auch im Irak gab es wieder Anschläge."
Krieg bei den syrischen Nachbarn, ein möglicher Frieden im eigenen Land - der NSU-Prozess in München hat es schwer auf der aktuellen Nachrichtenagenda der Türkei. Während die interessierte Öffentlichkeit in Deutschland längst alles über den NSU zu wissen glaubt, hatten die meisten Türken bis zur Akkreditierungspanne noch nie davon gehört. Höchstens das Stichwort "Dönermorde" geisterte hier und da durchs Internet.
Auch bei NTV hält sich das Thema nicht lange. Um 15 Uhr – also
14 Uhr deutscher Zeit – beginnt die lächelnde Moderatorin die Nachrichten nicht mehr mit München, sondern mit einem ganz und gar türkischen Thema: Der Militärdienst soll verkürzt werden! Danach folgt ein Bericht über den bevorstehenden Abzug der kurdischen PKK. Der NSU-Prozess ist ans Ende der Nachrichten gerutscht. Normal? Chefredakteur Gürdalli zuckt mit den Schultern.
"In der Türkei wechselt die Nachrichtenagenda sehr schnell. Eine Nachricht wie diese bleibt nicht lange heiß, dann verschwindet sie nach hinten. Das ist nicht nur bei dem Prozess in Deutschland so, sondern bei allen Themen."
Als der erste Prozesstag um 17 Uhr fast vorüber ist, schafft es der Korrespondent in München noch einmal an den Anfang der Nachrichten. Auf Englisch befragt er die Anwälte der Opferfamilien zum Prozessauftakt. Eine Stunde später ist das Thema aus den NTV-Nachrichten verschwunden. Ein Leichenfund in Istanbul sorgt für Aufregung, die meisten Medien aber dominiert ein anderes Thema: Galatasaray ist alter und neuer Meister der Türkei. Zum hundertsten Mal heute ziehen die jubelnden Fußballfans durchs Bild.
Terrorexperte der ARD im Interview
Christiane Wirtz: Herr Schmidt, das klingt fast so, als müssten die türkischen Kollegen in München bald um einen Platz bei der Berichterstattung für ihre jeweiligen Sender und Redaktionen kämpfen. Mit welcher Erwartung gehen die Kollegen in den Prozess?
Holger Schmidt: "Also, ich glaube, die Kollegen, die es hereingeschafft haben, in den Saal, mit denen ich sprechen konnte, die haben sehr große Erwartungen, weil für viele Kollegen auch das ganze Verfahren neu ist und da ist es einfach erst mal aufregend und journalistisch interessant, was man da heute berichten kann. Ich hatte jetzt nicht die Zeit, so ausführlich mit den Kollegen zu sprechen, dass ich genau sagen könnte, in welchem Umfang sie berichten, welchen Stellenwert das in ihren Redaktionen hat, aber für die Kollegen selbst war ganz wichtig und interessant, wie es vor Gericht abgelaufen ist – aber auch, so habe ich es jedenfalls empfunden – unter den Kollegen, die angestanden haben heute Morgen und im Verhandlungssaal waren und den Tag über – dass da eine große Kollegialität geherrscht hat. Dass man sich gegenseitig geholfen hat. Es ging darum, wer hat jetzt ein Ladekabel für welchen Handy-Typ [hat], es ging darum, wer kann mir erklären, wie heißen die Beteiligten, wie sind die Vornamen, wie schreibt man das. Solche Dinge, die im journalistischen Alltag wichtig sind, dass man sich darüber austauscht, auf der anderen Seite aber gar nicht unbedingt selbstverständlich bei Journalisten sind. Einzelkämpfer, die sehr häufig nur ihre Arbeit im Blick haben und das gar nicht so gerne sehen, wenn da jemand stört und Dinge fragt und das war heute ganz anders, das war heute wirklich ein sehr kollegiales Miteinander im Verhandlungssaal."
Wirtz: Über die Arbeitsbedingungen im Gerichtssaal ist ja vorher viel gesprochen worden, geschrieben und diskutiert worden. Wie müssen wir uns das ganz konkret vorstellen? Wie konnten Sie arbeiten im Gericht?"
Schmidt: "Also ganz konkret war es für mich so, dass ich einer der wenigen Journalisten war, der einen gesicherten Platz hatte innerhalb der ARD und wir haben ja alle zusammen gesagt, es ist ganz egal, welche Reporter welchen Platz bekommen, wir tauschen uns aus und wir versuchen das eben als große Gemeinschaftsaufgabe auch zu sehen, von diesem wichtigen Prozess zu berichten. Praktisch, so, dass wir im Gerichtssaal saßen, dort eben die entsprechenden Notizen über den Verhandlungsverlauf angefertigt haben und immer in den Pausen, immer wenn es möglich war, über E-Mails das nach draußen geschickt haben zu den Kolleginnen und Kollegen, die das heute den Tag über gemacht haben.
Das sind keine optimalen Bedingungen. Es ist einfacher, wenn man im Gerichtssaal aufstehen und vor die Tür gehen kann, vielleicht auch einmal herausgehen kann und aus dem Ü-Wagen ein Gespräch führen kann. Aber da war eben die Sicherheitsverfügung des Vorsitzenden davor – das wollte er aus Sicherheitsgründen und wegen der Störung des Prozesses nicht zulassen. Deswegen bin ich wirklich heute Morgen in den Verhandlungssaal hereingegangen, durfte das Oberlandesgericht nicht verlassen, den ganzen Tag über und dann erst gegen 17.00 Uhr wieder raus kommen. In der Mittagspause hatte das Oberlandesgericht dafür gesorgt, dass wir Brötchen kaufen konnten, und hat uns einen Wasserspender hingestellt und so haben wir im Grunde den Tag im Gericht verbracht."
Reaktionen zum Prozess in der Kölner Keupstraße
Vor neun Jahren explodierte in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe und verletzte 22 Menschen, zum Teil lebensgefährlich. Schutzgelderpressungen oder organisierte Kriminalität – das waren damals die Vermutungen, denen die Ermittler nachgingen. Teilweise wurden die Opfer zu mutmaßlichen Tätern. Der heutige Tag weckt bei den Menschen in der Keupstraße schmerzliche Erinnerungen – unsere Korrespondentin Barbara Schmidt-Mattern hat mit ihnen gesprochen:
Conny Barendt-Höffgen will an den 9. Juni 2004 am liebsten nicht mehr erinnert werden. Der Auftakt des NSU-Prozesses in München sei zwar gut, aber er reißt alte Wunden wieder auf:
"Thema war das schon, aber viele haben das doch verdrängt, und jetzt durch den Prozessauftakt kommt das alles wieder hoch."
Seit bald zwei Jahrzehnten betreibt die 50-Jährige mit ihrem türkischen Lebenspartner das Café Cengizhan mitten auf der Keupstraße in Köln-Mülheim. Das Café ein beliebter Treffpunkt für Kartenspieler. Keine 30 Meter von hier explodierte mit voller Wucht jene Nagelbombe, die die Keupstraße bundesweit in die Schlagzeilen katapultierte. Conny Barendt-Höffgen redet über all das nur ungern.
"Ich war geschockt über so viel Blut, über so viel Scherben und Trümmer und das Entsetzen in den Gesichtern der Menschen. Und diese Angst in den Augen, das war furchtbar, ich werde das in meinem Leben nicht vergessen. Es ist einfach nur der Schock und Wut und Trauer."
Wegen der Druckwelle der Explosion ging damals in ihrem Café die große Frontscheibe zu Bruch. Verletzt wurde zum Glück niemand:
"Wenn da einer gesessen hätte, wir hätten Tote hier im Laden gehabt."
Mehrere Geschäftsleute aus der Keupstraße, darunter ein Juwelier, dessen Geschäft direkt gegenüber vom Anschlagsort liegt, treten als Nebenkläger im NSU-Prozess auf. Doch die Hoffnung, alle Hintergründe und Tatbeteiligungen bei der Terrorserie aufklären zu können, hält Conny Barendt-Höffgen für einen frommen Wunsch:
"Ich denke, man bekommt keine maximale Aufklärung. Man weiß ja nicht, über was sie redet…"
Gemeint ist die Hauptangeklagte Beate Zschäpe, die seit ihrer Festnahme schweigt.
"Ich denke, sie wird überhaupt nix sagen. Wie will man einen Tod rechtfertigen? Wie kann man das? Und ich weiß auch nicht, ob die Leute das jemals verzeihen können, denn es ist doch eine sehr tiefe Kerbe in den Seelen der Menschen – die kann man nicht reparieren, auch nicht mit Gerechtigkeit."
So denken viele auf der Keupstraße, doch die Bewohner wollen in Ruhe gelassen werden. Interviews lehnen sie ab, draußen auf der Straße genauso wie drinnen im Café Cengizhan. Es herrscht gähnende Leere, einzig ein Grüppchen Rentner sitzt beisammen und spielt Rommé. Nur einer meldet sich anonym kurz zu Wort:
"Keupstraße… diese Bombe (ist) schon neun Jahre her. (Ist eine) tote Straße geworden."
Das stimmt so nicht, seit Jahren schon herrscht wieder geschäftiges Treiben: beim Friseur, im Reisebüro, in den Juweliergeschäften. Doch die Frustration sitzt bei vielen tief. Sevim, die 42-jährige Besitzerin des Restaurant Mevlana, ist sauer, weil sich inzwischen kaum noch ein deutscher oder türkischer Politiker in der Keupstraße sehen lasse. Auch damals, kurz nach dem Anschlag habe niemand geholfen:
"Ich habe kein Vertrauen, deswegen mische ich mich gar nicht ein. Ja natürlich, zwei, drei Jahre war ja auf dieser Straße gar nichts los. Aber wer würde uns denn helfen? Wer macht das denn? Keiner."
Dass die meisten Geschäftsleute der Keupstraße mehrere tausend Euro Entschädigung von der Bundesrepublik Deutschland erhalten haben, sagt die Restaurantbesitzerin nicht. Auch die Gedenkfeier des Bundespräsidenten für die NSU-Opfer im letzten Jahr bleibt unerwähnt. Die türkische Community in der Keupstraße hat sich eingeigelt. Nicht nur, dass die Bewohner damals selbst beschuldigt wurden, mit dem Anschlag etwas zu tun zu haben – auch die jahrelangen Schlampereien der Ermittler haben das Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat erschüttert. Die Erwartungen an den Gerichtsprozess sind deshalb gedämpft, sagt Café-Besitzerin Conny Barendt-Höffgen:
"Wenn es kein klares Urteil gibt, dann sind die Menschen, glaube ich, noch mehr enttäuscht als jetzt. Jetzt ist da ja schon dieses Fragezeichen: Ist das nur, weil wir Türken sind? Diese Fragezeichen werden dann immer mehr, und ich glaube, der Glaube an die Justiz, an den Staatsapparat würde dann ganz verloren gehen."
Terrorexperte der ARD im Interview
Christiane Wirtz: Herr Schmidt, wir haben es in dem Beitrag gehört, die Menschen in der Keupstraße hoffen auf ein klares Urteil. Wie berechtigt ist diese Hoffnung?
Holger Schmidt: Da muss ich im Grunde zurückfragen: Was ist ein klares Urteil? Ein Urteil nach den Buchstaben des Strafgesetzbuches wird der Senat am Ende des Verfahrens zweifellos sprechen. Meine große Sorge in diesem Verfahren ist, das dann viele Nebenkläger die Öffentlichkeit und uns Journalisten unglücklich machen wird. Wir werden Dinge erfahren über Schuld oder Unschuld von Beate Zschäpe, von den anderen Angeklagten – möglicherweise wird die Anklage nicht in dem Umfang zu einem Urteil führen, wie es der Generalbundesanwalt sich vorgestellt hat, aber wir werden nach den Buchstaben des Strafgesetzbuches und der Strafprozess-Ordnung ein Urteil haben. Und dann bleiben aber ganz viele Fragen offen, beispielsweise, warum Opfer zu Opfern wurden, warum sie ausgesucht wurden, was die genauen Hintergründe sind und was mit den ganzen Ermittlungspannen ist und die ganze Geschichte des Verfahrens anders hätte laufen können, wenn Sicherheitsbehörden anders gehandelt hätten. Auf diese Fragen wird wahrscheinlich der Prozess keine Antworten geben, aber viele der Nebenkläger rechnen damit und deswegen sind Enttäuschungen eigentlich vorprogrammiert, auch wenn möglicherweise ein ganz klares juristisches Urteil herauskommen wird, vielleicht auch eine hohe Haftstrafe für Beate Zschäpe.
Wirtz: Nun haben wir ja nun erst einmal den ersten Prozesstag hinter uns gebracht, der sehr schleppend vorangegangen ist – ein Antrag nach dem nächsten – eine Sitzungspause nach der nächsten. Jetzt hat das Gericht den Prozess auch noch vertagt auf den 14. Mai – warum?
Schmidt: Weil es diese Befangenheitsanträge, die es heute gegeben hat, Zeit braucht, die vernünftig zu entscheiden. Auch da gibt es klare Regeln in der Strafprozessordnung, wie so etwas abzulaufen hat. Das muss binnen zwei Hauptverhandlungstagen passieren, das hieße also eigentlich bis Mittwoch-Morgen, wenn morgen und übermorgen weiter verhandelt worden wäre, hätte die Entscheidung da sein müssen und da hat der Vorsitzende sehr zurecht gesehen, dass das eigentlich vernünftig solide nicht zu machen ist. Deswegen sagt er, wir machen am Dienstag weiter, dann ist mehr Zeit da, diese Befangenheitsanträge so zu bearbeiten, wie es sich gehört und wir Richter des Oberlandesgerichts werden jetzt darüber befinden, ob Fred Götze und weitere Senatsmitglieder befangen waren.
Wirtz: Vielen Dank, Herr Schmidt – für diesen Augenzeugenbericht aus München. Wir werden in der nächsten Woche sicher noch häufig von Ihnen hören. Hier folgen jetzt die Nachrichten und anschließend wird unser Korrespondent Rolf Clement den Prozessauftakt kommentieren.
Am Mikrofon bis hierher war Christiane Wirtz. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.