"Es regnet, es ist kalt, es ist Herbst, und da steht dieser junge Mann und da steht das Mädchen und er hat gefragt: Es ist so schlimmes Wetter, darf ich Sie nach Hause begleiten? Damit hat es angefangen."
Der deutsche Soldat Paul Benndorf und die 20-jährige Holländerin Odile Petersen lernen sich vor einem kleinen Tabakladen in Amsterdam kennen, erzählt deren Tochter Monika. Das ist im Oktober 1942. Zweieinhalb Jahre zuvor hatte die deutsche Wehrmacht die Niederlande überfallen und besetzt. Odile Petersen verliebt sich in einen deutschen Soldaten - in einen Feind.
"Das war das große Tabu. Einerseits ist er immer ihre große Liebe gewesen, sie hat nie geheiratet, andererseits ist doch ihr ganzes Leben gezeichnet worden und ziemlich negativ von dieser großen Liebe, die sie verloren hat."
Monika Petersen ist ein Kind des Krieges und ein Kind der Liebe – einer Liebe, die in Zeiten des Krieges nicht sein durfte. Monika wird im Herbst 1944 geboren; die Wehrmacht hat ihrem Soldaten Benndorf schriftlich eine Heirat mit einer Niederländerin untersagt und Odile Petersen wird in ihrer Heimat geächtet.
"Nach dem Krieg hat sie von der Polizei Hausarrest bekommen, denn sie war ein Moffenliebling gewesen. Sie durfte das Haus nicht verlassen, ich dann auch nicht, und das hat ziemlich lange gedauert."
Ihre Mutter sei noch lange als "Moffenhure" – also als Deutschenhure - beschimpft worden. Auch sie habe als Kind das Gefühl gehabt, bei anderen nicht willkommen zu sein - ohne zu wissen, was der Grund für die Ablehnung war, erzählt Monika Petersen. Erst in der 9. Klasse, in einem katholischen Internat, als es im Biologieunterricht um das Thema Fortpflanzung ging, hätte die Lehrerin ihr indirekt vermittelt, dass ihr Vater ein deutscher Soldat gewesen sei. Die 14-Jährige hat das Gefühl, alle wussten Bescheid, nur sie nicht:
"Ich habe mich so geschämt und ich war so riesig enttäuscht von meiner ganzen Familie, die alle gelogen hatten, denn ich hatte gefragt. Ich habe mich verraten gefühlt."
Erst zwei Jahre später, mit 16, traut sie sich, das Thema zu Hause anzusprechen:
"Ich erinnere mich, dass ich bei Tisch wagte zu sagen: Ich weiß es von meinem Vater und die haben einander angesehen, und dann kurz mich und dann aus dem Fenster hinausgeschaut, und das bedeutete: Ende des Gesprächs, das überhaupt nicht angefangen hat. Das war alles."
Gerlinda Swillen ist auch ein Kind des Krieges und der Liebe. Gerlinda Swillen ist Belgierin und wohnt in Brüssel. Ihre Mutter Julienne hatte sich in Gent im Herbst 1941 in einen deutschen Soldaten, einen Unteroffizier, verliebt. Eine Liebe zur falschen Zeit am falschen Ort. Der Soldat, von dem Gerlinda lange nur den Vornamen Karl kannte, will Julienne heiraten, doch der Opa – der Vater ihrer Mutter - ist dagegen. Der hat nämlich jüdische Wurzeln und Angst davor, dass die Nazis bei einer Heirat auf diese Wurzeln stoßen könnten. Gerlindas Mutter muss während des Krieges arbeiten, ihr deutscher Vater wird kurz nach ihrer Geburt nach Frankreich versetzt. Schon früh merkt sie: Es liegt ein großes Geheimnis über ihrer Familie. Irgendwann schnappt sie dann auf, dass ihr leiblicher Vater ein Deutscher ist und Karl heißt:
"Meine Mutter wollte nicht darüber sprechen: Man fragte das nicht, das war unhöflich, wir sprachen unsere Eltern mit Sie an, und das war ihr Privatleben und damit hatten wir nichts zu tun."
In Frankreich, den Niederlanden und in Skandinavien wurden Frauen, die sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten, der "horizontalen Kollaboration" bezichtigt. In all diesen Ländern wurden sie nach 1945 verachtet und geächtet. Man geht davon aus, dass allein in Norwegen 10. bis 12.000 Kinder aus einer norwegisch-deutschen Liaison hervorgegangen sind. Die meisten von ihnen kamen in sogenannte Lebensborn-Heime, wurden schon nach drei Monaten von ihren Müttern getrennt, berichtet Knut-Erich Papendorf. Er ist Professor für Rechtssoziologie in Oslo und selbst ein Kriegskind, das Kind einer Norwegerin und eines deutschen Soldaten. Aber es kam in den ersten Monaten nach der Befreiung immer wieder zu Übergriffen auf die Tyske teusse, die Deutschenflittchen, wie die Frauen beschimpft wurden:
"Die ‘Straße’ hat ja teilweise selber Eigenjustiz geübt dadurch, dass es auch in Norwegen in gehäufter Anzahl dazu kam, dass Frauen verprügelt wurden, dass ihnen die Haare abgeschnitten wurden und Ähnliches."
Die norwegische Regierung hat diese Frauen dann in ein Internierungslager gebracht – angeblich, um sie vor den Übergriffen zu schützen. Viele der Kinder kamen in Heime oder wurden adoptiert. Bis heute wissen einige Mütter nichts über das Schicksal ihrer Kinder.
"Genauso wie ihre Mütter wurden auch die Kinder stigmatisiert. Sie sind gemobbt worden, sie sind in den Schulen sehr schlecht behandelt worden, sie sind in Adoptionsverhältnisse gedrängt worden. Es gab ganz obskure Ideen nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, was man mit den Kindern machen sollte: Eine Gruppe ist freigegeben worden zur Adoption nach Schweden, und da gibt es ganz traurige Geschichten."
In Norwegen wussten die meisten dieser Kinder schon früh, dass ihr Vater ein deutscher Soldat war. In anderen Ländern wie in Belgien oder den Niederlanden lag der Mantel des Schweigens über der Vergangenheit der Kriegskinder. So hat die Niederländerin Monika Petersen nichts Konkretes über ihren deutschen Vater gewusst – bis sie sich im Ordnungsamt in Amsterdam eine Abschrift ihrer Geburtsurkunde besorgen will. Der Beamte sieht in den Unterlagen nach.
"Dann kommt der zurück und sagt zu mir: wieso haben Sie den Namen Ihrer Mutter in Ihrem Pass; und dann sagte er: Wenn ich deutsch lesen kann, dann hat Ihr Vater Sie anerkannt, und ich habe ihn nur angeschaut und nicht gewusst, was zu sagen."
Dann geht der Beamte zu einem besonderen ‘Deutschenschrank’, kommt mit der Originalgeburtsurkunde wieder und zeigt Monika Petersen ein kleines Blatt Papier, auf dem Paul Benndorf die Vaterschaft anerkannt hat. Datiert ist das Papier auf den 15. August 1944. Doch die niederländischen Behörden haben diese Vaterschaft eines deutschen Soldaten nicht akzeptiert, sagt die 67-Jährige. Nach dem Krieg habe die Regierung versucht, die Herkunft der Kriegskinder zu vertuschen. Die Strategie der Regierung:
"Diese Kinder werden offiziell holländisch, aber wir schützen sie und die ganze Geschichte. Die Kinder müssen nicht unbedingt wissen, aus welcher Beziehung sie kommen. Was ist schlimmer: in einer sanften Lüge zu leben oder in einer knallharten Wahrheit, und ich meine, wir haben Recht auf Wahrheit."
Monika Petersen spürt der Wahrheit nach. Mit 49 Jahren findet sie heraus, was aus ihrem Vater geworden ist: dass er nach dem Krieg in Bremen gelebt und dort eine Kriegerwitwe geheiratet hat. Und sie erfährt, dass er mit 53 Jahren, am Heiligen Abend 1966, gestorben ist.
Bei Gerlinda Swillen hat es noch länger gedauert. Erst vor drei Jahren hat sie mehr über ihren Vater herausgefunden als nur den Vornamen Karl.
"Ich war fast 65 Jahre alt, dann habe ich auf einmal meine Mutter provoziert. Sie erzählte etwas über den Krieg, da habe ich gesagt: Du sollst darüber nicht sprechen, denn du kennst nicht einmal den Namen meines Vaters, und dann hat sie gesagt: Ja, ich kenne ihn. Und meine Familie saß da, mein Sohn und meine Enkelkinder, und dann hat sie gesagt, er hieß Karl Weigert."
Sofort beginnt die Belgierin, nach ihrem Vater zu forschen: Und nach einem Jahr kann ihr dann eine Bundesbehörde in Berlin weiterhelfen: die Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht.
"Durch die Informationen, die die Kriegskinder haben, die sind ja manchmal spärlich, aber durch diese Informationen können wir anhand unserer einschlägigen Unterlagen herausbekommen, wer sich eigentlich hinter dieser Person, die gesucht wird, verbirgt."
Erläutert Wolfgang Remmers von der Deutschen Dienststelle in Berlin. Die Deutsche Dienststelle, die bereits 1939 gegründet wurde, erhält schon seit Mitte der 60er-Jahre Anfragen von Kriegskindern nach ihren Vätern. Allerdings haben sich in den vergangenen Jahren immer mehr gemeldet.
"Was man aber sagen muss ist, dass wir gerade in den letzten Jahren so eine Art Tabu gebrochen haben, auch gerade was Frankreich angeht, es gibt Filme, die veröffentlicht worden sind, es sind Bücher erschienen, die dieses Thema zum ersten Mal dokumentiert haben, und das hat ein sehr großes Echo in der Gesellschaft dort selber verursacht. Man hat das erste Mal über dieses Thema gesprochen. Wir merken das auch an den Betroffenen, mit denen wir direkt zu tun haben. Die sind in einer Phase, wo sie ihr ganzes Leben noch einmal überdenken, die sind jetzt so zwischen 65 und 70 Jahre und da ist es natürlich ein Herzenswunsch, da noch heranzugehen."
So wie bei Gerlinda Swillen, der die Dienststelle ebenfalls weiterhelfen konnte.
"An meinem Geburtstag, am 20. August 2008, bekam ich einen Anruf aus Berlin, man hatte meinen Vater wahrscheinlich gefunden."
Die Belgierin erfährt, dass ihr Vater bereits 1958 – im Alter von 55 Jahren - gestorben ist. Über die Deutsche Dienststelle will sie dann noch herausbekommen, ob sie eventuell Halbgeschwister hat.
"Und am 1. April, es ist kein Witz, habe ich einen Brief bekommen aus München von einem Karl Weigert, ja ich wusste, das konnte mein Vater nicht sein, es war mein Bruder und er schrieb: Geehrte Frau Swillen, liebe Gerlinda, liebe Schwester. Und er gab mir auch seine Anrufnummer und seitdem sprechen wir stundenlang am Telefon."
Und sie erfährt, dass sie noch zwei Halbschwestern in Frankreich hat – ebenfalls Kinder des Krieges.
Monika Petersen gehört zu den wenigen der rund 30.000 niederländischen Kriegskinder, die sich in der Öffentlichkeit zu ihrem deutschen Vater bekennen. Noch immer wissen die meisten von ihnen nichts oder nur wenig über ihre Herkunft. Die meisten Niederländer verharrten noch immer im Schwarz-Weiß-Denken und blieben der Legende verhaftet, alle seien gegen die Nazis gewesen.
"Da hat man noch immer Probleme mit der eigenen Geschichte. Vier Prozent waren im Widerstand, vier Prozent sind freiwillig in die SS gegangen. Man wagt es noch immer nicht, da kommt immer noch eher das Opfer-Sein hoch, als das Erkennen, dass wir mit Vergebung und Versöhnung uns auch als Holländer befreien sollen."
Keiner weiß, wie viele Kinder deutscher Soldaten es gibt. Schätzungen schwanken zwischen einer und zwei Millionen. Zwischen 1939 und 1945 waren etwa 18 Millionen deutsche Männer als Soldaten in fast allen europäischen Ländern. Überall gab es Vergewaltigungen, aber es bestanden auch viele Liebesbeziehungen. Selbst in den osteuropäischen Ländern, in denen die Nazis den deutschen Soldaten per Erlass "Geschlechtsverkehr mit Andersrassigen" verboten hatten, entstanden Romanzen, amouröse Abenteuer - und Kinder. Doch gerade in diesen Ländern wird bis heute nicht über diese Kinder gesprochen, sagt Gisela Heidenreich:
"Ich glaube, dass das in den ganzen östlichen Ländern ein ganz sensibles Thema ist, darüber zu sprechen. Von der politischen Ideologie her sowieso, aber einfach auch von dem Thema, dass Frauen sich eingelassen haben mit deutschen Soldaten, das ist immer noch eine Geschichte, über die man nicht gerne sprechen möchte, und ich fürchte, dass natürlich auch viele der Frauen vergewaltigt worden sind und dass sie darüber natürlich geschwiegen haben oder das vertuscht haben."
Gisela Heidenreich ist eine der Sprecherinnen des europäischen Netzwerks "Born of War international Network", das von Kriegskindern gegründet worden ist. Sie hat vor einigen Jahren ihr Schicksal als Lebensborn-Kind in einem Buch veröffentlicht. Zu den Forderungen der europäischen Kriegskinder gehört u.a., dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen.
"Kinder wollen ihre Wurzeln kennen, und Kinder in Anführungszeichen, die jetzt 65, 70 sind, die herausfinden, dass sie einen deutschen Vater haben, möchten auch ihre deutsche Staatsbürgerschaft, sie möchten dazugehören, sie möchten damit eine späte Anerkennung finden."
Diese Anerkennung bekommen die französischen Kriegskinder relativ einfach, nachdem ihnen vor zwei Jahren in einer Sondervereinbarung grundsätzlich die doppelte Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde. Mit den anderen Staaten gibt es noch keine entsprechende Übereinkunft. Doch jedes Kriegskind, egal in welchem Konflikt entstanden, soll ein verbrieftes Recht auf eine Staatsbürgerschaft haben. So lautet eine der Forderung von BoWiN, dem Verein Born of War international Network.
"Wir sagen: wenn wir jetzt aufarbeiten unsere eigene Geschichte. Okay, dann steht die da und kommt wieder in die Geschichtsbücher, aber es passiert ja ununterbrochen, es werden ja ständig in dieser Welt durch Kriege wieder Kinder geboren, auch von Deutschen, von Europäern, von der UNO, von diesen ganzen Ländern, die in anderen Ländern arbeiten oder auch kämpfen. Und ich denke, dass es wichtig ist, dass wir unsere Erfahrungen und unsere Ziele die wir erreichen natürlich weitergeben und vor allem, dass die Frauen in den Ländern, die jetzt wieder Kinder bekommen, ein Art Schutz bekommen, dass Frauen und Kinder, die jetzt Beziehungen zu ausländischen Soldaten haben, nicht wieder im Regen stehen gelassen werden beziehungsweise sogar verfolgt, angefeindet, bespuckt und bestraft werden."
Die Idee des Kriegskindervereins: Die UNO soll für ihre Soldaten eine Art garantierende Vormundschaft übernehmen, damit die von ausländischen Soldaten gezeugten Kinder eine materielle Absicherung bekommen.
"Wir müssen jetzt mal von den Kindern ausgehen: alle Kinder, ganz gleich, wie sie entstanden sind, sind nicht schuld, sie können nichts dafür. Sodass wir sagen: Kriegskinder sind alle Kinder, die in irgendeiner Weise mit diesem Krieg zu tun haben und aus den Kriegssequenzen entstanden sind."
Die Belgierin beruft sich dabei auf Artikel 8 der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Dort heißt es:
"Das Wissen um die eigene Identität gehört zu den Grundrechten".
Wie wichtig es ist, zu wissen, wo man herkommt, wer der eigene Vater ist, erzählen Gerlinda Swillen und Monika Benndorf-Petersen.
"Für mich ist es so gewesen, dass ich meinen Vater die ersten fünf Monate meines Lebens täglich um mich gehabt habe. Er war der Einzige, der nur glücklich war mit mir. Meine Mutter und die anderen Mitglieder meiner Familie hatten doch Probleme damit. Man sagt immer: Jede Zelle hat ein eigenes Gedächtnis, und der Körper vergisst nicht. Ich habe also immer gespürt, dass er nicht mehr da war, dass da was fehlte. Ich hatte eine große Affinität zu Deutsch, die ich mir nicht erklären konnte."
"Als ich erfuhr, wer mein Vater war, sind alle Albträume über Krieg und Verfolgung auf einmal aufgehört für mich. Es zeigt, dass es sehr wichtig ist. Meine Mutter sagte immer, wenn sie böse war: Du gleichst deinem Vater, und ich wusste immer nicht: Warum sagt sie das. Und jetzt verstehe ich auch, warum meine Beziehung zu meiner Mutter so schwierig war, sie hat eigentlich diesen ersten Liebhaber immer vor sich gesehen, das war ich."
Der deutsche Soldat Paul Benndorf und die 20-jährige Holländerin Odile Petersen lernen sich vor einem kleinen Tabakladen in Amsterdam kennen, erzählt deren Tochter Monika. Das ist im Oktober 1942. Zweieinhalb Jahre zuvor hatte die deutsche Wehrmacht die Niederlande überfallen und besetzt. Odile Petersen verliebt sich in einen deutschen Soldaten - in einen Feind.
"Das war das große Tabu. Einerseits ist er immer ihre große Liebe gewesen, sie hat nie geheiratet, andererseits ist doch ihr ganzes Leben gezeichnet worden und ziemlich negativ von dieser großen Liebe, die sie verloren hat."
Monika Petersen ist ein Kind des Krieges und ein Kind der Liebe – einer Liebe, die in Zeiten des Krieges nicht sein durfte. Monika wird im Herbst 1944 geboren; die Wehrmacht hat ihrem Soldaten Benndorf schriftlich eine Heirat mit einer Niederländerin untersagt und Odile Petersen wird in ihrer Heimat geächtet.
"Nach dem Krieg hat sie von der Polizei Hausarrest bekommen, denn sie war ein Moffenliebling gewesen. Sie durfte das Haus nicht verlassen, ich dann auch nicht, und das hat ziemlich lange gedauert."
Ihre Mutter sei noch lange als "Moffenhure" – also als Deutschenhure - beschimpft worden. Auch sie habe als Kind das Gefühl gehabt, bei anderen nicht willkommen zu sein - ohne zu wissen, was der Grund für die Ablehnung war, erzählt Monika Petersen. Erst in der 9. Klasse, in einem katholischen Internat, als es im Biologieunterricht um das Thema Fortpflanzung ging, hätte die Lehrerin ihr indirekt vermittelt, dass ihr Vater ein deutscher Soldat gewesen sei. Die 14-Jährige hat das Gefühl, alle wussten Bescheid, nur sie nicht:
"Ich habe mich so geschämt und ich war so riesig enttäuscht von meiner ganzen Familie, die alle gelogen hatten, denn ich hatte gefragt. Ich habe mich verraten gefühlt."
Erst zwei Jahre später, mit 16, traut sie sich, das Thema zu Hause anzusprechen:
"Ich erinnere mich, dass ich bei Tisch wagte zu sagen: Ich weiß es von meinem Vater und die haben einander angesehen, und dann kurz mich und dann aus dem Fenster hinausgeschaut, und das bedeutete: Ende des Gesprächs, das überhaupt nicht angefangen hat. Das war alles."
Gerlinda Swillen ist auch ein Kind des Krieges und der Liebe. Gerlinda Swillen ist Belgierin und wohnt in Brüssel. Ihre Mutter Julienne hatte sich in Gent im Herbst 1941 in einen deutschen Soldaten, einen Unteroffizier, verliebt. Eine Liebe zur falschen Zeit am falschen Ort. Der Soldat, von dem Gerlinda lange nur den Vornamen Karl kannte, will Julienne heiraten, doch der Opa – der Vater ihrer Mutter - ist dagegen. Der hat nämlich jüdische Wurzeln und Angst davor, dass die Nazis bei einer Heirat auf diese Wurzeln stoßen könnten. Gerlindas Mutter muss während des Krieges arbeiten, ihr deutscher Vater wird kurz nach ihrer Geburt nach Frankreich versetzt. Schon früh merkt sie: Es liegt ein großes Geheimnis über ihrer Familie. Irgendwann schnappt sie dann auf, dass ihr leiblicher Vater ein Deutscher ist und Karl heißt:
"Meine Mutter wollte nicht darüber sprechen: Man fragte das nicht, das war unhöflich, wir sprachen unsere Eltern mit Sie an, und das war ihr Privatleben und damit hatten wir nichts zu tun."
In Frankreich, den Niederlanden und in Skandinavien wurden Frauen, die sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten, der "horizontalen Kollaboration" bezichtigt. In all diesen Ländern wurden sie nach 1945 verachtet und geächtet. Man geht davon aus, dass allein in Norwegen 10. bis 12.000 Kinder aus einer norwegisch-deutschen Liaison hervorgegangen sind. Die meisten von ihnen kamen in sogenannte Lebensborn-Heime, wurden schon nach drei Monaten von ihren Müttern getrennt, berichtet Knut-Erich Papendorf. Er ist Professor für Rechtssoziologie in Oslo und selbst ein Kriegskind, das Kind einer Norwegerin und eines deutschen Soldaten. Aber es kam in den ersten Monaten nach der Befreiung immer wieder zu Übergriffen auf die Tyske teusse, die Deutschenflittchen, wie die Frauen beschimpft wurden:
"Die ‘Straße’ hat ja teilweise selber Eigenjustiz geübt dadurch, dass es auch in Norwegen in gehäufter Anzahl dazu kam, dass Frauen verprügelt wurden, dass ihnen die Haare abgeschnitten wurden und Ähnliches."
Die norwegische Regierung hat diese Frauen dann in ein Internierungslager gebracht – angeblich, um sie vor den Übergriffen zu schützen. Viele der Kinder kamen in Heime oder wurden adoptiert. Bis heute wissen einige Mütter nichts über das Schicksal ihrer Kinder.
"Genauso wie ihre Mütter wurden auch die Kinder stigmatisiert. Sie sind gemobbt worden, sie sind in den Schulen sehr schlecht behandelt worden, sie sind in Adoptionsverhältnisse gedrängt worden. Es gab ganz obskure Ideen nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, was man mit den Kindern machen sollte: Eine Gruppe ist freigegeben worden zur Adoption nach Schweden, und da gibt es ganz traurige Geschichten."
In Norwegen wussten die meisten dieser Kinder schon früh, dass ihr Vater ein deutscher Soldat war. In anderen Ländern wie in Belgien oder den Niederlanden lag der Mantel des Schweigens über der Vergangenheit der Kriegskinder. So hat die Niederländerin Monika Petersen nichts Konkretes über ihren deutschen Vater gewusst – bis sie sich im Ordnungsamt in Amsterdam eine Abschrift ihrer Geburtsurkunde besorgen will. Der Beamte sieht in den Unterlagen nach.
"Dann kommt der zurück und sagt zu mir: wieso haben Sie den Namen Ihrer Mutter in Ihrem Pass; und dann sagte er: Wenn ich deutsch lesen kann, dann hat Ihr Vater Sie anerkannt, und ich habe ihn nur angeschaut und nicht gewusst, was zu sagen."
Dann geht der Beamte zu einem besonderen ‘Deutschenschrank’, kommt mit der Originalgeburtsurkunde wieder und zeigt Monika Petersen ein kleines Blatt Papier, auf dem Paul Benndorf die Vaterschaft anerkannt hat. Datiert ist das Papier auf den 15. August 1944. Doch die niederländischen Behörden haben diese Vaterschaft eines deutschen Soldaten nicht akzeptiert, sagt die 67-Jährige. Nach dem Krieg habe die Regierung versucht, die Herkunft der Kriegskinder zu vertuschen. Die Strategie der Regierung:
"Diese Kinder werden offiziell holländisch, aber wir schützen sie und die ganze Geschichte. Die Kinder müssen nicht unbedingt wissen, aus welcher Beziehung sie kommen. Was ist schlimmer: in einer sanften Lüge zu leben oder in einer knallharten Wahrheit, und ich meine, wir haben Recht auf Wahrheit."
Monika Petersen spürt der Wahrheit nach. Mit 49 Jahren findet sie heraus, was aus ihrem Vater geworden ist: dass er nach dem Krieg in Bremen gelebt und dort eine Kriegerwitwe geheiratet hat. Und sie erfährt, dass er mit 53 Jahren, am Heiligen Abend 1966, gestorben ist.
Bei Gerlinda Swillen hat es noch länger gedauert. Erst vor drei Jahren hat sie mehr über ihren Vater herausgefunden als nur den Vornamen Karl.
"Ich war fast 65 Jahre alt, dann habe ich auf einmal meine Mutter provoziert. Sie erzählte etwas über den Krieg, da habe ich gesagt: Du sollst darüber nicht sprechen, denn du kennst nicht einmal den Namen meines Vaters, und dann hat sie gesagt: Ja, ich kenne ihn. Und meine Familie saß da, mein Sohn und meine Enkelkinder, und dann hat sie gesagt, er hieß Karl Weigert."
Sofort beginnt die Belgierin, nach ihrem Vater zu forschen: Und nach einem Jahr kann ihr dann eine Bundesbehörde in Berlin weiterhelfen: die Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht.
"Durch die Informationen, die die Kriegskinder haben, die sind ja manchmal spärlich, aber durch diese Informationen können wir anhand unserer einschlägigen Unterlagen herausbekommen, wer sich eigentlich hinter dieser Person, die gesucht wird, verbirgt."
Erläutert Wolfgang Remmers von der Deutschen Dienststelle in Berlin. Die Deutsche Dienststelle, die bereits 1939 gegründet wurde, erhält schon seit Mitte der 60er-Jahre Anfragen von Kriegskindern nach ihren Vätern. Allerdings haben sich in den vergangenen Jahren immer mehr gemeldet.
"Was man aber sagen muss ist, dass wir gerade in den letzten Jahren so eine Art Tabu gebrochen haben, auch gerade was Frankreich angeht, es gibt Filme, die veröffentlicht worden sind, es sind Bücher erschienen, die dieses Thema zum ersten Mal dokumentiert haben, und das hat ein sehr großes Echo in der Gesellschaft dort selber verursacht. Man hat das erste Mal über dieses Thema gesprochen. Wir merken das auch an den Betroffenen, mit denen wir direkt zu tun haben. Die sind in einer Phase, wo sie ihr ganzes Leben noch einmal überdenken, die sind jetzt so zwischen 65 und 70 Jahre und da ist es natürlich ein Herzenswunsch, da noch heranzugehen."
So wie bei Gerlinda Swillen, der die Dienststelle ebenfalls weiterhelfen konnte.
"An meinem Geburtstag, am 20. August 2008, bekam ich einen Anruf aus Berlin, man hatte meinen Vater wahrscheinlich gefunden."
Die Belgierin erfährt, dass ihr Vater bereits 1958 – im Alter von 55 Jahren - gestorben ist. Über die Deutsche Dienststelle will sie dann noch herausbekommen, ob sie eventuell Halbgeschwister hat.
"Und am 1. April, es ist kein Witz, habe ich einen Brief bekommen aus München von einem Karl Weigert, ja ich wusste, das konnte mein Vater nicht sein, es war mein Bruder und er schrieb: Geehrte Frau Swillen, liebe Gerlinda, liebe Schwester. Und er gab mir auch seine Anrufnummer und seitdem sprechen wir stundenlang am Telefon."
Und sie erfährt, dass sie noch zwei Halbschwestern in Frankreich hat – ebenfalls Kinder des Krieges.
Monika Petersen gehört zu den wenigen der rund 30.000 niederländischen Kriegskinder, die sich in der Öffentlichkeit zu ihrem deutschen Vater bekennen. Noch immer wissen die meisten von ihnen nichts oder nur wenig über ihre Herkunft. Die meisten Niederländer verharrten noch immer im Schwarz-Weiß-Denken und blieben der Legende verhaftet, alle seien gegen die Nazis gewesen.
"Da hat man noch immer Probleme mit der eigenen Geschichte. Vier Prozent waren im Widerstand, vier Prozent sind freiwillig in die SS gegangen. Man wagt es noch immer nicht, da kommt immer noch eher das Opfer-Sein hoch, als das Erkennen, dass wir mit Vergebung und Versöhnung uns auch als Holländer befreien sollen."
Keiner weiß, wie viele Kinder deutscher Soldaten es gibt. Schätzungen schwanken zwischen einer und zwei Millionen. Zwischen 1939 und 1945 waren etwa 18 Millionen deutsche Männer als Soldaten in fast allen europäischen Ländern. Überall gab es Vergewaltigungen, aber es bestanden auch viele Liebesbeziehungen. Selbst in den osteuropäischen Ländern, in denen die Nazis den deutschen Soldaten per Erlass "Geschlechtsverkehr mit Andersrassigen" verboten hatten, entstanden Romanzen, amouröse Abenteuer - und Kinder. Doch gerade in diesen Ländern wird bis heute nicht über diese Kinder gesprochen, sagt Gisela Heidenreich:
"Ich glaube, dass das in den ganzen östlichen Ländern ein ganz sensibles Thema ist, darüber zu sprechen. Von der politischen Ideologie her sowieso, aber einfach auch von dem Thema, dass Frauen sich eingelassen haben mit deutschen Soldaten, das ist immer noch eine Geschichte, über die man nicht gerne sprechen möchte, und ich fürchte, dass natürlich auch viele der Frauen vergewaltigt worden sind und dass sie darüber natürlich geschwiegen haben oder das vertuscht haben."
Gisela Heidenreich ist eine der Sprecherinnen des europäischen Netzwerks "Born of War international Network", das von Kriegskindern gegründet worden ist. Sie hat vor einigen Jahren ihr Schicksal als Lebensborn-Kind in einem Buch veröffentlicht. Zu den Forderungen der europäischen Kriegskinder gehört u.a., dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen.
"Kinder wollen ihre Wurzeln kennen, und Kinder in Anführungszeichen, die jetzt 65, 70 sind, die herausfinden, dass sie einen deutschen Vater haben, möchten auch ihre deutsche Staatsbürgerschaft, sie möchten dazugehören, sie möchten damit eine späte Anerkennung finden."
Diese Anerkennung bekommen die französischen Kriegskinder relativ einfach, nachdem ihnen vor zwei Jahren in einer Sondervereinbarung grundsätzlich die doppelte Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde. Mit den anderen Staaten gibt es noch keine entsprechende Übereinkunft. Doch jedes Kriegskind, egal in welchem Konflikt entstanden, soll ein verbrieftes Recht auf eine Staatsbürgerschaft haben. So lautet eine der Forderung von BoWiN, dem Verein Born of War international Network.
"Wir sagen: wenn wir jetzt aufarbeiten unsere eigene Geschichte. Okay, dann steht die da und kommt wieder in die Geschichtsbücher, aber es passiert ja ununterbrochen, es werden ja ständig in dieser Welt durch Kriege wieder Kinder geboren, auch von Deutschen, von Europäern, von der UNO, von diesen ganzen Ländern, die in anderen Ländern arbeiten oder auch kämpfen. Und ich denke, dass es wichtig ist, dass wir unsere Erfahrungen und unsere Ziele die wir erreichen natürlich weitergeben und vor allem, dass die Frauen in den Ländern, die jetzt wieder Kinder bekommen, ein Art Schutz bekommen, dass Frauen und Kinder, die jetzt Beziehungen zu ausländischen Soldaten haben, nicht wieder im Regen stehen gelassen werden beziehungsweise sogar verfolgt, angefeindet, bespuckt und bestraft werden."
Die Idee des Kriegskindervereins: Die UNO soll für ihre Soldaten eine Art garantierende Vormundschaft übernehmen, damit die von ausländischen Soldaten gezeugten Kinder eine materielle Absicherung bekommen.
"Wir müssen jetzt mal von den Kindern ausgehen: alle Kinder, ganz gleich, wie sie entstanden sind, sind nicht schuld, sie können nichts dafür. Sodass wir sagen: Kriegskinder sind alle Kinder, die in irgendeiner Weise mit diesem Krieg zu tun haben und aus den Kriegssequenzen entstanden sind."
Die Belgierin beruft sich dabei auf Artikel 8 der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Dort heißt es:
"Das Wissen um die eigene Identität gehört zu den Grundrechten".
Wie wichtig es ist, zu wissen, wo man herkommt, wer der eigene Vater ist, erzählen Gerlinda Swillen und Monika Benndorf-Petersen.
"Für mich ist es so gewesen, dass ich meinen Vater die ersten fünf Monate meines Lebens täglich um mich gehabt habe. Er war der Einzige, der nur glücklich war mit mir. Meine Mutter und die anderen Mitglieder meiner Familie hatten doch Probleme damit. Man sagt immer: Jede Zelle hat ein eigenes Gedächtnis, und der Körper vergisst nicht. Ich habe also immer gespürt, dass er nicht mehr da war, dass da was fehlte. Ich hatte eine große Affinität zu Deutsch, die ich mir nicht erklären konnte."
"Als ich erfuhr, wer mein Vater war, sind alle Albträume über Krieg und Verfolgung auf einmal aufgehört für mich. Es zeigt, dass es sehr wichtig ist. Meine Mutter sagte immer, wenn sie böse war: Du gleichst deinem Vater, und ich wusste immer nicht: Warum sagt sie das. Und jetzt verstehe ich auch, warum meine Beziehung zu meiner Mutter so schwierig war, sie hat eigentlich diesen ersten Liebhaber immer vor sich gesehen, das war ich."