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"Später ist mir dann klar geworden, dass es dort Schleusen gibt"

Vor 100 Jahren ist der amerikanische Schriftsteller Marc Twain gestorben. Bis heute gilt er als scharfsinniger Denker und frühes Gewissen seiner Nation. Der Mark-Twain-Neuübersetzer Andreas Nohl sagt, er wurde von den Figuren Huckleberry Finn und Tom Sawyer derart ergriffen, dass er als Kind auf einem Floß den Main und dann den Rhein entlangschippern wollte.

21.04.2010
    Dirk Müller: Jahrhundertelang galt der hallesche Komet als Unglücksbote. Als er pünktlich im Jahre 1835 wieder am Firmament erschien, wurde im Örtchen Florida in Missouri ein Knabe geboren und auf den Namen Samuel Longhorn Clemens getauft. Doch der aufgeweckte Junge war kein Unglück; er entwickelte sich zu einem scharfsinnigen Denker, einem gewitzten Schreiber der Literaturgeschichte und dem frühen Gewissen seiner Nation, die sich gerade anschickte, Weltmacht zu werden. Als er starb, heute vor 100 Jahren, war er als einer der wenigen Literaten der USA weltberühmt, wenn auch unter seinem Künstlernamen Mark Twain. "Tom Sawyers Abenteuer", "Huckleberry Finns Abenteuer", "Leben auf dem Mississippi", seine vielleicht bekanntesten Werke. Mark Twains Bücher sind immer noch internationale Bestseller, Millionen Fans gibt es auch im Jahr 2010. Darüber sprechen wollen wir nun mit dem Schriftsteller und Mark-Twain-Neuübersetzer Andreas Nohl. Guten Morgen!

    Andreas Nohl: Schönen guten Morgen, Herr Müller.

    Müller: Herr Nohl, bevor wir anfangen, hören wir doch einmal Tom Sawyer in Aktion. Tom Sawyer und seine Freunde in Aktion, in einer neuen Produktion, in einem neuen Hörspiel des Deutschlandradios. Herr Nohl, wollten Sie als Junge auch schon Tom Sawyer sein?

    Nohl: Eher Huckleberry Finn. Mich zog doch sehr das Freiheitsversprechen an und ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, mit einem Freund auf einem Floß den Main und dann den Rhein entlangzuschippern. Später ist mir dann klar geworden, dass es dort Schleusen gibt und dass das nicht sehr einfach sein würde.

    Müller: Und wie war es bei Ihnen dann?

    Nohl: Ich habe, als ich diese Bücher gelesen hatte, ja dann mich unmittelbar entschlossen, selber Schriftsteller zu werden, und die Träume oder auch die Wirklichkeit des jugendlichen Lebens hat sich dann auch in literarischer Form ein wenig niedergeschlagen. Natürlich: das Freiheitsbedürfnis von Jungen ist ja bekannt und das hatte ich natürlich auch und ich habe mich natürlich lieber im Wald herumgetrieben, zum Leidwesen der Schule und meiner Eltern. Insofern waren mir die Charaktere natürlich von meinem eigenen Inneren, von meinen Sehnsüchten und von meinen Bedürfnissen her sehr klar. Ich stand auf ihrer Seite, und das ist ja das Wunderbare bei Twain, dass er auch auf der Seite dieser Freiheit steht.

    Müller: Und Sie sind bei Mark Twain geblieben. Warum?

    Nohl: Ich bin bei Mark Twain eigentlich nicht geblieben. Ich habe dann im Laufe der Jahre, als ich dann weiter schrieb und mein Schreiben professioneller wurde, mich recht weit von Mark Twain entfernt. Dass ich nun zu Mark Twain zurückgekommen bin, hat zwei Gründe. Erstens habe ich vor einigen Jahren erstmalig vollständig die Tagebücher von Adam und Eva herausgegeben und dann hatte ich eben das Angebot vom Hansaverlag, diese beiden großartigen Romane neu zu übersetzen, und habe diese Aufgabe sehr gerne angenommen.

    Müller: Warum war das notwendig, neu zu übersetzen?

    Nohl: Wir haben uns ausführlich die vorhandenen, auch die neuesten Übersetzungen, aber auch die älteren angeschaut, und ich habe dann einfach zwei Probeübersetzungen gemacht und es war evident, wie viel näher mein Text an Mark Twains Original und auch an seinen Intentionen ist, und auch, wenn ich das sagen darf, wie viel lesbarer, besser lesbar es war, so dass der Verlag keinen Moment gezögert hat und gesagt hat, das machen wir sofort.

    Müller: Nennen Sie uns doch ein Beispiel, Herr Nohl, warum wir jetzt nun näher an Mark Twain sind, wenn wir Ihre Übersetzung lesen.

    Nohl: Es gibt sehr viele Kriterien, an denen sich das festmachen lässt, aber ich kann Ihnen ein Beispiel sagen. Es gibt dort eine Szene, übrigens finden Sie immer einzelne Stellen, wo andere Übersetzungen besser sind als wiederum andere, das ist ja ganz klar, aber ich sage Ihnen mal jetzt ein Beispiel, wo alle Übersetzungen anders sind als meine. Es ist eine Szene, wo ein Fluss-Schiffer schlafend auf einem dieser Mississippi-Dampfer sitzt, und es heißt im Englischen, "he set there like a graven image", und das wurde von allen anderen bisherigen Übersetzern übersetzt mit "er saß dort und schlief wie ein Stein". Das ist keine schlechte Übersetzung, aber "graven image" heißt eigentlich Ölgötze. Er saß dort und schlief wie ein Ölgötze. Ölgötzen sind diejenigen, sind die Jünger, die Jesus in der Nacht am Ölberg im Stich lassen, wo er solche Angst hat und seinen Vater anfleht, er möge den Kelch an ihm vorübergehen lassen, und die Jünger schlafen alle ein, sie schlafen wie Ölgötzen. Wenn Sie diesen Unterschied sehen zwischen "er schlief wie ein Stein" und "schlief wie ein Ölgötze", dann sehen Sie, was für ein weiter Atemraum sich plötzlich eröffnet, der sozusagen bis zur Bibel, bis zu einer ganz tragischen Situation zurückreicht. Natürlich: Wer das heute liest, versteht das nicht mehr unmittelbar, deswegen habe ich in meinem Anmerkungsapparat den Begriff des Ölgötzen noch mal ausführlich erklärt.

    Müller: War Mark Twain immer mehr als nur ein Abenteurer?

    Nohl: Ja. Er selber war sowieso nicht nur ein Abenteurer. Er hatte ja viele Funktionen in seinem Leben. Unter anderem war er ja ein sehr erfolgreicher Bühnenkünstler. Er hat als humoristischer Vortragskünstler mehr Geld verdient, denn als Autor. Aber vor allem sind diese Bücher sehr viel mehr als Abenteuerbücher, wenn Sie sich alleine Tom Sawyer anschauen. Tom Sawyer enthält eigentlich den ganzen Strauß der populären Literaturgenre seiner Zeit. Sie haben dort nicht nur einen Abenteuerroman, sie haben eine Robinsonade, sie haben einen Kriminalroman, sie haben Züge einer Gothic Novel, eines Gruselromans, sie haben eine Liebesgeschichte und sie haben zugleich eine dokumentarische Ebene. Das ist ja für Jugendbücher eher ungewöhnlich, dass dort ein ganzes Kapitel mit Zitaten aus den Poesiealbums-Schriften "of a western Lady" zitiert wird. Sie sehen also, Mark Twain füllt dieses Buch mit ganz, ganz vielen Ansprüchen und im Übrigen auch anders als andere Jugendbücher packt er in Tom Sawyer eine Entwicklungsphase, man kann sagen, von einem 6- bis 14-Jährigen hinein. Da erkennen Sie, was für eine Kompaktheit und Dichte dieses Buch alleine schon, also dieser Tom Sawyer als Erstlingswurf dieses Zwillingsromans schon enthält. Das geht natürlich weit über die Normalansprüche von Jugendbüchern hinaus.

    Müller: Sind seine Werke auch immer politisch gewesen?

    Nohl: Nicht vordergründig politisch. Es gibt ja verschiedene Werke natürlich. Wenn wir jetzt von diesen beiden Romanen sprechen, würde man nicht sagen, dass sie politisch sind, aber sie enthalten eine scharfe Analyse und eine scharfe Kritik gewisser Zustände in den USA. Das ist aber bei Twain eben alles en passant, das ist sozusagen Teil der Reichhaltigkeit seiner Bücher, aber er muss das sozusagen nicht vor sich hertragen wie ein Banner, sondern das passiert ihm alles so nebenher und das ist ja auch das geniale Momentum, was Twain in all seinen Werken eigentlich hat.

    Müller: Wir sprachen hier im Deutschlandfunk mit dem Schriftsteller und Mark-Twain-Neuübersetzer Andreas Nohl. Vielen Dank.

    Nohl: Ich danke Ihnen.