Sina Fröhndrich: Willkommenskultur und Zäunebauer. Kohlebefürworter und Aktivisten. Rechtsextreme und Linksautonome. Wir, auch wir Medien, lieben das Schwarz-Weiß-Bild. Auch wenn Grautöne manchmal mehr als angebracht wären. Trotzdem: Es gibt Spaltungen in der Gesellschaft - und die gab es auch schon immer. Deswegen beschäftigt sich der Historikertag in Münster auch in diesem Jahr mit dieser Frage.
Und wir sprechen darüber mit Eva Schlotheuber, Vorsitzende des Historikerverbands. Frau Schlotheuber, vielleicht umreißen wir erstmal: Was heißt Spaltung eigentlich? Geht es da um gegensätzliche Meinungen oder um wirtschaftliche Unterschiede?
Eva Schlotheuber: Ja, das ist eine gute Frage. Man könnte es einteilen in Schichtungen oder Teilungen und Spaltungen der Gesellschaft, und man kann sich natürlich vorstellen, eine homogene Gesellschaft, wo diese Phänomene nicht auftauchen, die ist natürlich gar nicht wünschenswert. Ein Dissens, ein sozialer, ökonomischer und anderer Dissens gehört einfach zu den Lebensbedingungen menschlicher Gesellschaften mit dazu. Wenn Sie mal an die Vormoderne denken in der Mittelalter-Gesellschaft, da hat zum Beispiel jeder nach eigenem Recht gelebt. Das wäre für uns heute jetzt eine sehr große Spaltung.
"Umgang mit Spaltungen spielt große Rolle"
Fröhndrich: Das wäre gar nicht denkbar.
Schlotheuber: Aber das hat man nicht so wahrgenommen. Insofern spielt bei den Spaltungen die Wahrnehmung und der Umgang mit Spaltungen eine große Rolle.
Fröhndrich: Wenn Sie jetzt sagen, Wahrnehmung und Umgang spielt eine wichtige Rolle: Was können wir denn jetzt aus der Geschichte lernen, wie wir jetzt mit Spaltungstendenzen umgehen sollten?
Schlotheuber: Man kann erstens eine gewisse Gelassenheit entwickeln, und zwar allein aus dem Grunde, weil man weiß, dass Spaltungen an Wendepunkten von Gesellschaften auftreten und, ich sage jetzt mal, auch auftreten müssen. Es ist immer auch eine Chance, Probleme grundlegend neu zu diskutieren, sich darüber auseinanderzusetzen und über die Auseinandersetzung zu einem neuen Konsens zu kommen.
Fröhndrich: Was ich jetzt daran interessant finde, ist, dass Spaltung ja dadurch durchaus was Positives ist. So haben Sie es ja beschrieben, dass das eine Chance sein kann. Wird diese denn immer erkannt?
Schlotheuber: Nein. Es gibt natürlich keine sehende Person, auch nicht eine sehende Regierung, die so was erkennt, sondern das sind einfach Prozesse, die sich in aktuellen Situationen entwickeln. Wenn so wie heute ganze Teile der Gesellschaft den Konsens ablehnen und sagen: Nein, damit sind wir nicht einverstanden, wir wollen andere Ideen verwirklichen. Dann hat das einen Grund, den man meistens ernst nehmen muss, und da werden wir in einen solchen Prozess hineingezogen, ob wir das wollen oder nicht.
Das hat aber auch eine Menge zu tun mit Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften. Wenn Sie sich zum Beispiel das europäische Mittelalter ansehen: Die großen Kämpfe zwischen Kaisertum und Papsttum haben letztlich eine ausdifferenzierte Gesellschaft hervorgebracht, die dann für die Zukunft tatsächlich in der Lage war, auch komplexe Phänomene einzelnen Gesellschaftsschichten zuzuweisen und damit eine ganz neue Kulturstufe eigentlich auch ermöglicht haben.
"Das ist eine verdeckte ökonomische Krise"
Fröhndrich: Welche Rolle spielt denn Spaltung, wenn wir das ein bisschen auf die Wirtschaft beziehen? Inwieweit können denn Spaltungstendenzen dazu beitragen, dass bestimmte Gruppen, die in der Wirtschaft vielleicht zu wenig beachtet werden, mehr beachtet werden?
Schlotheuber: Das ist eine sehr schöne Frage und auch eine sehr wichtige Frage. Tatsächlich glaube ich, dass in dem heutigen Konflikt - der ist ja sehr interessant, weil er nicht begleitet wird durch eine Rezession oder durch große wirtschaftliche Bedrängnis, sondern die Wirtschaft steht stark im Mittelpunkt, indem beispielsweise der Umgang mit Ressourcen diskutiert wird. Gleichzeitig ist es aber so, dass natürlich an dem Anstieg des Wohlstands die Gruppen sehr unterschiedlich teilgenommen haben, sodass da schon intern eine Spannung entsteht und diese Gemengelage lohnend wäre, die unter einem Wirtschaftsblickwinkel zu analysieren.
Fröhndrich: Könnten denn wirtschaftliche Antworten auch zu einer Überwindung von tiefen Gräben beispielsweise führen? Kann Wirtschaft auch die Antwort sein?
Schlotheuber: Ehrlich gesagt glaube ich das nicht nur. Natürlich, wenn eine Spaltung durch Armut entsteht, wenn es Aufstände aus Armut sind, wirklich blanker Armut - das hat es ja viel gegeben in der Geschichte: Arbeiteraufstände -, dann ist natürlich eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation, einfach um den Familien das Überleben zu ermöglichen, eine Antwort.
Fröhndrich: Solche Aufstände werden wir jetzt wahrscheinlich in der Neuzeit nicht sehen. Aber wir hatten gestern gerade eine Studie, wonach es vier Millionen Menschen gibt, die prekär beschäftigt sind.
Schlotheuber: Ganz genau. Das ist eine verdeckte ökonomische Krise und da wäre eine Chance, die wirklich aufzudecken und ernst zu nehmen und sich zu überlegen: Wie wollen wir damit umgehen? Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass wir als Gesellschaft die Räume dichtgemacht haben. Die jungen Leute kommen in eine Gesellschaft, wo Ökonomie sehr ausgeprägt ist, sehr ausdifferenziert ist, große Mitspieler, aber die Räume zum Gestalten, die fehlen den jungen Leuten.
Fröhndrich: Und da haben wir dann im Prinzip schon wieder die nächste Spaltung.
Schlotheuber: Genau.
Fröhndrich: Glauben Sie oder würden Sie sagen, dass wir heute eigentlich eine weniger gespaltene Gesellschaft vor uns haben, als es vielleicht in der Geschichte der Fall war?
Fröhndrich: Glauben Sie oder würden Sie sagen, dass wir heute eigentlich eine weniger gespaltene Gesellschaft vor uns haben, als es vielleicht in der Geschichte der Fall war?
Schlotheuber: Absolut. Der Soziologe Aladin El-Mafaalami sagt, dass diese Konflikte, die wir jetzt haben, gar nicht aus Missintegration oder zu wenig Integration resultieren, sondern dass das eigentlich eine gelungene Integration ist, die jetzt aber dazu führt, dass sehr viele verschiedene Gruppen mitreden. Dann wird der Dissens hörbar und darauf, dass neue Gruppen mitreden dürfen, reagiert natürlich der Rest der Gesellschaft, der an sich gewohnt war, bestimmte Dinge unter sich zu verhandeln.
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