Das Erstaunliche an Javier Praderas Essay "Korruption und Politik" ist, wie frisch und zeitgenössisch er sich liest. Pradera schrieb den Text bereits vor 20 Jahren, das unveröffentlichte Manuskript wurde im Nachlass des 2011 verstorbenen Journalisten gefunden. In dieser langen Zeit hat er kaum etwas von seiner Aktualität eingebüßt. Der renommierten Tageszeitung El País gilt der schmale Band als "das Beste, was es zu diesem Thema zu lesen gibt". Tatsächlich hebt sich Praderas politikwissenschaftlicher Aufsatz wohltuend von der jüngst erschienenen Korruptionsliteratur, von Werken im Kriminalreportagestil oder schnell gestrickten Anthologien, ab. Pradera geht es weniger um die Darstellung besonders skandalöser Fälle, sondern um die Frage, wie Korruption in Spanien zum festen Bestandteil des Systems wurde.
"Der größte Knoten, den es (...) zu lösen gilt, ist der der institutionalisierten Korruption. Korruption (...) gilt hier einfach als ein anderes Mittel der Politik. Wenn die Empfänger unrechtmäßiger Einkünfte keine Individueen, sondern juristische Personen sind, also Parteien oder Gewerkschaften, dann empfinden die Akteure ihr Handeln nicht als kriminell, sondern als Dienst an der demokratischen Sache."
Kritische Betrachtung der Rolle der Parteien
Pradera versucht, aufzudröseln, was moderne Demokratien prinzipiell korruptionsfreundlich macht und liefert dabei immer wieder Indizien, die miterklären, warum das Übel gerade jenseits der Pyrenäen so ins Kraut schoss. Dabei konzentriert er sich auf die Rolle der Parteien, deren Einfluss auf Staat und Politik in den 80er- und 90er-Jahren rapide wuchs – während sie sich von der Gesellschaft immer weiter entfernten.
In Spanien, das sich erst in den Jahren nach Francos Tod, zwischen 1975 und 1978, zu einer modernen parlamentarischen Demokratie entwickelte, vollzog sich diese Verselbstständigung der Parteien noch ein wenig schneller und umfassender als beispielsweise in Frankreich oder Italien. In ihrer Gründungsphase versuchte die junge Demokratie, die unter Franco jahrzehntelang verbotenen Parteien zu stärken, subventionierte sie großzügig, sowohl für den Wahlkampf wie auch für das Alltagsgeschäft. Und setzte ganz auf ein System geschlossener Listen, bei dem Namen und Abfolge der Kandidaten von der Parteizentrale festgelegt werden. Spaniens Parteien wuchsen so zu mächtigen Apparaten heran, die nicht nur die Politik, sondern bald auch die Verwaltung durchdrangen. Eine öffentliche Kontrolle gab es kaum: Spanien genoss lieber frisch erworbenen Wohlstand und Freiheit in Zweitwohnungen an der Küste.
"Die Verfassung und das Erschaffen eines institutionellen Rahmens hatten Vorrang vor dem Aufbau von demokratischen Werten. In Spanien hat man manchmal das Gefühl, wir leben in einer Demokratie ohne Demokraten. Im Spätfranquismus und während der Transition wollte man eine politische Demobilisierung. Vermutlich ist die Distanz zwischen Gesellschaft und Politik ein Erbe dieser Zeit."
Wirtschaftsboom als Ausgangspunkt
Was die Korruptionsspirale schließlich in Gang setzte, war Pradera zu Folge der Wirtschaftsboom. Die öffentlichen Ausgaben stiegen rapide. Autobahnen, Schienennetze, Wohnanlagen, Hotel- und Geschäftslizenzen: In der zweiten Hälfte der 80er-Jahre tätigte die öffentliche Hand über die Hälfte aller Investitionen, sagt Fernando Vallespín. Der Politikwissenschaftler und Freund des verstorbenen Autors hat das Vorwort für den Band geschrieben.
"Die Institutionen, die diese Gelder verwalten, sind und waren in der Hand zweier Parteien, der sozialdemokratischen PSOE und der konservativen Volkspartei PP beziehungsweise der nationalistischen Parteien im Baskenland und in Katalonien. Diese ohnehin schon umfassende Parteienherrschaft vergrößert sich noch durch den Ausbau der regionalen Strukturen, des spanischen Staates der Autonomien. Die Ausgaben der Parteien stiegen ständig, sie suchten nach neuen Einnahmequellen und entdeckten sie schließlich bei den Kommunen, durch die Konzession von Baugenehmigungen. Das ist der Anfang vom Ende."
Wege zu einer Verbesserung
Der Anfang vom Ende, also der Immobiliencrash und der profunde Vertrauensverlust, den Spaniens Politiker dadurch erlitten, war für Autor Javier Pradera noch nicht abzusehen. Erst die Krisenjahre rückten die Missstände ins öffentliche Bewusstsein, dann aber massiv: Derzeit stapeln sich auf den Schreibtischen von Spaniens Richtern 1.661 Korruptionsverfahren. Junge Parteien wie die linke Podemos haben die Kritik am spanischen Parteiensystem, am "Regime von 1978 und seiner politischen Kaste" zu einem zentralen Bestandteil ihres Programms gemacht. Vieles von dem, was sie kritisieren, findet sich detailreich in Praderas Buch beschrieben. Als allumfassende Kritik an der Transition will Vallespín Praderas Nachlass dennoch nicht verstanden wissen.
"Die Transition jetzt schlecht zu reden, ist Opportunismus von denjenigen, die nicht Teil des Systems sind. Natürlich hatte unser System Geburtsfehler, und wir hätten die Parteienherrschaft viel früher beenden sollen. Aber da war der Widerstand von PP und PSOE, der Nutznießer des Systems zu groß. Der eigentliche Skandal sind heute die gesperrten Listen. Politiker sollten nur unter der Prämisse kandidieren, dass sie bei Verdacht auf Korruption auch von der Liste gestrichen werden können."
Lösen lasse sich der Knoten der institutionalisierten Korruption nur durch eine Verfassungsreform, sagt Vallespín, durch eine zweite Transition. In der öffentlichen Debatte wird das schon seit Längerem gefordert – und im Wahljahr 2015 scheint sich diese Einsicht langsam auch bei einigen Sektoren der großen spanischen Volksparteien durchzusetzen. Javier Pradera hätte das vermutlich gefreut.
Buchinfos:
Javier Pradera: "Corrupción y Política. Los costes de la democracia", Galaxia Gutenberg S.L., 260 Seiten, Preis: 31,20 Euro, ISBN: 978-8-416-07256-9
Javier Pradera: "Corrupción y Política. Los costes de la democracia", Galaxia Gutenberg S.L., 260 Seiten, Preis: 31,20 Euro, ISBN: 978-8-416-07256-9