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Spanien
Gewerkschaften protestieren gegen Sparpolitik

Über ein Viertel aller Spanier sind weiterhin arbeitslos. Die Gewerkschaften protestieren immer wieder gegen die Sparpolitik und rufen nach einem Marshallplan für Südeuropa. Wenige Wochen vor den Europawahlen fordern sie lautstark ein europäisches Investitionsprogramm zur Schaffung von Arbeitsplätzen.

Von Hans-Günter Kellner |
    "Propaganda", "Lüge", "Taschenspielertricks". Wer in Spanien nach den jüngsten Erfolgsmeldungen über die wirtschaftliche Entwicklung des Landes fragt, erntet Hohn und Unverständnis. Auch Nerea, Itziar und Sonia spüren den Aufschwung am Arbeitsmarkt nicht – empfinden ihre aktuelle Lage als deprimierend:
    "Mein Vater bekommt jetzt kein Arbeitslosengeld mehr, nur noch eine Unterstützung von 400 Euro. Meine Mutter verdient noch 600 Euro als Museumswärterin. Ich habe noch einen jüngeren Bruder. Luftsprünge können wir uns derzeit nicht leisten."
    Immerhin: Noch sind die drei 20 Jahre alten Freundinnen in der Ausbildung und machen dafür gerade ein unbezahltes Praktikum in einer Gemeindeverwaltung. Aber ein Anschlussvertrag ist für Itziar nicht in Sicht. Frei werde Stellen werden derzeit nicht besetzt:
    "Auch mit Hochschulabschluss ist es nicht leichter. Da kannst du noch so viel studieren und einen Master nach dem anderen machen. Du musst das Land verlassen. Hier gibt es keine Arbeit, auch nicht für die höher Qualifizierten."
    Die Beschäftigten einer großen Hotelkette ziehen mit dem Demonstrationszug vorbei. Das Unternehmen droht dem kompletten Zimmerservice mit Entlassungen, wenn die Mitarbeiter nicht auf die Hälfte ihres Einkommens verzichten. Unter den Demonstranten auch viele Rentner: Sechs ihrer sieben Enkelkinder seien ohne Arbeit, berichtet diese ältere Dame:
    "Keine Arbeit, auch nicht für höher Qualifizierte"
    "Ich kenne einige Familien, die von der Rente der Großeltern leben. Manche holen ihre alten Leute sogar wieder aus den Altersheimen zu sich nach Hause, weil die Rente das einzige Einkommen der Familie ist. Und ich kenne viele solcher Fälle."
    Die Gewerkschaften, für die die Kundgebung in Madrid nur der Auftakt zu einem europaweiten Aktionstag war, rufen nach einem Marshallplan für Südeuropa, fordern ein europäisches Investitionsprogramm zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Die Angst vor solchen kostspieligen Vorhaben und steigender Inflation habe in Spanien direkt ins Gegenteil geführt - in die Deflation, zu sinkenden Preisen, sagt Gewerkschaftssprecher Toni Ferrer:
    "Was hat die Europäische Union denn gemacht? Ihre Politik hat zu 27 Millionen Arbeitslosen geführt, zur Perspektivlosigkeit für acht Millionen Jugendliche. Darum demonstrieren wir. Und das soll sich auch auf die Europawahlen am 25. Mai auswirken. Entweder bekommt Europa eine Wirtschaftsregierung oder Europa hat keine Zukunft."
    "Schrei des Südens nach Würde"
    Allerdings: Mehr als ein paar Tausend Menschen nahmen an der Kundgebung nicht teil. Das heißt nicht, dass die Kritik an der Sparpolitik keine Mehrheit fände. Vielmehr ist in Spanien das Misstrauen gegenüber allen politischen Institutionen - und damit auch gegenüber den Gewerkschaften - stark gewachsen. Alternative Protestbewegungen geben immer häufiger den Ton an - und hoffen auch auf möglichst viele Proteststimmen bei der Europawahl. Neben den Sozialisten werben Ende Mai vier linke Formationen um Stimmen. Die jüngste Partei heißt "Podemos" - Pablo Iglesias ist ihr Sprecher:
    "Wir Südeuropäer wollen nicht zu einer Kolonie werden, wir wollen den Reichen nicht das Bier zapfen und Häppchen servieren. Unsere jungen Leute müssen unter prekären Bedingungen arbeiten, um wettbewerbsfähig zu werden. Wir wollen ein Europa, das auch dem Süden seine Würde lässt. Als Europa-Abgeordneter würde ich den linken griechischen Politiker Alexis Tsipras zum Kommissionspräsidenten wählen. Er verkörpert für mich den Schrei des Südens nach Würde und auch die Hoffnung, dass man anders regieren kann."
    Die Demoskopen tun sich noch schwer mit der sich rasch wandelnden politischen Landschaft in Spanien. Verlässliche Umfragewerte fehlen für die neuen Parteien. Aber die beiden großen Volksparteien, die regierenden Konservativen auch wie die Sozialisten, kommen in den Umfragen des staatlichen Meinungsforschungsinstituts CIS nicht mehr über jeweils 12 Prozent hinaus.