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Spanien
"Hebdo"-Anschlag weckt schreckliche Erinnerungen

Der Terroranschlag auf die Redaktion der französischen Satire-Zeitschrift "Charlie Hebdo" erinnert viele Spanier an das schreckliche Attentat im Jahr 2004 in der Madrider U-Bahn. Auch damals stellte sich die Frage: Wie mit dem Terror umgehen? Die schnelle Rückkehr zur Normalität wurde zum Akt des Widerstands.

Von Hans-Günter Kellner |
    Lange Schlangen bei der Sicherheitskontrolle im Madrider Bahnhof Atocha beim Check-in zu den Hochgeschwindigkeitszügen nach Barcelona, Málaga oder Sevilla. Die sonst nur von Flughäfen bekannten Sicherheitskontrollen auf Spaniens Bahnhöfen gelten seit den Terroranschlägen auf die Madrider S-Bahnen von 2004. Doch die Kontrollen gelten nur für Fernzüge, nicht für Nahverkehrszüge. Auch Juan fährt wieder Zug. Dabei hat er die Anschläge von Madrid hautnah miterlebt:
    "Mich haben die Bomben im Bahnhof von El Pozo erwischt. Ich habe noch die Narbe am Kopf. Ich habe den Verletzten geholfen. Aber ich habe keine psychologischen Probleme, den Zug zu nehmen. Was soll ich auch sonst machen? Ich muss ja zur Arbeit. Außerdem kann man nicht ständig mit der Angst im Kopf leben. Das wollen diese Leute doch."
    Durch die ETA an den Terrorismus gewöhnt?
    So fuhren die S-Bahnen in Madrid schon am 12. März – also nur einen Tag nach den Anschlägen - wieder nach Fahrplan. Absichtlich änderten die Menschen ihre Lebensgewohnheiten nicht – denn Terrorismus funktioniert ja nur, wenn er Schrecken verbreitet. Für die Menschen wurde die schnelle Rückkehr zur Normalität so zum Akt des Widerstands. Die Spanier haben Erfahrung mit Anschlägen, meint der Politologe Fernando Vallespín vom angesehenen "Ortega y Gasset-Institut" rückblickend:
    "Spanien ist gewissermaßen an den Terrorismus gewöhnt. Das ist nicht wie in Holland oder Frankreich, wo ein Toter etwas Spektakuläres ist. In den 80er-Jahren haben wir oft mit Radiomeldungen von Anschlägen gefrühstückt, bei denen die baskische ETA Menschen getötet hat. Natürlich waren das in diesem Fall besondere Attentate, aber Terroranschläge waren schon seit Mitte der 70er-Jahre nichts Außergewöhnliches."
    Nach dem 11. März 2004 wurde zwar ein Untersuchungsausschuss gebildet, doch der konzentrierte sich vor allem auf Ermittlungsfehler bei den unterschiedlichen Polizeieinheiten, die im Vorfeld der Anschläge ihre Erkenntnisse über den Handel mit Sprengstoff und Drogen nicht austauschten und so den Attentätern in die Hände spielten. Schärfere Gesetze hielt zunächst niemand für notwendig.
    "Wir haben ja schon sehr harte Gesetze. Auch das hängt mit dem jahrelangen Terror der ETA zusammen. Unser ganzer Rechtsstaat war auf diesen Terrorismus ausgerichtet. Es gibt ein Sondergericht, den Nationalen Gerichtshof, Sondergesetze. Das ist etwas anderes als in anderen Ländern, wo der Rechtsstaat diese Mechanismen gar nicht benötigt."
    Fernando Reinares meint dagegen, dass Spaniens Gesetze lange Zeit zu locker waren und so ermöglicht haben, dass heute rund 70 Spanier in Syrien und im Irak auf der Seite des Islamischen Staats kämpfen. Der Politologe ist der bekannteste spanische Experte in Terrorfragen. Er warnte schon vor 2004 vor möglichen Anschlägen in Spanien. Jetzt hat Reinares den Wandel des Dschihadismus in Spanien seit 2002 untersucht:
    "Viele der unter dem Terrorvorwurf Festgenommenen übernehmen Funktionen, die in Spanien lange Zeit nicht strafbar waren. So wurde zwischen 2002 und 2012 auch nur einer von fünf Verhafteten verurteilt. Vier von fünf wurden frei gesprochen. Erst seit 2010 haben wir im Strafrecht den Begriff 'Terrorgruppe' besser definiert, sind wie in unseren Nachbarländern auch Anwerbung und Ausbildung strafbar."
    Keine Vergeltungsaktionen gegen Muslime
    Am Auffälligsten war für viele Beobachter 2004 die Reaktion der Bevölkerung gegenüber muslimischen Einwanderern. Es blieb friedlich, es kam nicht zu Vergeltungsaktionen, auch wenn rechtsradikale Gruppierungen eine islamfeindliche Stimmung zu schüren versuchten. Fernando Vallespín sieht dafür einen konkreten Grund:
    "Die Reaktion der Politik hatte das Verhalten auf der Straße stark beeinflusst. Alberto Ruíz Gallardón, damals Madrider Bürgermeister, traf sich nur einen Tag später öffentlich und vor laufenden Kameras mit den Geistlichen der großen Moscheen Madrids. Natürlich war das eine Inszenierung, es sollte zeigen: Das war ein islamistischer Anschlag, aber kein Anschlag des Islam. Diese Geste des Bürgermeisters war eine Aktion politischer Führung."
    Und eine ähnliche Geste empfiehlt Vallespín jetzt auch den Verantwortlichen in Frankreich.