"Votarem!" "Wir werden wählen": Der trotzige Ruf ertönt hundertfach auf den Demonstrationen dieser Tage. Mittelschichts-Damen mit sorgfältig ondulierter Dauerwelle skandieren ihn ebenso wie junge Leute. "Der erste Oktober wird unsere Zukunft bestimmen", sagt Ferran Piqué, 18 Jahre alt, und hängt sich eine Estelada, die mit einem weißen Stern auf blauem Dreieck verzierte, katalanische Unabhängigkeitsfahne um die Schulter.
"Ich habe mich immer als Katalane gefühlt. Katalonien ist eine Nation, daran gibt es doch keinen Zweifel. Aber wenn ich das sage, dann geht es nicht um Nationalismus, sondern um das Recht auf Selbstbestimmung, auf Demokratie."
Der Politikstudent im ersten Semester ist mit den Großdemonstrationen der letzten Jahre aufgewachsen. Das "Recht auf Selbstbestimmung", das dabei reklamiert wurde, ist für ihn eine Selbstverständlichkeit:
"Neulich hat ein spanischer Minister einen Fiskalpakt angeboten, wenn wir auf ein Referendum verzichten. Das beweist doch, dass sie nichts verstanden haben. Was wir wollen, ist wählen."
Zweifel an der spanischen Justiz
Dass die spanische Verfassung das nicht vorsieht, ist für Ferran Piqué kein Argument. Das spanische Verfassungsgericht habe seine Legitimität eingebüßt. Diese Einschätzung teilen viele Katalanen.
Den enormen Vertrauensverlust in die spanischen Institutionen erklärt Politikwissenschaftler Jordi Amat mit dem Gerangel um das katalanische Autonomiestatut:
"Die Hauptursache für diesen Legitimitätsverlust ist das Urteil gegen das katalanische Autonomiestatut: Das wurde 2010 nach seiner Annahme durch das Parlament und nach einem Referendum, also quasi in der Nachspielzeit, auf Initiative der konservativen Volkspartei zusammengestrichen. Dieser Schritt hat die gesamte Architektur des spanischen Verfassungssystems ins Wanken gebracht. Und die dafür verantwortliche konservative Volkspartei - die für ihre Zweifel sogar legitime Gründe hatte - wusste darauf keine Antwort."
Madrids harsche Verteidigung von Recht und Gesetz, die Geldstrafen und Verhaftungen führender Politiker, das massive Polizeiaufgebot in den letzten Tagen hat die Bewegung nicht geschwächt, sondern im Gegenteil beflügelt.
José-Miguel Sanjuan, Projektmanager bei einem Forschungsinstitut, hatte bis vor kurzem mit dem Traum von der katalanischen Republik nichts am Hut und wollte am umstrittenen Referendum nicht teilnehmen oder mit Nein stimmen. Jetzt hat er sein Votum geändert - aus Protest:
"Ich hätte nie gedacht, dass es soweit kommt. Was mich am meisten schockiert hat, waren die Verhaftungen letzte Woche im Wirtschaftsministerium. Das war völlig unverhältnismäßig. Da ging es nicht darum, ein Referendum zu verhindern, sondern ein Exempel zu statuieren."
Zweifel an der Madrider Regierung
Um ein Referendum zu verhindern, kontrolliert die spanische Regierung auch die Konten der katalanischen Regionalregierung Generalitat. Die Folgen hat der Projektmanager unmittelbar zu spüren bekommen. Sein Forschungszentrum untersteht der Regionalregierung, benötigt jetzt selbst für die Bestellung von Druckerpatronen eine offizielle Genehmigung:
"Wenn die spanischen Institutionen, so reagieren, dann erfüllen sie einfach ihre Funktionen nicht mehr. Natürlich muss der Staat auf die Einhaltung der Gesetze achten, aber Spanien hat sich als Staat delegitimiert. Die Regierung ist korrupt, das Verfassungsgericht politisiert, die Monarchie hat ihr Prestige eingebüßt. Vielleicht muss man tatsächlich etwas Neues machen."
Was das sein könnte? Schulterzucken. In Katalonien ist nicht nur das Vertrauen in die spanischen Institutionen, sondern auch in die parlamentarische Demokratie ins Wanken geraten, glaubt Politikwissenschaftler Jordi Amat: Das Festhalten am einseitigen Unabhängigkeitsreferendum sei zuvorderst eine - erfolgreiche - Strategie der Mobilisierung, keine echte Wahl. Aus der verfahrenen Situation sieht er nur einen Ausweg:
"Der sinnvollste Ausweg wäre eine Verfassungsreform, aber dafür bleibt jetzt keine Zeit mehr. Das ist die große politische Unverantwortlichkeit der Politik. Die andere Lösung wäre ein katalanisches Parlament, das mit einer qualifizierten Mehrheit ein vereinbartesReferendum auf den Weg bringt, nicht mit der spanischen Regierung, aber vielleicht gemeinsam mit der EU. Es geht schließlich auch um die europäische Stabilität."