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Spaniens Empörte in den Vierteln

Am 15. Mai 2011 demonstrierten tausende Jugendliche in Madrid, Barcelona und anderen Städten gegen politische Missstände. Als Folge aus dieser Bewegung der "Empörten" ist in Spanien ein Netzwerk aus Nachbarschaftsinitiativen, lokalen Bürgerbewegungen und politischen Plattformen entstanden.

Von Julia Macher |
    Roger Pujol steht vor einer zwei Meter hohen Mauer mitten in Barcelona. Dahinter: ein 5000 Quadratmeter großes Grundstück. Seit zehn Jahren liegt es brach. Zwischen dem Gestrüpp verrotten ein paar Müllsäcke. Geht es nach Roger Pujol, sollen hier schon bald Tomaten und Bohnen wachsen, Kinder Fußball spielen, Nachbarn beim Kaffeeklatsch sitzen. Der arbeitslose Architekt hat gemeinsam mit Anwohnern und Aktivisten einen Bebauungsplan erarbeitet – und von der Stadtverwaltung genehmigt bekommen.

    "Wir hätten das Gelände besetzen können, dann wären wir aber nach zwei Wochen wieder draußen gewesen. Also haben wir Straßenfeste und Workshops für die Anwohner veranstaltet und so genügend Unterstützung bekommen, um auch mit der Stadtverwaltung verhandeln zu können. Für mich liegt die Bedeutung des 15. Mai eben in solchen Projekten wie diesem Garten."

    Ein lokales Projekt zur Lösung eines ganz konkreten Problems, getragen von der Nachbarschaft: Bis vor Kurzem waren solche zivilgesellschaftlichen Initiativen in Spanien absolute Ausnahme. Dass sie existieren – und jetzt, wo an allen Ecken und Enden gespart wird, für etwas Luft sorgen - ist auch ein Ergebnis des 15. Mai. Denn die Bewegung der "Empörten" ist von den Plätzen in die Viertel gewandert.

    Allein in Barcelona gibt es in 27 Stadtvierteln wöchentliche "Asambleas", offene Bürgerversammlungen. Von fehlenden Grünflächen bis zu drohenden Zwangsräumungen: Verhandelt wird alles, was die Menschen unmittelbar bewegt. Die Teilnehmer sind zum großen Teil keine alten Haudegen, sondern Neulinge in Sachen Politik.

    "Für Leute wie mich, die schon vorher politisch aktiv waren, war es einfach überwältigend, dass so viele etwas unternehmen wollten. Überall gab es neue Leute."

    Sagt Enric Pons. Der Betriebswirt ist Mitglied der Plattform für ein Schuldenaudit, also für eine Offenlegung und Überprüfung der Staatsschulden. Fast jede Woche veranstaltet die Gruppe Podiumsdiskussionen, in denen sie erklärt, wieviel Privatschulden von Unternehmen und Banken in Spaniens öffentlichem Defizit stecken und warum die Sparpolitik der falsche Weg aus der Krise ist.

    Die Plattform hat Gebrauchsanweisungen erstellt, wie Bürger bei den Behörden und staatlichen Einrichtungen am besten erfragen können, was genau mit ihren Steuergeldern passiert. Denn es geht nicht allein um Aufklärung, sondern auch um Mitspracherechte der Bürger bei Schuldenkontrolle und Budgetierung - auf kommunaler, regionaler und staatlicher Ebene.

    "Langsam dringt unsere Argumentation zur Politik durch. Es gibt jedesmal mehr Parteien, die in ihrem Programm eine öffentliche Schuldenkontrolle fordern – den Zusatz 'durch die Bürger' vergessen sie dabei zwar noch, aber immerhin ist das Thema gesetzt."

    Neuen Schwung hat der 15. Mai auch bereits bestehenden Bewegungen verliehen: Der Plattform der Hypothekengeschädigten etwa. Sprecherin Ada Colau:

    "Viele der Empörten haben damals nach konkreten Möglichkeiten gesucht, sich zu engagieren. Und die Plattform der Hypothekengeschädigten mit ihrer bereits bestehenden Struktur, ihren konkreten Lösungsvorschlägen, bot genau das. Das war ein perfektes Zusammentreffen. Auch für uns: Denn wir brauchen diese breite Unterstützung durch Nachbarschaftsversammlungen, zum Beispiel um Zwangsräumungen zu stoppen."

    Wenn die Aktivisten in ihren grünen T-Shirts heute Banken besetzen, etwa um die Neuverhandlung von unfairen Verträgen zu sichern, ist ihnen der Applaus der Passanten – und solidarisches Hupen der Vorbeifahrenden - sicher. In Spanien genießt die Plattform inzwischen großes Vertrauen. Die politischen Parteien hingegen werden skeptisch beäugt.