"Im Januar wollte ich mich mal wieder zurückbesinnen und habe angefangen, Bücher über Luthers Reformation gelesen. Ich war beeindruckt, die Wirkung war doch enorm, nicht nur im Religiösen, auch gesellschaftlich und politisch. Das führte zu so unglaublich großen sozialen Veränderungen! Das hat die ganze Gesellschaft in ihren Fundamenten erschüttert."
Margarita Sampol sitzt im Büro ihrer evangelischen Kirchengemeinde in Palma, einer von knapp 4.000 in ganz Spanien. Die Iglesia Cristiana Evangélica ist im Erdgeschoss eines Wohnblocks untergebracht, mitten in der Stadt. Bis zu 400 Menschen treffen sich hier zum Gottesdienst. Margarita Sampol gehört den Charismatikern an, einer freikirchlichen Bewegung. Sie bereitet einen Vortrag über Martin Luther vor – und über das, was seine Lehre ihr bedeutet:
"Es geht nicht so sehr darum, die Reformation zu feiern, um Luther zu verherrlichen. Es ist viel wichtiger, die Grundlagen seiner Theologie zu leben. Zum Beispiel in der Arbeit: Wir sollten sie nicht als Last empfinden, sondern unsere Einstellung dazu ändern und sie als Dienst am Nächsten sehen."
Protestantische Arbeitsethik für Spanien. Das befürwortet die 52-jährige Englischlehrerin. Sie steht nicht allein. Während immer mehr Spanier der katholischen Kirche den Rücken kehren, haben die evangelischen Kirchen in Spanien Zulauf. Die Zahl der Gemeinden hat sich seit der Jahrtausendwende verdoppelt.
Protestanten wurde es schwer gemacht
Die meisten gehören evangelikalen, freikirchlichen Strömungen an, die seit dem 18. Jahrhundert entstanden sind: Pfingstkirchler, Baptisten, Charismatiker, Anhänger der Church of Philadelphia oder der Asamblea de Hermanos. Sie sind Luthers Lehre verbunden, aber sie haben - aus ihrer Sicht - die Reformation weiter reformiert. Sie sind im evangelischen Kirchenverband Spaniens vereint. Der gehört zum Weltkirchenrat und zum Reformierten Weltbund, der evangelische Kirchen in 107 Ländern vertritt, vor allem der südlichen Erdhalbkugel.
In Spanien konnten sich Luthers Ideen erst spät verbreiten. Zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert verfolgte die Inquisition alle, die nicht dem katholischen Glauben angehörten oder dessen offizielle Auslegung hinterfragten. Der Katholizismus prägte alles, den Glauben, das Gedankengut, die Regeln des Zusammenlebens. Und noch während der Franco-Diktatur im 20. Jahrhundert war der Katholizismus Staatsreligion.
Raquel Díaz, die wie Margarita Sampol der evangelischen charismatischen Kirche in Palma angehört, erzählt, was ihre Familie in den 1940er Jahren erlebt hat:
"Die Generation meiner Großeltern lebte in einem kleinen Dorf. Protestanten bekamen keine Arbeit, die Kinder durften nicht zur Schule. Zu Gottesdiensten trafen sie sich nachts, privat, in einem ihrer Häuser. Ach ja, und dann die Sache mit den Toten. Schrecklich: Als meine Großmutter starb, schickte der Pfarrer jemanden, um die Leiche abzuholen. Wir durften sie weder verabschieden noch beerdigen. Sie verscharrten sie einfach auf freiem Feld."
Seit 1978 hat Spanien eine demokratische Verfassung, die die Religionsfreiheit garantiert. Seitdem haben es die Protestanten leichter. Mariano Blázquez ist der Vorsitzende des Verbandes evangelischer Kirchengemeinden:
"Unser großes Problem hier ist, dass wir eine unverstandene Minderheit sind. 500 Jahre lang wurde hier anti-evangelische Propaganda verbreitet. Wir haben hier in der Bibliothek Bücher, in denen steht, es gebe in London mehr Selbstmorde als in Rom, weil Rom katholisch und deswegen besser als das protestantisch, anglikanische London. Mit so was sind wir permanent bombardiert worden."
Pluralismus und Integration als Zukunftsgaranten
1992 hat der Staat schließlich ein Kooperationsabkommen mit religiösen Minderheiten unterzeichnet: Protestanten, Juden und Moslems sind seitdem mit den Katholiken gleichgestellt – auf dem Papier zumindest. Für Blázquez ist das Reformationsjahr nun eine Gelegenheit, um das zu verbessern:
"Wir arbeiten seit zwei Jahren am Programm zum 500. Jahrestag der Reformation. Es soll zurückhaltend, aber doch öffentlichkeitswirksam sein. Dabei haben wir beobachtet, dass es ein echtes Interesse gibt. Das hat mit dem Papst zu tun, er ist offen, und das wirkt sich positiv auf die katholische Kirche Spaniens aus. Die waren lange sehr unkooperativ. Aber jetzt spüren wir, dass es da mehr Neugierde gibt. Die evangelische Kirche wird nicht mehr als der große Feind der Heimat angesehen."
Spaniens Protestanten erstarken also: in ihrer gesellschaftlichen Position, aber auch zahlenmäßig. Immigranten aus mehr als 40 Ländern gehören zur spanischen evangelischen Kirche:
"Sie kommen mit einem Enthusiasmus und einer Hingabe, die uns oft fehlen. Die Zukunft der evangelischen Kirche, nicht nur in Spanien sondern weltweit, liegt im Pluralismus und in der Integration, auf einer gemeinsamen Grundlage. Manchmal sind unsere Kirchen zu einheitlich: Die Mitglieder gehören derselben Kultur an, haben dieselbe Hautfarbe, sprechen dieselbe Sprache. Und oft blicken wir dabei auf die anderen herab."
Das Reformationsjubiläum steht in Spanien also im Zeichen der Vielfalt. Die Iglesia Evangélica Española lädt Protestanten aus vielen Ländern ein - auch die Vertreter traditioneller evangelischer Kirchen, Lutheraner und Reformierte und die Evangelische Kirche in Deutschland. Viele lehnen die neueren, evangelikalen Strömungen ab. Sie seien "nicht richtig evangelisch". Blázquez schmerzt das:
"Wir brauchen die Kirchen aus Deutschland, wo sie viel begonnen hat. Wir wünschen uns, dass sie sagen, wir sitzen alle im selben Boot."