Angel Castro ist stolz auf Melilla. Nicht auf die täglichen Tragödien an den sechs Meter hohen Grenzzäunen. Sondern stolz auf die Gründerzeit. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts flüchteten Juden aus vielen Teilen Nordafrikas vor Pogromen - nach Melilla. Sie hinterließen ein beeindruckendes architektonisches Erbe, sagt Angel Castro beim Spaziergang durch die Stadt. Der Historiker bleibt vor einem fünfgeschossigen Haus mit einer großen, in eiserne Schmiedearbeiten gefassten Glasfassade stehen.
"Dieses Jugendstilgebäude wurde zwischen 1910 und 1920 errichtet. Melilla wurde damals ausgebaut. 90 Prozent der Bauten finanzierten die jüdischen Siedler. Sie beauftragten einen katalanischen Architekten, Enrique Nieto. Er brachte den Jugendstil nach Melilla. So entstand auch dieses Haus. Und weiter vorne haben wir die Synagoge."
Insel wird immer verschlossener
Neomudejar nennt sich der Baustil mit schlanken Säulen an der Außenfassade und kombiniert mit den typischen arabischen Rundbögen. Unter jedem davon der Davidstern. Angel Castro unterrichtet er an der Universität Geschichte, hat aber auch einen Roman über seine Stadt geschrieben. Dort steht eine jüdische Familie im Zentrum. Einst feierten Juden, Muslime und Christen ihre religiösen Feste gemeinsam. Doch die Zeiten ändern sich, sagt Castro nachdenklich:
"Das ist schon merkwürdig. Die Juden waren immer die liberalsten in dieser Stadt. Ihre Feiern standen uns immer offen. Nur Jom Kipur nicht, das wurde ernster genommen. Jetzt werden sie immer verschlossener. Aber auch Muslime und Christen feiern mehr für sich. Es geht wohl darum, den inneren Zusammenhalt zu stärken. "
Castro ist 58 Jahre alt, kräftig und trägt einen breiten Schnauzbart. Er überquert die Straße und geht zu einem Platz am Fuße einer alten Festungsanlage. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war die Stadt nicht mehr als dieser Felsen, dann dehnte sie sich auf das flache Land davor aus. Bis zu 30.000 Soldaten waren hier einst stationiert.
"Das Franco-Regime hatte immer Angst davor, dass die Muslime zu einer Art fünften Kolonne werden, einen Anschluss Melillas an Marokko vorantreiben könnten. Das ist völlig unbegründet. Sie gehen gerne nach Marokko, feiern dort. Und sie wollen ihre Berber-Sprache pflegen, das Tamazit. Aber sie wollen keine Marokkaner werden. Solche Ängste gibt es auch nicht mehr."
Trotzdem kochten die Wogen hoch, als 1999 mit Mustafa Aberchán erstmals ein Muslim Ministerpräsident der Stadt wurde. Eine Koalition aus Parteien von links bis rechts setzte ihn nach nur einem Jahr wieder ab.
Muslime und Christen auf einer Insel
Castro setzt sich in eines der vielen Cafés und bestellt sich einen Milchkaffee. Das Zusammenleben von Katholiken, Juden und Muslimen, die Kultur, die Architektur - seine Stadt sei so viele Gesprächsthemen wert. Doch letztlich ende man immer bei den Zäunen, sagt er frustriert.
"Früher war das einfach nur eine Grenze. Bis 1998 gab keinen Zaun. Die Marokkaner wissen, dass es ihnen nichts bringt, nach Melilla zu kommen. Aber für die Westafrikaner ist Melilla ein wichtiges Etappenziel auf dem Weg nach Europa. Jetzt mit dem Zaun ist das Leid groß. Wenn die Übergänge mal wieder geschlossen werden, weil es dort mal irgendein Problem gegeben hat, können die Marokkaner nicht zum Arbeiten hierher und es gibt keinen Warenverkehr."
Die Seite des Zauns ist entscheidend fürs Leben
Die spanische Regierung fliegt die Westafrikaner alle vier, fünf Monate auf die Iberische Halbinsel aus, wenn das Flüchtlingslager mal wieder völlig überfüllt ist. Man müsste einmal ausprobieren, was die Westafrikaner machen würden, wenn sie in Melilla bleiben müssten, meint Castro, zündet sich einen Zigarillo an und gibt sich selbst die Antwort: Zehntausend Flüchtlinge würden wohl sicher bleiben. So rechtfertigen die meisten in Melilla, wie sich ihre Stadt gegen die Flüchtlinge abschottet - und haben trotzdem ihre Zweifel. Auch Castro:
"Es ist empörend: Entscheidend ist, ob du auf der einen Seite oder der anderen des Zauns zur Welt kommst. Alles hängt davon ab. Niemand kann etwas dafür, wo er geboren wird. Trotzdem lässt sich das ganze Elend so zusammenfassen. Dein ganzes Leben, deine Wissenschaft, deine Literatur hängen von 100 Metern ab. Die Welt hat keinen Schritt nach vorne gemacht, seit der Zeit der Chaldäer im Altertum bis heute. "
Surreal scene of migrants atop Spanish border fence http://t.co/dXeS2DerRs (José Palazón--Reuters) pic.twitter.com/1oSGSQpSma— TIME.com (@TIME) 23. Oktober 2014
Beiträge zur Exklave Melilla können Sie auch in der Samstagausgabe von Gesichter Europas hören.