Die Rufe zum Gebet des Muezzin sind in Melilla nicht zu überhören. Fast 40 Prozent der 85.000 Einwohner sind Muslime, ähnlich ist es in der zweite Nordafrikaenklave Spaniens, in Ceuta. In La Cañada, dem ärmsten der Stadtviertel, prägen die langen Bärte der Männer und Frauen in Burkas das Straßenbild. Die 20-jährige Munia kennt den Einfluss der Radikalen nur zu gut. Ihr Bruder wurde 2008 ermordet, als er aus einer Salafistensekte aussteigen wollte. Und im Sommer wurde eine frühere Freundin von ihr verhaftet:
"Sie war nie radikal. Aber irgendwann haben sie ihr den Kopf gewaschen. Sie wollte mit einem 14-jährigen Mädchen in den Irak. Sie hat zugegeben, dass sie dort kämpfen wollte. Sie war immer eine ganz normale junge Frau. Sie trug zwar ein Kopftuch, aber sie ging mit uns allen aus. Von einem Tag auf den anderen sagte sie, wir müssten längere Kleidung tragen, die den Körper bedeckt. Wir müssten unseren Kopf bedecken, Jungs dürften nicht mehr dabei sein."
Davon erzählt Munia beim Tee im Haus ihrer Eltern. Ein Bild mit Koranversen hängt an der Wand. Ihr Vater ist seit Jahren arbeitslos, wie so viele im Viertel.
"Die Jungs hier haben derzeit Arbeit. Aber nur weil es diese öffentlichen Beschaffungsmaßnahmen gibt. Viele gehen nach der Schule erst mal zwei Jahre zur Armee. Sonst hängen sie hier nur rum, haben Lust auf nichts, wollen nichts lernen oder studieren. Da ist es doch normal, dass sie keine Jobs finden. Aber es stimmt auch, dass man Verbindungen braucht, um an Arbeit zu kommen. Und wir sind nun mal die aus der Cañada. Wir kommen hier nicht raus."
Sie hingegen macht eine Ausbildung zur Krankenschwester, will später studieren.
Zunehmende Radikalisierung
Die Diskriminierung der Leute aus Vierteln wie in La Cañada wird oft als Grund für die zunehmende Radikalisierung in Ceuta und Melilla angeführt. Doch der Terrorismusforscher Fernando Reinares ist skeptisch:
"Wir teilen nicht die Ansicht, dass schlechte soziale und wirtschaftliche Voraussetzungen alleine für die Radikalisierung verantwortlich sind. Sonst hätten wir keine britischen Hochschulabgänger, die nach Syrien gehen. Es geht doch offensichtlich um ein Identitätsproblem. Diese Leute identifizieren sich nicht mit den Herkunftsländern ihrer Väter. Sie fühlen sich nicht als Marokkaner oder Algerier, haben aber auch keine ausreichende emotionale Bindung zum Land, in dem sie leben."
Radikale Islamisten hätten dafür eine Alternative: Die Identität als wahre Muslime, sagt Reinares. Für das spanische Elcano-Institut hat der renommierte Forscher gerade eine Untersuchung über verurteilte Dschihadisten in Spanien veröffentlicht. Bis vor drei Jahren waren sie Ausländer. Aber inzwischen sind die meisten Verurteilten in Spanien geboren.
Reaktion der Regierung
Trotzdem hat das Land bis heute keinen Plan vorgelegt, wie die Radikalisierung junger Muslime im eigenen Land vermieden werden könnte. Wieder einmal reagiere die Politik viel zu spät:
"Seit mehr als einem Jahr gibt es einen Entwurf für ein Programm gegen die Radikalisierung. Es wurde nie veröffentlicht. Unser Vorschlag war es immer, dass sich dieser Plan nicht an alle Muslime richten soll, sondern nur an jene, mit denen wir Probleme haben. Man müsste den Staatssekretär oder Innenminister fragen, was da los ist. Wir wissen es einfach nicht. Erst nach den Morden von Paris soll der Plan endlich umgesetzt werden."
Der verspätete Aktionsplan sieht die Überwachung von Rückkehrern aus Kampfgebieten oder Maßnahmen gegen die Finanzierung des Terrorismus oder gegen Hassprediger vor. Dies hält Reinares für dringlicher, als Verschärfungen im Strafrecht. Wichtig sei zwar auch, dass die spanischen Gerichte auch Untersuchungsergebnisse von Geheimdiensten als Beweise zulassen könnten. Doch viel mehr sollten gegenwärtige Möglichkeiten auch genutzt werden. So fänden sich in Spanien zu selten Untersuchungsrichter, die auch Kameraüberwachungen von Verdächtigen genehmigen wollten. Unter Generalverdacht will Fernando Reinares die Muslime aber nicht stellen.
"Wir konzentrieren uns jetzt sehr auf die Anschläge von Paris. Die Presse berichtet auch immer ausführlich über Anschläge mit Opfern aus den Westen. Aber die übergroße Mehrheit der Opfer des globalen Dschihadismus sind Muslime. Die Opfer der Selbstmordanschläge in Afghanistan, im Jemen, Irak, in Syrien Algerien, Tunesien oder Libyen sind Muslime. Die Dschihadisten nehmen für sich in Anspruch, einen Muslim zum Ketzer erklären zu dürfen, der vom Glauben abgefallen ist. Das ist ein Todesurteil."