Christoph Heinemann: Zwei Meldungen aus diesen Tagen: Am vergangenen Samstag versuchten abermals rund 250 Flüchtlinge aus afrikanischen Staaten, über die Zäune zu klettern, die die spanische Enklave Melilla in Marokko umgeben. Ihr Ziel: Europa. Kurz zuvor hatte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch der spanischen und der marokkanischen Polizei Gewalt gegen afrikanische Flüchtlinge an der Grenze zu Melilla vorgeworfen. Die Organisation veröffentlichte ein Video vom 13. August, auf dem den Angaben zufolge Polizeibeamte zu sehen sind, die am mittleren der drei Gitterzäune Flüchtlinge schlagen und zwei Menschen durch ein Tor im Zaun zurück auf die marokkanische Seite der Grenze führen. Die Behörden in Melilla wiesen die Vorwürfe zurück. Die Polizisten an der Grenze verhielten sind "vorbildlich und menschlich". Alltag in dem europäischen Flecken auf dem afrikanischen Kontinent.
In Melilla macht sich zurzeit Rupert Neudeck ein Bild von der Lage, der Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme. Guten Morgen.
Rupert Neudeck: Guten Morgen, Herr Heinemann!
Heinemann: Herr Neudeck, das Wort "Grenzsicherungsanlagen" kennen wir noch aus der Zeit vor 25 Jahren. Wie schützt Europa in Marokko seine Grenzen?
Neudeck: Ja, ähnlich! Man muss wirklich sagen, hier ist ein Zustand erreicht, der wahrscheinlich das größte Problem für die nächsten 30 Jahre in Europa verdecken soll. Und zwar ganz unfähig verdecken soll, weil wir bauen dort Zäune, Mauern, richtige Mauern, vier gestaffelte Mauern, 10,2 Kilometer Mauer, um diese kleine wunderschöne Enklave Melilla herum, die natürlich von Marokko mit schälen Augen gesehen wird. Und die, die noch schlechter dran sind, das sind die, die aus den afrikanischen Ländern kommen, in denen es keine Berufsausbildung und keine Berufe für die junge Generation bis 25 gibt. Die sammeln sich dort zu Zehntausenden. Wir haben die gesehen gestern. Wir sind über die Grenze gegangen nach Marokko. Es gibt dort einen Berg, da sind diese afrikanischen Migranten in nationalen Sprachkommunitäten versammelt, mitten im Wald, warten auf den Moment, wo sie mit dem letzten Mut der Verzweiflung kann man nicht sagen, weil das ist die einzige Hoffnung, die sie haben, dass sie sich an den Zaun heranmachen, an diese Mauer, an diese viergestaffelte Mauer. Und dass sie die mit einer akrobatischen Leistung überspringen, überwinden, vielleicht auch ein Loch durch den Zaun machen und dann da durchkommen.
Melilla, diese kleine spanische Enklave, hat bisher es auch unterlassen, alle europäischen Standards dort gelten zu lassen. Diese Menschen, die dort ankommen, haben keine Möglichkeit, wie wir das von Deutschland aus gewohnt sind, Asyl zu beantragen, überhaupt irgendetwas zu beantragen. Die kommen meistens einfach aufs Festland nach Malaga, nach Spanien.
Melilla, diese kleine spanische Enklave, hat bisher es auch unterlassen, alle europäischen Standards dort gelten zu lassen. Diese Menschen, die dort ankommen, haben keine Möglichkeit, wie wir das von Deutschland aus gewohnt sind, Asyl zu beantragen, überhaupt irgendetwas zu beantragen. Die kommen meistens einfach aufs Festland nach Malaga, nach Spanien.
Heinemann: Human Rights Watch – ich hatte es gesagt – kritisiert die Anwendung von Gewalt durch marokkanische Soldaten, durch spanische Polizisten. Können Sie das bestätigen, dass so etwas geschieht?
Neudeck: Ja. Wir haben gestern mit einem Pfarrer einer katholischen Kirche in Marokko gesprochen, der das sehr wohl bestätigen kann. Es ist auch überhaupt kein Geheimnis darüber, dass die Europäische Union mit sehr viel Geld einige Länder, platt gesagt, kauft dafür, dass sie diese Flüchtlinge, diese Migranten, die durch ihre Länder ziehen, dass sie die eben nicht über die Grenze lässt. Und deshalb behandelt sie sie so, wie eben Polizei in so einer Situation dann Menschen, die nicht gewollt sind, die nicht geliebt sind, behandelt. Das heißt, sie schmeißt sie zurück, sie versucht sie von der Grenze, von dem Zaun, von Melilla abzuhalten. Aber das wird alles nicht gelingen, weil die Routen durch Nordafrika sind weiter nach meiner Beobachtung intakt. Es gibt eine Route an der westafrikanischen Küste über Senegal, Mauretanien, Nuadibu. Es gibt eine – und das ist die stärkste hier für Melilla – aus Mali heraus durch Algerien durch bis nach Marokko. Und dann mit dem letzten verzweifelten Versuch, diese Mauer in Melilla zu überwinden. Und es gibt eine in Ostafrika am Nil entlang bis über den Sinai, bis nach Israel. Das sind die drei großen Bewegungen, auf denen sich – man darf sich darüber nicht täuschen – Hunderttausende von jungen Menschen, wahrscheinlich die Besten der Besten aus Afrikas Ländern, weil das sind junge Menschen. Wir haben sie gestern gesprochen, über ihre Perspektiven haben wir etwas erfahren wollen. Die wollen eigentlich nur arbeiten, die wollen etwas verdienen, die wollen einen Beruf erlernen und die Mehrzahl sagt ganz eindeutig, sie will zu der Familie zurück, die sie verlassen hat, die sie in den Ländern Kamerun, Kongo, Nigeria, Senegal, Guinea und so weiter verlassen hat.
Heinemann: Sie haben die Routen genannt. Was haben diejenigen hinter sich, die es bis zu dem Grenzzaun geschafft haben?
Neudeck: Diese Menschen sind nicht in der Lage – das muss man einfach sich ganz klar machen -, die vor dem Zaun sind, die sind nicht in der Lage, aus eigener Kraft zurückzugehen. Das ist ja das, was europäische Politik immer meint, dass sie das tun müssten. Weil wenn sie in ihr Heimatdorf zurückkommen oder in ihren Clan, dann können sie vor dem nicht bestehen. Das heißt, sie haben nämlich einen Kredit bekommen über eine gewaltige Summe, über 1000 oder 1500 Dollar. Und den sollen sie nicht nur zurückzahlen, sondern sie sollen den versilbern und vergolden in Europa, in diesem Kontinent, von dem alle Afrikaner überzeugt sind, durch Internet und durch Bilder über ihre Smartphones, dass das der Kontinent der Hoffnung ist, wo man Arbeit bekommt, wo man auch Geld verdienen kann, wo man einen Beruf lernen kann und dann eventuell wieder zurückgehen kann.
Heinemann: Herr Neudeck, nicht nur die Migranten sind ausgesperrt; die Bürgerinnen und Bürger von Melilla sind ja auch eingesperrt. Wie reagieren die auf Zäune und Stacheldraht?
Neudeck: Interessanterweise ist das ein anderer Prozess, als ich es gedacht habe. Die Leute, diese jungen Afrikaner, meistens übrigens Männer, kaum Frauen, weil es ja auch eine unglaublich sportlich-akrobatische Übung ist, da rüberzukommen, diese jungen Männer wollen in der Regel sofort in das Lager, in das Durchgangslager, das groß und breit in der Nähe der Mauer ist, kommen, weil das ist die einzige Möglichkeit, nach Malaga zu kommen. Und in Malaga sind sie dann, ich sage das mal, sicher im Schengen-Land, das heißt, sicher in Europa. In Spanien gibt es ja von Zeit zu Zeit – das hat sich unter den jungen Migranten auch herumgesprochen – eine Regelung, dass alle, die angekommen sind, einfach nach fünf oder sechs oder sieben Jahren die Genehmigung bekommen, zu leben, sich einen Pass zu besorgen und dann eventuell eben auch weiter in Europa herumzukommen. Die Leute, diese jungen Afrikaner gehen sofort möglichst in das Durchgangslager, um dann möglichst nach sechs, sieben, acht Monaten nach Malaga zu kommen.
Melilla ist nicht nur Enklave und damit ein anachronistisches Juwel auf dem Kontinent Afrikas, sondern es ist auch eine reine Durchgangsstation für diese Menschen. Frontex übrigens spielt da keine Rolle. Die spanische Guardia Civil, die das Kommando hier hat, will das auch alleine haben, weil Frontex würde bedeuten, dass einige der europäischen Standards dort auch in Melilla verwirklicht werden müssen. Das wäre zum Beispiel ein Asylprozess oder ein Prozess, bei dem eben einzelne Afrikaner, zum Beispiel die Eritreer, die dort landen, einen Asylprozess anstrengen könnten. Das alles will Spanien in Melilla nicht leisten. Und deshalb will es die Frontex dort auch nicht haben.
Melilla ist nicht nur Enklave und damit ein anachronistisches Juwel auf dem Kontinent Afrikas, sondern es ist auch eine reine Durchgangsstation für diese Menschen. Frontex übrigens spielt da keine Rolle. Die spanische Guardia Civil, die das Kommando hier hat, will das auch alleine haben, weil Frontex würde bedeuten, dass einige der europäischen Standards dort auch in Melilla verwirklicht werden müssen. Das wäre zum Beispiel ein Asylprozess oder ein Prozess, bei dem eben einzelne Afrikaner, zum Beispiel die Eritreer, die dort landen, einen Asylprozess anstrengen könnten. Das alles will Spanien in Melilla nicht leisten. Und deshalb will es die Frontex dort auch nicht haben.
Heinemann: Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme, direkt aus der spanischen Enklave Melilla in Marokko. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Neudeck: Auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.