Was macht das Faszinierende an Gaudís Werk aus, wie wurde es verstanden, in welchen Verkleidungen verarbeitet? – Um solche Fragen zu beantworten, ist der Ort Böttcherstraße besonders geeignet. Denn das Bremer Architektur-Ensemble, entstanden aus der nordisch-verquasten Backstein-Mythologie des Kaffee-HAG-Unternehmers und Kunstsammlers Ludwig Roselius und aus dem Reform-Eigensinn des architektonisch dilettierenden Bildhauers Bernhard Hoetger, ist in vielerlei Hinsicht dem Werk Gaudís verwandt: Ja, für die schwellenden Formen und Parabol-Türmchen, die schwingenden Dachlinien und vorgewölbten Balkone, die chaotischen Keramik-Mosaiken, die geheimnisvoll leuchtenden Glasfenster- und Deckenlampen-Landschaften des Gesamtkunstwerks Böttcherstraße scheint Gaudís Werk Pate gestanden zu haben.
Die Exponate – vor allem Stücke aus der Casa Museu Gaudí und der Bauhütte der "Sagrada Familia" in Barcelona – korrespondieren verblüffend mit Hoetgers Manier. Dessen Holzstühle – exklusiv für das Paula-Modersohn-Becker-Museum entworfen, skurrile Geschöpfe aus schwerem, krumm gekröpften Holz – haben eine geradezu unheimliche Affinität zu den phantastisch-alraunenhaften Hybrid-Konstruktionen der Sitzmöbel Gaudís, der allerdings – sehr zum Ärger seiner Tischler – jede Holzkonstruktion mit einem eisernen Tragwerk kombinieren ließ, eine Hommage an seine Ahnen, die über Generationen das Schmiedehandwerk ausübten. Und so wie Gaudís seine Stuhlbeine bei den Antilopen absah, so gewann er die Formen für die schmiedeisernen Gitter seiner Privatvillen aus pflanzlichen Vorbildern, z.B. Palmwedeln. Vegetabiles findet sich auch auf den opulenten Fliesen, an Türen und Fenstern und – nicht zuletzt natürlich – im Trag- und Maßwerk der "Sagrada Familia", Versatzstücke wie aus einem Botanik-Lehrbuch: Säulen, Lisenen und Zwickel scheinen aus dem Fotobuch Karl Bloßfelds entnommen, der erst später Pflanzenformen so fotografieren sollte, als seien es Artefakte aus Jugendstil oder Art Decó.
Die ausgestellten maßstäblichen Gipsmodelle zeigen das Paradox Gaudís unübersehbar: Ausgehend von höchster Rationalität entwickelte er Grund- und Seitenriss, um Fassaden und Bauformen dann mit einer barocken Fülle von floralem und figürlichem Dekor zu überschütten und dabei wieder zu verunklären. Dies erfüllte Vertreter der Reformbewegung und des Neuen Bauens, denen jedes Ornament ein Verbrechen war, mit Grausen. Doch darum hat sich der immer mehr in einen fundamentalistischen Katholizismus abtauchende Gaudí zeitlebens nicht geschert. Seine Kathedrale – mitten im neuen Reform-Stadtviertel "Eixampel" gelegen – sollte eine steinerne Paraphrase auf das Heilige Jerusalem der Apokalypse werden. Umso erstaunlicher, dass gerade diese Rückkehr zum Gesamtkunstwerk Architekten der Moderne wie Bruno Taut und Bernhard Hoetger so faszinierte. Die Ausstellung erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass der junge Walter Gropius 1908 Gaudí in seiner Dombauhütte aufsuchte. Ein Jahrzehnt später gründete Gropius das Weimarer Bauhaus – mit einer Programmatik, deren Pathos nahezu bruchlos die Traditionen der mittelalterlichen Bauhütten beschwor.
Im Werk Gaudís schießen irrationale und chiliastische, ökologische und sozialistische Metaphern zusammen. Begriffe wie "spanischer Jugendstil" oder "katalanischer Modernismo" sind allenfalls hilfreich aber nicht hinreichend, um die Ambivalenzen des Phänomens Gaudí zu erklären; im Spätherbst wird ein internationales Gaudí-Symposion in der Böttcherstraße darüber nachdenken. Das Verdienst der Bremer Ausstellung ist es, erstaunlich unterschiedliches, ja, bisweilen auch disparates Anschauungsmaterial zusammenzutragen, mit dem diesem so enigmatischen wie genialen Architekten augenfällig Gerechtigkeit widerfährt.