Ungeachtet internationaler Kritik setzt die Türkei Erdgaserkundungen vor griechischen Inseln im östlichen Mittelmeer fort. Griechenland hält die Erkundungen für illegal. Die EU steht auf Seiten ihres Mitgliedstaats und hat die Türkei aufgefordert, sie einzustellen. Die Regierung in Ankara vertritt jedoch den Standpunkt, dass die Gewässer, in denen probeweise nach Erdgas gebohrt wird, zu ihrer "Ausschließlichen Wirtschaftszone" gehört.
Inzwischen versuchen die beiden NATO-Partner ihre Ansprüche sogar mit dem Einsatz von Kriegsschiffen zu unterstreichen. In dem Konflikt geht es aber um weit mehr als um Bodenschätze. Ein Überblick über die Hintergründe.
- Worum geht es beim Gasstreit zwischen Griechenland und der Türkei?
- Welche Allianzen und Absprachen gibt es?
- Wie ist die völkerrechtliche Regelung?
- Welche Rolle spielt der Zypern-Konflikt?
- Welche Rolle spielen die USA und Russland?
- Wie groß ist die Gefahr einer militärischen Eskalation?
- Wie könnte der Konflikt gelöst werden?
Die Entdeckung gewaltiger Erdgas- und Erdölvorkommen im östlichen Mittelmeer hat bestehende Streitigkeiten zwischen den Anrainerstaaten weiter verstärkt. Es geht um wirtschaftliche, aber auch geostrategische Interessen. Auf rund 3,5 Billionen Kubikmeter schätzt die United States Geological Survey (USGS), die Geologiebehörde der USA, die Erdgasvorkommen, die unter dem Meeresboden zwischen Zypern, Ägypten, Israel und dem Libanon schlummern. Zudem sollen unter den Gasfeldern 1,7 Milliarden Barrel Erdöl lagern.
Das Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer reicht im internationalen Vergleich zwar nicht einmal für eine Platz unter den Top 10; die Reserven Russlands betragen mehr als das Zehnfache, die Turkmenistans sind knapp dreimal so hoch. Doch für europäische Verhältnisse sind die Gasfelder beträchtlich: Ein Land wie Deutschland könnte damit fast 40 Jahre lang mit Gas versorgt werden. Die beiden nennenswerten europäischen Förderländer, Norwegen und die Ukraine, kommen zusammen auf Reserven von gerade einmal 2,7 Billionen Kubikmeter.
Dies erklärt auch die "Goldgräberstimmung", die im östlichen Mittelmeer herrscht. Während einige Staaten Verhandlungslösungen suchen, etwa Israel und Libanon, oder wirtschaftsstrategische Allianzen bilden, eskaliert die Auseinandersetzung zwischen Griechenland und der Türkei seit Mitte 2019 zusehends. Beide Staaten streiten seit Jahrzehnten über Hoheitsgebiete in der Ägäis und die Zukunft der geteilten Insel Zypern. Vor diesem Hintergrund wirken die entdeckten Energiereserven wie ein Brandbeschleuniger.
Denn Ankara und Athen beanspruchen nun mögliche Explorationsfelder jeweils für sich. Konkret geht es um Gebiete südwestlich von Zypern und östlich der griechischen Inseln Rhodos, Karpathos und Kreta bis vor die zur Türkei gehörende lykische Küste. Probebohrungen der Türkei in diesen Regionen hatte im Sommer 2019 erstmals die Europäische Union auf den Plan gerufen. Im Januar und Juli 2020 schickte Ankara erneut Erkundungsschiffe in die umstrittenen Gewässer – zum Teil mit militärischem Geleitschutz.
Griechenland entsandte daraufhin ebenfalls Kriegsschiffe. Athen und auch die Republik Zypern sehen die Erkundungen türkischer Schiffe in ihren Hoheitsgewässern als Verstoß gegen ihre Souveränität. Ankara hingegen besteht darauf, dass auch der Türkei als Küstenstaat im Mittelmeer Teile der Gasvorkommen zustehen.
Bereits im Januar 2019 vereinbarten Griechenland, Zypern und Ägypten gemeinsam mit Italien, Jordanien, Israel und den Palästinensischen Autonomiegebieten eine enge Zusammenarbeit bei der Ausbeutung der Bodenschätze im östlichen Mittelmeer. In Kairo gründeten sie dazu das "Eastern Mediterranean Gas Forum", das ausdrücklich auch weiteren Staaten offenstehen soll. Geplant ist unter anderem eine Pipeline, die Gas durch das Mittelmeer nach Europa bringen soll sowie eine weitere Pipeline von den Gasfeldern Zyperns nach Ägypten, wo es in bereits bestehenden Anlagen zu Flüssiggas verarbeitet und verschifft werden könnte.
Die Türkei schloss sich dem Forum aus mehreren Gründe nicht an. Zum einen haben sich die politischen Spannungen mit Ägypten seit dem Militärputsch 2013 unüberbrückbar verschärft. Die türkische Regierungspartei AKP sieht in den damals gestürzten Muslimbrüdern ideologische Verbündete. Eine Zusammenarbeit mit dem ägyptischen Präsidenten Abd al-Fattah as-Sisi lehnt der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan strikt ab.
Zum anderen konkurrieren Ankara und Kairo sowohl politisch als wirtschaftlich um die Vormachtstellung im östlichen Mittelmeerraum. Am deutlichsten wird dies im Bürgerkriegsland Libyen, wo die Türkei die Einheitsregierung unterstützt, Ägypten dagegen den abtrünnigen General Chalifa Haftar. Zudem nutze Erdogan seine Libyen-Politik als Hebel im Gasstreit, meinen Beobachter wie etwa Aykan Erdemir, Direktor des Türkei-Programms an der Denkfabrik Foundation for Defense of Democracies in Washington.
Wirtschaftlich verfolgen beide Regionalmächte das gleiche Ziel: Zentraler Umschlagplatz für Gas und Energie in der Region zu werden. Statt dem maßgeblich von Ägypten forcierten Forum beizutreten, vereinbarte Erdogan daher mit dem Premierminister der libyschen Einheitsregierung, Fajez Sarradsch, Ende November 2019 ein Abkommen, in dem sie die Seegrenzen im Mittelmeer neu festlegten mit dem Ziel, die eigenen Besitzansprüche auszuweiten.
Ägypten und Griechenland erkennen diese Vereinbarung nicht an. Sie unterzeichneten ihrerseits Anfang August 2020 ein Abkommen, in dem sie ihre jeweilige "Ausschließliche Wirtschaftszone" (WAZ) festlegen und damit die Nutzung der Ressourcen in den entsprechenden Meeresabschnitten und die Geltung von Hoheitsrechten zwischen den beiden Seiten.
Die von Griechenland und Ägypten definierten Zonen überschneiden sich dabei mit den türkisch-libyschen. Ankara reagierte umgehend und erklärte den griechisch-ägyptischen Vertrag zu einem "Piraten-Abkommen", der türkisches Hoheitsgebiet verletze. In Wahrheit existiere keine Seegrenze zwischen Griechenland und Ägypten, verlautete aus dem türkischen Aussenministerium. Der Vertrag sei "null und nichtig".
Die Rechte der Länder vor ihren Küsten regelt das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1982. Dieses sieht eine sogenannte "Ausschließliche Wirtschaftszone" (AWZ) vor, in dem ein Küstenstaat das alleinige Recht zur Ausbeutung von Bodenschätzen hat. Diese AWZ erstreckt sich von der Küstenlinie bis zu einer Grenze von 200 Seemeilen, umgerechnet ungefähr 370 Kilometer. Liegt die Küste eines anderen Landes näher, gilt die rechnerische Mitte als Grenze.
Die Türkei fühlen sich an UN-Seerechtskonvention jedoch nicht gebunden, da sie diese nicht unterzeichnet haben. "Da gibt es den Einwand, dass zumindest Teile dieser Konvention inzwischen in Völker-Gewohnheitsrecht übergegangen sind und deswegen auch für Nicht-Vertragsstaaten Gültigkeit haben", erläuterte Kristian Brakel, Büroleiter der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. "Das ist die Haltung, auf die sich auch die EU gestellt hat."
Die Türkei dagegen argumentiert, dass der sogenannte Kontinentalsockel ihres Landes, also der Meeresboden, der sich vor der türkischen Küste erstreckt, ausschlaggebend sei. Dieser verschaffe ihr eine AWZ und damit das Recht auf die Nutzung von Bodenschätzen auch in der Nähe griechischer Inseln. Konkret bestreitet Ankara, dass eine Insel wie Zypern einen eigenen Festlandsockel hat und damit eine eigene Wirtschaftszone beanspruchen kann. Auf dieser Argumentationlinie basiert die zwischen der Türkei und Libyen ausgehandelte Aufteilung der Seegebiete.
Völkerrechtlich ist diese Meinung jedoch umstritten. Darüber hinaus ist die Haltung der türkischen Regierung in der Sache nicht konsistent. Denn obwohl sie selbst einem Inselstaat wie Zypern keinen Festlandsockel zugesteht, hat sie mit dem Norden Zyperns Meeresgrenzen vereinbart.
In dem ungelösten Konflikt um die geteilte Insel Zypern sehen einige Experten die Wurzel des Erdgasstreits im Mittelmeer. Seit der türkischen Invasion im Jahre 1974 als Reaktion auf einen griechischen Putsch in Nikosia ist Zypern geteilt – in die international anerkannte Republik Zypern im Süden und die türkische Republik Nordzypern, die nur von Ankara anerkannt wird. Umgekehrt verweigert die türkische Regierung der Republik Zypern die Anerkennung. Dies ist ein weiterer Grund, warum sie nicht an den Verhandlungen über die Nutzung der Bodenschätze im Mittelmeer mit den anderen Anrainerstaaten teilnahm – weil dabei eben auch Vertreter der Republik Zypern am Tisch saßen.
Stattdessen legte die Türkei ihre Meereszonen mit dem besetzten Teil der Insel fest. Die Regierung in Ankara sei der Auffassung, dass sie dadurch ihre "Ausschließliche Wirtschaftszone" definiert habe und damit berechtigt sei, vor der Republik Zypern nach Erdgas zu forschen und zu bohren, erläutert Panagiotis Tsakonas, Türkeiexperte im Griechischen Institut für Europa- und Außenpolitik. "Das Abkommen mit Libyen, dass das östliche Mittelmeer in zwei teilt, ist da nur das vorerst letzte Kapitel dieses Spiels."
Die türkische Seite sieht im Zypernkonflikt zwar das Hauptproblem, weist die Verantwortung jedoch der griechisch-zypriotischen Seite zu. "Natürlich bildet das ungelöste Zypern-Problem auch den Kern der Probleme zwischen der Türkei und der EU sowie zwischen der EU und der NATO", sagt Faruk Kaymakci, stellvertretender Außenminister der Türkei. "Ich glaube, es war ein großer Fehler, ein geteiltes Zypern in die EU aufzunehmen, weil die griechischen Zyprer ihre EU-Mitgliedschaft missbrauchen."
Auch die Interessen der Supermächte USA und Russland in der Region haben Einfluss auf den Gasstreit, wobei die US-Regierung durch die Politik Moskaus in eine gewisse Zwickmühle gedrängt wird. Die Sicherheitsexperte in Washington beobachten mit Sorge, dass Russland versucht, nach seinem massiven militärischen Engagement in Syrien nun auch in Libyen Fuß zu fassen. Dabei unterstützt der Kreml - wie Ägypten - Rebellengeneral Haftar. Washington hält sich daher mit Kritik an der türkischen Militärhilfe für die Einheitsregierung in Libyen zurück.
Im Streit um das Gas unter dem Meeresboden steht die US-Regierung dagegen auf der Seite der Türkei. "Eigentlich wurde erwartet, dass sich Amerika auf die Seite von Ägypten, Israel, Griechenland und Zypern stellt, weil das zur amerikanischen Strategie passt. Aber jetzt hat sich Trump in Libyen auf die Seite der Türkei gestellt und damit die Dynamik im ganzen östlichen Mittelmeer verändert", sagt Joe Macaron, Nahost-Experte beim Arab Center in Washington. Washington falle daher als möglicher Vermittler aus. Mehr noch: Die Unberechenbarkeit der US-Regierung unter Präsident Donald Trump könnte für das östliche Mittelmeer die größte Herausforderung werden, glaubt Nahostexperte Macaron.
Nach Ansicht von Beobachtern wollen weder Griechenland noch die Türkei einen Krieg. In Griechenland würde dies den wirtschaftlichen Aufschwung, eines der wichtigsten Projekte der neue konservativen Regierung, gefährden. Ein Rüstungswettlauf mit der Türkei würde das Land gar ruinieren, warnt Konstantinos Filis, Leiter des Instituts für Internationale Beziehungen an der Athener Pantion Universität.
Auch Erdogan wolle keinen Krieg, meint Filis. Er provoziere zwar, wisse aber auch, dass ein militärischer Konflikt auch für ihn erhebliche Folgen haben werde. "Bisher hat Erdogans militärisches Engagement in der Region lediglich die Isolation Ankaras und das Bedrohungsgefühl der Türkei verstärkt", gibt Aykan Erdemir, Direktor des Türkei-Programms an der Denkfabrik Foundation for Defense of Democracies in Washington, zu bedenken.
Thomas Seibert, der als Korrespondent aus Istanbul berichtet, sieht dennoch die latente Gefahr einer nicht kalkulierbaren Eskalation - wenn vielleicht auch nur ausversehen. Beide Seiten rasselten heftig mit dem Säbel, dies sei äußerst riskant, warnt Seibert. Am 12. August kollidierten bereits Kriegsschiffe beider Länder. Beide Seiten hielten diesen Vorfall etwas unter der Decke, um die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen, so Seibert.
Zudem soll es zu einer Konfrontation zwischen türkischer und französischer Marine gekommen sein – allerdings im Zusammenhang mit der Kontrolle des Waffenembargos für Libyen. Nach französischen Angaben richtete ein türkisches Kriegsschiff sein Zielradar auf eine französische Fregatte, um die Durchsuchung eines türkischen Frachters zu verhindern. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu wies die Anschuldigungen aus Paris als Lüge zurück. Im Gasstreit stellt sich die französische Regierung demonstrativ hinter Athen.
Im östlichen Mittelmeer herrsche momentan eine politisch sehr spannungsgeladene Situation, "wo es am Ende dann doch umschlagen könnte in eine Konfrontation, die im Grunde keiner will, aber im Moment auch niemand verhindern will", meint Istanbul-Korrespondent Seibert.
Griechenland plädiert dafür, den Internationalen Gerichtshof in Den Haag anzurufen. Allerdings erkenne die Türkei die Zuständigkeit des Gerichtshofs nicht an, erklärt Fotini Pazartzi, Leiterin des Instituts für Völkerrecht an der Universität Athen. Ein Gang nach Den Haag wäre aber nur möglich, wenn sich beide Länder darauf verständigten.
"Sie müssten die genaue Fragestellung, die der Gerichtshof klären soll, in einem Abkommen festsetzen und einen gemeinsamen Antrag stellen", so Pazartzi. Dies setze jedoch ein gutes Klima zwischen beiden Ländern voraus – gerade das ist momentan jedoch nicht gegeben.
Die Türkei favorisiert dagegen eine politische, bilaterale Lösung. Unter anderem schlägt der türkische Vize-Außenminister Kaymakci vor, dass die Türkei an der wirtschaftlichen Nutzung der Erdgasvorkommen beteiligt werden soll, indem das Gas durch bereits bestehende türkische Pipelines nach Europa gepumpt wird. Auf den Bau der von den anderen Anrainern geplanten Pipeline könne damit verzichtet werden.
Tatsächlich wäre der Weg über die Türkei die kostengünstigere Variante. Aus Sicht von Konstantinos Filis vom Institut für Internationale Beziehungen der Athener Pantion Universität berge dies jedoch erhebliche Risiken für die EU. Die Türkei wäre damit die "Energie-Lunge Europas".
"Wenn wir in Betracht ziehen, wie sich die Türkei momentan verhält, und wie sie auch die Flüchtlings- und Migrationsproblematik für sich gegen die EU ausspielt, wäre es nicht clever, alles auf die Türkei zu setzen", meint Filis.
Die EU und auch Deutschland versuchen als Vermittler in dem Konflikt zu agieren. Zumindest der EU hat die türkische Regierung allerdings schon die Rolle als ehrlicher Vermittler abgesprochen. Der türkische Außenmister Cavusoglu warf Brüssel vor, stets auf Seiten von Griechenland und Zypern zu stehen. Andererseits ist die EU der größte Handelspartner der Türkei. Ankara könne sie somit nicht ignorieren, meint Türkei-Experte Seibert. Und Deutschland habe durchaus Einfluss auf die Türkei. Die Chancen auf einen Vermittlungserfolg bewertet er jedoch als "eher schlecht".