Der Tahrir-Platz, ein Kreisverkehr im Zentrum Bagdads. Hier erhebt sich weithin sichtbar ein Bronzerelief, das Wahrzeichen der Hauptstadt. Sein Motiv: Das irakische Volk befreit sich von den Ketten eines unterdrückerischen Systems. In diesen Tagen ist das Kunstwerk von den Schwaden der Tränengasgranaten oft so eingenebelt, dass man die metallenen Freiheitshelden darauf nur erahnen kann. Rundherum liefern sich echte Menschen Straßenschlachten mit der Polizei.
"Wir verlangen ja nichts Außergewöhnliches. Wir muten keinem etwas zu, was nicht erfüllbar wäre. Aber die Regierung ignoriert uns als Bevölkerung einfach. Wir wollen lediglich, dass die Korruption aufhört, dass es in diesem Land ganz normale Dienstleistungen gibt, so wie in jedem anderen Land."
Sagt der der 22-jährige Ali Abd Alhuseyn dem Deutschlandfunk. Die überwiegend jungen und schiitischen Demonstranten stoßen bei der Bevölkerung auf viel Sympathie. Abbas Kadim, ein gesetzt wirkender und korrekt gekleideter älterer Herr ist Jura-Professor an der Universität in Bagdad. Wenn seine Studenten auf die Straße gehen, dann unterstützt er sie aus vollem Herzen.
"Es gibt viele Gründe für die Proteste. Seit dem Systemwechsel 2003 leiden die Iraker unter denselben politischen Problemen. Wir haben eine riesige Jugend- und Akademikerarbeitslosigkeit. Die Regierung hat dagegen nichts unternommen. Und nicht allein auf diesem Feld ist sie untätig. In keinem einzigen Bereich kann die Regierung irgendeinen Erfolg aufweisen. Es ist überhaupt kein Wunder, wenn die Menschen diese Dinge jetzt einfordern."
"Es gibt einen direkten Einfluss auf die Regierung"
Eine Forderung allerdings, die immer wieder auf Transparenten erscheint, dürfte für keine Regierung in Bagdad erfüllbar sein: Der Rückzug des Iran aus dem Irak, wie ihn auch der 22-jährige Ali Abd Alhuseyn verlangt:
"Der Iran übt einen starken Einfluss auf den Irak aus. Politisch, militärisch und wirtschaftlich. Wir akzeptieren von keinem Land, dass es einen derartigen Einfluss auf den Irak ausübt."
Strom- und Wasserknappheit, fehlende Infrastruktur, Jugend-arbeitslosigkeit, ein marodes Bildungssystem. Missstände wie diese gehören in vielen Ländern der Region zum Alltag. Wieso aber werden sie im Irak nicht nur der eigenen Regierung, sondern auch dem Nachbarland Iran angelastet? Guido Steinberg, Spezialist für den politischen Islam an der Stiftung Wissenschaft und Politik.
"Der Einfluss Irans ist ungeheuer groß. Es gibt einen direkten Einfluss auf die Regierung. Bei allen Regierungsbildungen der letzten Jahre hatten die Iraner das letzte Wort. Einzelne Minister sind stark vom Iran abhängig. Man kann sogar davon sprechen, dass einzelne Ministerien von den Iranern dominiert werden. Beispielsweise das sehr wichtige Innenministerium, über lange Jahre auch das Transportministerium. Und dazu kommt, dass auch die bewaffneten Kräfte des Landes, und zwar Streitkräfte, Polizei und Milizen zumindest teilweise den Iranern unterstehen. Und diese Situation führt dazu, dass im Irak keine wichtige Entscheidung getroffen wird, ohne dass die Iraner dort ein Vetorecht haben."
Die iranisch angeleiteten Polizisten gehen mit großer Härte vor sagt der deutsch-irakische Journalist Fuad Zindani. Die Schüsse auf Demonstranten am 27. November 2019 im südirakischen Nassirija beschreibt er als ein regelrechtes Massaker.
"Am Donnerstagmorgen starteten Sicherheitskräfte einen Angriff auf Demonstranten in der Nähe der Olivenbrücke im Zentrum der Stadt Nassirija, bei dem 47 Menschen getötet und mehr als 300 verletzt wurden. Die Demonstranten hatten gefordert: Das Parlament muss weg. Die Demonstranten sagen: Alle sind verbündet mit dem Iran."
Für viele, auch für viele irakische Politiker, war damit die Toleranzgrenze überschritten. Die oberste Instanz der irakischen Schiiten, Großayatollah Ali as- Sistani beendete seine selbst auferlegte politische Enthaltsamkeit und ließ vernehmen: Er empfehle der irakischen Regierung, über ihre Neuformierung nachzudenken. Nur wenig später trat der irakische Premierminister, Adel al Mahdi zurück. Ein Zeichen, über welche moralische Autorität der 89-Jährige Sistani verfügt. Das Herrschaftssystem seiner Amtsbrüder, der Ayatollahs im Iran, lehnt er bekanntermaßen ab.
Damit, dass er sich jetzt auch so klar gegen den vom Iran abhängigen Regierungschef al Mahdi positioniert, kommt Sistani den Erwartungen der Bevölkerung entgegen. Dass er eingreift, hat aber höchstwahrscheinlich noch ein anderes Motiv: Er könnte damit versuchen, dem Mann den Wind aus den Segeln zu nehmen, der sich immer unverhohlener als der Mann hinter den Protesten zu erkennen gibt: Dem 46-jährigen Schiitenprediger Muqtada as-Sadr.
Der politische Islam
"Es gibt eine Person und eine Organisation, die mir besonderen Einfluss zu haben scheint. Das ist die Bewegung des Predigers Muqtada as-Sadr. Der ist in gewisser Weise der nationalistischste Vertreter des schiitischen Islamismus im Irak. Dessen Anhänger stehen hinter diesen Forderungen, dessen Anhänger sind auch bei den Protesten stark beteiligt. Dessen Anhänger kommen vor allem aus den ländlichen Gebieten und aus den ländlich geprägten Teilen der großen Städte, dort wo die Lebensbedingungen besonders schwierig sind. Dessen Anhänger dominieren deshalb nicht nur die Proteste, sondern auch die inhaltlichen Forderungen."
Der politische Islam – auch im Irak sprechen ihm viele die Lösung der Probleme zu. Seine Zentren liegen vor allem im Süden des Landes. Ebenso wie die wichtigsten Heiligtümer der Schiiten, die mit rund 70 Prozent die größte Bevölkerungsgruppe ausmachen. In der Gegend zwischen Najaf und Kerbela hat sich die Schia im 8. Jahrhundert nach dem Tod des Propheten Mohammed heraus-gebildet, schon damals als Protestbewegung.
Rahim, ein Englischdozent Anfang 30 und Aktivist in der Bewegung des Predigers Muqtada as-Sadr, steht in Kerbela an der Grabmoschee von Imam Hussein, des Glaubensstifters der Schiiten. Für Rahim geht es genauso wie vor 1400 Jahren noch immer um Dasselbe: Den Kampf um die verlorene Gerechtigkeit.
"Der Prophet Mohammed hatte in Bezug auf Ali – seinen Schwiegersohn – gesagt: Er ist mein rechtmäßiger Nachfolger. Deshalb glauben die Schiiten, dass die Nachfolge von Anfang an ihm zukam. Ali wiederum hielt die Muslime dazu an, seinem Sohn Hussein zu folgen. Ihren Feinden und Widersachern aber ging es von jeher nur um die Macht. Sie hingen mehr am Leben als am Paradies."
In den Moscheen schildern die Prediger detailreich, wie Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht in Kerbela in einer Entscheidungsschlacht aufeinander trafen. Damals verloren die Anhänger Husseins, die Schiiten, den Kampf.
Hussein, davon ist in den Litaneien die Rede, Hussein und alle männlichen Anhänger wurden damals niedergemacht, ihre Frauen und Familien versklavt. Ihre Nachkommen wurden von den Kalifen der siegreichen Mehrheit verfolgt, ermordet. Seitdem geht es für die Schiiten um die Frage der gerechten Herrschaft. Die meisten sind sich einig, dass sie nur vom so genannten 12. Imam ausgeübt werden kann. Dem 12. direkten Nachkommen der Linie Alis und Husseins, der seit dem Mittelalter als entrückt gilt. Er soll jedoch als Mahdi, als Heilsbringer zurückkehren. Die Frage ist: Was soll man tun, so lange er noch nicht erschienen ist?
Dabei kommen die schiitischen Gelehrten zu unterschiedlichen Antworten: Die einen gehen grundsätzlich davon aus, dass die Gerechtigkeit erst wieder in die Welt einzieht, wenn der verborgene 12. Imam, als Heilsbringer wiedererscheint. So lehrt es der irakische Großayatollahs Ali as-Sistani. In seinen Gutachten empfiehlt er den Religionsgelehrten teils, sich jeder Politik zu enthalten, teils gesteht er den Gläubigen zu, dass sie bis zum Erscheinen des 12. Imam bestimmte pragmatische Lösungen wählen dürfen. Dabei versteht er Wählen durchaus wörtlich und auch im Rahmen von klassischer Demokratie und klassischem Parlamentarismus. Der andere Weg ist aktivistisch und damit der Weg des Volkstribuns Muqtada as-Sadr. Er und seine Anhänger fordern den Kampf um die verlorene Gerechtigkeit im Hier und Heute wieder aufzunehmen und dadurch die Ankunft des heilsbringenden Mahdi schon jetzt vorzubereiten. Damit stellt er sich ideologisch jenen Theologen an die Seite, die 1979 im Iran den Sturz des Schahs bewirkten und dort eine islamische Republik aufbauten.
Der Einfluss des Iran ist mit einer Person verbunden
Muqtada as Sadr versteht es meisterhaft, den Kampf um die verlorene Gerechtigkeit mit einer revolutionären Attitüde zu verbinden. Seinen theologischen Abschlüsse nach steht er weit unter dem Grandseigneur Sistani. Seine eigentliche Qualifikation zieht er daraus, der Sohn eines unter dem sunnitischen Diktator Saddam Hussein ermordeten prominenten Geistlichen zu sein und anders als der iranisch stämmige Sistani, ein geborener Iraker. Gleich nach Saddam Husseins Sturz pochte Muqtada auf eine Regierung der schiitischen Rechtsgelehrten.
Den Einmarsch der US-Armee erklärte er mit der bevorstehenden Ankunft des 12. Imam, des Mahdi. Die Amerikaner, so behauptete Muqtada, wollten den Beginn der Gerechtigkeit mit ihrer geballten Militärmacht verhindern. Aus meist arbeitslosen Jugendlichen der Vorstädte ließ er die so genannte Mahdi Armee bilden, die sich 2004 und 2005 heftige Gefechte mit der US-Armee lieferte. Als 2006 die sunnitischen Dschiahdisten der al Qaida schiitische Heiligtümer sprengten und damit einen Bürgerkrieg entfachten, mobilisierte er seine Truppen gegen sie. Und als 2014 der IS große Teil des Irak besetzte, rief er wiederum zu den Waffen.
Bei all diesen Aktionen gab sich Muqtada zwar immer wieder als Vertreter einer authentischen irakischen Schia, de facto konnte er aber nur so kämpferisch auftreten, weil er bei allem das Nachbarland Iran im Rücken hatte. Das einzige Land in der Region, das per Staatsreligion schiitisch ist und das seit Jahren Muqtadas eigene aktivistische Religionsideologie umgesetzt hat.
Sobald sich die irakischen Schiiten bedroht fühlten, präsentierte sich der Ayatollah-Staat postwendend als Schutzmacht, schickte Berater, Militärs und Waffen. Dienste, von denen auch Muqtada as-Sadr immer wieder profitierte.
Der konsequente Ausbau des iranische Einflusses im Irak verbindet sich mit einem Namen: General Qassem Soleimani, dem Chef der iranischen Revolutionsgarden. Der Kampf der Schiiten um Gerechtigkeit und die geostrategischen Anliegen des Iran – das sind aus seiner Sicht zwei Seiten derselben Medaille. In einer Rede erklärte Soleimani unverhohlen:
"Wenn die Nationen rund um uns in Bedrängnis sind, dann können wir das als Mitmenschen nicht einfach ruhig mitansehen. Es ist unsere religiöse Pflicht zu helfen. Aber es gibt noch einen anderen Grund: Indem wir das tun, dienen wir zugleich auch unserem nationalen Interesse."
"Qassem Soleimani ist ein Generalmajor der Revolutionsgarden und seit mittlerweile über 20 Jahren leitet er eine Spezialeinheit. Diese Spezialeinheit nennt sich das "Jerusalem Korps" oder "Quds-Korps" der Revolutionsgarden. Und man muss sich das als politischen, militärischen und geheimdienstlichen Akteur vorstellen. Sie gehen im Irak vor allem politisch vor und sie haben die Kontrolle über mehrere zehntausend Mann schiitischer Milizen, die ganz besonders einflussreich sind und die auch verhindern werden, dass die Situation jetzt im Sinne Irans kippt.
Zum militärischen Einfluss des Iran kommt noch wirtschaftlicher hinzu
Was das praktisch bedeutet, kann jeder merken, der auf irakischen Landstraßen von einer Stadt in die andere fährt. Überall stehen die Posten der schiitisch dominierten Volksmobilisierungskräfte, die unter der Aufsicht des Iran 2014 gegründet wurden, damals offiziell zum Kampf gegen den IS. Ein ständiges Ärgernis, klagt der deutschirakische Journalist Fuad Zindani, als er mit seinem Auto zum x-ten Mal von dieser Truppe angehalten wird.
"Eigentlich haben die gesagt: ein Schulterschluss mit der irakischer Armee und gegen den IS kämpfen. Aber praktisch: die sind die irakische Armee. Weil die irakische Armee so schwach geworden ist, deshalb wurde Hascht al Schaabi gegründet. Sie spielen dieselbe Rolle, haben dieselben Waffen, dieselben Klamotten."
Fuad: "Checkpoint, ja. Auf dem Auto steht drauf: Hascht al Schaabi. Checkpoint von Hascht al Schaabi-Milizen."
Die Hascht al Schaabi - junge stoppelbärtige Männer, schwarz gekleidet mit Halstüchern und um den Körper geschlungenen Patronengurten. An ihren Fahrzeugen und Kontrollposten flattern Fahnen, auf denen die von den Schiiten verehrten Heilsbringer zu sehen sind: Prophetenschwiegersohn Ali und dessen Sohn Hussein. Sie maßen sich das Recht an Fahrzeuge zu stoppen und die Insassen zu kontrollieren.
Milizionär: "Almania? How are you?"
"Fine!"
"Ok."
"Das war ein Checkpoint von Hascht al Schaabi."
Zum militärischen Einfluss des Iran kommt noch wirtschaftlicher hinzu. Viele beschweren sich darüber, dass die Märkte mit iranischen Produkten von minderwertiger Qualität geflutet sind, obwohl der Irak sie selber besser produziert. Dass Grundtücke, Baugenehmigungen und Bauanträge oft bevorzugt an Iraner vergeben werden.
Das führt dazu, dass die langjährige Schutzmacht von vielen inzwischen nicht mehr als Retter vor allen Bedrohungen angesehen wird, als einziger Helfer der Schiiten - sondern selber als Teil des Establishments und damit eines ungerechten Systems. Guido Steinberg, Spezialist für den politischen Islam an der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik:
"Wir haben es hier ganz sicherlich mit einer ganz neuen Generation zu tun. Viele derjenigen, die jetzt protestieren, die können sich an diesen ersten Bürgerkrieg von 2005, 2006 kaum mehr erinnern. Sie können sich auch nicht an das Regime von Saddam Hussein erinnern."
Der Kampf für die verlorene Gerechtigkeit wendet sich damit gegen den Akteur, der sich stets als Sponsor dieses Kampfes verstand: den Iran.
"Es ist nicht nur ein Protest gegen den Iran, sondern gegen alle Länder, die sich bei uns einmischen. Aber in erster Linie gegen den Iran."
Iran beschuldigt die USA
So Ali Abd Alhuseyn, einer der Demonstranten vom Bagdader Tahrir-Platz. Und auch Jura-Professor Abbas Kadim, selbst ein Schiit, teilt den Unmut gegenüber dem Iran.
"Es ist nicht das erste Mal, dass ein iranisches Konsulat gestürmt wird. Letztes Jahr, 2018, haben Demonstranten das schon in Basra getan. Und vor einem Monat in Kerbela. Und jetzt passiert es in Najaf. Der Grund ist, dass die Menschen glauben, dass der Iran hier eine große Rolle spielt und großen Einfluss hat.
Der Volkstribun und Prediger Muqtada as- Sadr versucht nun, sich in gewohnter Weise als revolutionärer Kämpfer für die Gerechtigkeit zu profilieren und auf den Zug der anti-iranischen Proteste aufzuspringen Und dennoch, so meint Guido Steinberg, ist er ein höchst trügerischer Hoffnungsträger.
"Sadr hat sich teilweise den Forderungen der Demonstranten angeschlossen, ist aber nicht bereit tatsächlich Farbe zu bekennen. Das scheint mir vor allem daran zu liegen, dass er den Einfluss Irans fürchtet. Die Iraner haben im Verlauf seiner mittlerweile 15-jährigen Karriere als Politiker im Irak immer wieder klar gemacht, dass sie seinen nationalistischen Kurs dulden, solange er sich nicht gegen die Iraner stellt. Jetzt stellen sich die Iraker gegen den Iran und Sadr muss tatsächlich gut überlegen, ob er sich tatsächlich an die Spitze dieser Proteste stellt. Das hat er deshalb noch nicht getan. Es ist durchaus möglich, dass er auch persönlich zu Schaden kommt, wenn die Iraner ihn denn als eine Bedrohung ihrer Irak-Politik identifizieren."
Teheran beschuldigt die USA, bei den irankritischen Demonstrationen im Irak der Strippenzieher zu sein. Doch Ali Abd Alhuseyn, der Demonstrant vom Tahrir-Platz, weist das empört zurück:
"Die Demonstrationen haben am 25. Oktober 2019 angefangen. Die USA haben damit nichts zu tun. Wir sind das Volk. Wir sind es, von denen die Demonstrationen ausgehen."
Aus seiner Sicht geht es weder um die Interessen der USA, noch um die des Iran, noch um irgendeinen Schiitenpolitiker als Retter - sondern um etwas ganz anderes:
"Es gibt hier keine Freiheit, es gibt so viele Mängel hier. Aber am meisten fehlt uns im Irak die Freiheit."