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Spaziergang durch Molenbeek
Kampf gegen den schlechten Ruf

Seit den Anschlägen in Paris und Brüssel kennt die Welt den Stadtteil Molenbeek in der belgischen Hauptstadt als Brutstätte für Terroristen und als Symbol für Kriminalität. Hier will niemand hin oder wohnen. Aber es gibt auch ein anderes Molenbeek, wie Besucher bei einem Spaziergang mit einem Stadtführer durch das Viertel erleben können.

Von Annette Riedel |
    Marktplatz und Rathaus von Molenbeek. Der Brüsseler Stadtteil gilt als ein Ort, an dem Muslime zunehmend radikalisiert werden.
    Marktplatz und Rathaus von Molenbeek. (Deutschlandradio - Jenny Genzmer )
    An der U-Bahnstation Beekant sammelt sich an einem Samstagmorgen eine Gruppe zu einem geführten Stadtspaziergang.
    "Ja, willkommen in Molenbeek. Mein Name ist Malte Woydt. Ich bin Hamburger von Haus aus, Historiker und Politologe, seit jetzt fast 20 Jahren hier in Brüssel. Ich mach seit 18 Jahren diese alternativen Stadtführungen, die wir jetzt zusammen machen werden. Alternativ heißt, dass ich versuche, nicht nur die touristische Oberfläche hier der Stadt zu zeigen, sondern mehr zu erklären, was dahinter steckt. Das heißt, wir machen immer eine Mischung aus schöneren, weniger schönen Ecken, um besser zu verstehen, wie alles zusammenhängt."
    Malte Woydt ist ein wandelndes Buch, was die Geschichte Belgiens, Brüssels und eben Molenbeeks angeht. Heute Stadtteil der belgischen Hauptstadt, mit rund 100.000 Einwohnern, war Molenbeek, zu Beginn der Industrialisierung nicht nur eine der ersten Industriestädte, sondern auch eine der bedeutendsten. "Klein-Manchester" genannt. Lebensmittelindustrie, verarbeitende Industrie, Zulieferindustrie. Gute Schienenanbindung und der nahe Kanal zum Kohlerevier um Charleroi, südlich von Brüssel, machten es möglich. Aber Molenbeeks industrielle Hochzeit währte nicht sehr lange.
    Ein kleines Industriemuseum soll die Geschichte wahren
    "Weil die Straßen da alle viel zu eng sind und die Grundstücke alle viel zu klein sind, ist das für heutige Produktionsbetriebe völlig ungeeignet ist, sodass das Zentrum von Alt-Molenbeek praktisch vollkommen deindustrialisiert ist. Da ist überhaupt kein Produktionsbetrieb mehr."
    Aber die Ruinen von ehemaligen Industrieanlagen, wie die teilweise zerfallenden Backstein-Gebäude einer alten Gießerei.
    "Hier ist 'La Fonderie' – die haben hier gesagt: Die Jugendlichen, die hier aufwachsen, die haben das Gefühl so’n bisschen in einem 'Mülleimer-Stadtteil' zu sein und in einem völlig wertlosen Stadtteil zu wohnen. Und wenn sie irgendwo sagen, sie wohnen in Alt-Molenbeek, dann guckt man sie schief an. Und mit einer Adresse von hier haben sie Schwierigkeiten, sich zu bewerben. Und dann haben die gesagt, das ist doch eigentlich verrückt, weil diese Stadt Molenbeek eigentlich eine unglaubliche Geschichte hat. 1840 war Molenbeek eine puffende Industriestadt, als man in Deutschland noch gar nicht wusste, wie eine Dampfmaschine aussieht – 1840!"
    Um diese Geschichte zu wahren, um den Bewohnern ein bisschen etwas wie Stolz auf ihr Viertel zu geben, hat ein gemeinnütziger Verein, der ansonsten soziale Einrichtungen wie Nachhilfezirkel betreibt, hier in der alten Gießerei ein kleines Industriemuseum eingerichtet.
    Scharfschützen im Brüsseler Stadtteil Molenbeek
    Nach den Anschlägen von Paris: Scharfschützen der Polizei im Stadtteil Molenbeek. (picture alliance / dpa / Foto: Dirk Waem)
    "Was ich vorher nie erzählt habe, erzähle ich jetzt: Da vorne an der Kreuzung wohnten vier von den Terroristen. Das heißt, wir sind tatsächlich in dem Viertel, in dem die aufgewachsen sind. Da vorn um die Kreuzung rum, wohnten vier von denen. Das eignet sich als Versteck. Wo viel Marokkaner wohnen, da fallen sie nicht auf."
    "Wir sind hier auf der Chaussee de Gent, Genter Chaussee, die historische alte Handelsstraße zwischen Brüssel, Alst und Gent ..."
    Die Genter Chaussee ist heute die Haupteinkaufsstraße in Alt-Molenbeek. Hier fallen nur alle diejenigen auf, die augenscheinlich keine nordafrikanischen Wurzeln haben. Nein, man läuft nicht durch ein "Ghetto". Aber durch ein stark durch die marokkanische Gemeinschaft geprägtes Stadtbild: Alte Läden im Stil der Dorfläden, den die ersten Migranten aus Marokko in den 60er-Jahren importierten. Schicke Boutiquen, wie sie ihre Kinder oder Enkel heute betreiben. Die Frauen fast alle das Haar bedeckt. Männer sind hier weniger. Die sind hauptsächlich in den Teestuben zwei Straßen weiter.
    Natürlich ist Molenbeek nicht nur reine Idylle
    Die meisten hier sprechen zurzeit nicht mehr allzu gern mit Journalisten. Es waren zu viele hier, nach den Terroranschlägen von Brüssel. Einer von denen, die mit mir sprechen, ist Mohammed. Er mag sein Molenbeek, mag die engen Straßen, die meist kleinen Häuser, die Kultur, die mit dem EU Brüssel nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Mag das, was er die spezielle Mentalität Molenbeeks nennt.
    "Wenn man hier geboren ist, dann weiß man wirklich, wie es hier ist. Gerade Alt-Molenbeek ist und bleibt wie ein Dorf. Klar, dass die Medien so berichten, wie sie wollen. Das hat mit dem wirklichen Leben nichts zu tun. Natürlich gibt es in Molenbeek wie überall auch Probleme ... Wenn man hier aufwächst, kennt man die Mentalität. Ich mag diese Mentalität und diese Mischung der Nationalitäten, zu sehen wie andere Menschen leben. Es ist gut, nicht nur immer unter sich bleiben: Marokkaner, Belgier, Afrikaner, Türken, Albaner – immer unter sich. Besser, man lernt sich ein bisschen kennen."
    Natürlich ist Molenbeek auch nicht nur reine Idylle. Es gibt enorm viel Kleinkriminalität. Armut. Zu enge Wohnungen, für zu viele Familienmitglieder. Familiäre Gewalt. Heruntergekommene Straßenzüge. Die Arbeitslosigkeit liegt bei mindestens 30 Prozent. Bildungs- und Berufschancen sind deutlich geringer als in den betuchteren Stadtteilen Brüssels. Aber Molenbeek lässt sich nicht mit den anonymen, seelenlosen Wohnsilos der französischen Banlieues vergleichen. So sieht es auch der Stadtführer Malte Woydt.
    "Riesige Plattenbauten wie in Paris - ist hier nicht! Wir sind direkt neben der Altstadt in dem Viertel des 19. Jahrhunderts, mit Altbauten, mit kleinteiligen Gebäuden, wo die Leute ihre Nachbarn noch kennen. Wir sind nicht in Blocks, wo sich 200, 300 Leute einen gemeinsamen Eingang teilen und sich alle nicht mehr kennen, sondern hier kennen die Leute einander noch. Der soziale Zusammenhalt und die Sozialstruktur ist viel besser. Und dadurch, dass wir hier so nah an der Innenstadt sind, ist das Viertel auch nicht abgeschlossen. Es ist kein Ghetto in dem Sinne, wie das französische Viertel sind, wo man sofort auffällt, wenn man da als Außenstehender reinkommt, weil da sonst niemand so auftaucht. Hier sind wir so nah an der Innenstadt, dass hier alle immer durch müssen."
    Molenbeek in Brüssel
    Spielplatz in Molenbeek (picture alliance/dpa/Foto: Gioia Forster)
    Molenbeek ist trotzdem ein vernachlässigter Stadtteil, oder war es zumindest zu lange. Dass sich das in den vergangenen Jahren hie und da langsam zu ändern begonnen hat, mag auch etwas damit zu tun haben, dass seit 2006 länger in Belgien lebende Ausländer Kommunalwahlrecht haben. Mehr als jeder zweite Gemeinderat in Molenbeek ist heute Ausländer, erzählt Stadtführer Malte Woydt. Und zeigt auf einen Komplex mit Holz-Reihenhäusern. Sieben Stück und, im Stile von Doppelstock-Betten sozusagen, noch einmal sieben darüber.
    "Das ist was ganz spannendes."
    Passiv-Energie-Häuser. Auf billigem, weil zuvor industriell genutztem, Boden gebaut, den die Stadt gekauft hat und nach Erbpachtrecht an die Hausbesitzer verpachtet. Wegen besonders umweltfreundlicher, da energiesparender Bauweise zudem großzügig staatlich gefördert, können sich auch finanziell klamme Familien diese Immobilien leisten.
    "Und zwar arme Familien mit vielen Kindern – ab vier Kindern. Es gibt keine Sozialwohnungen in der richtigen Größe und auf dem freien Wohnungsmarkt können die sich keine großen Wohnungen leisten. Das heißt, häufig wohnen Familien mit vier Kindern dann in einer Zwei-Zimmer-Wohnung."
    In derselben Straße wie die "gestapelten" Passiv-Energie-Reihenhäuser für Großfamilien in einem Hinterhof, auf einem ehemaligen Industrie-Gelände: eine kleine grüne Oase. Ein Stadtgarten.
    "In Brüssel gibt es auch Dutzende von solchen Projekten, vielleicht auch schon fast 100 solche Projekte, in verschiedenen Ecken. Die sind zum Teil sehr unterschiedlich organisiert. Gemeinsam haben sie, dass verschiedene Leute sich zusammentun und gemeinsam ein Gartengrundstück bewirtschaften. Hier ist es so, dass die alle zusammen diese Beete haben. Es gibt andere, da hat jeder sein eigenes Beet."
    Hauptschlagader von Molenbeek war früher der Kanal
    Hier, in diesem Stadtgarten in Molenbeek, gibt es allerdings nur Hochbeete. Gepflanzt sind Gurken, Tomaten, Kräuter und Ähnliches, auch ein paar Blumenstauden, in großen Kunststoff-Wannen oder –kübeln. Die Erde ist hier in der industriellen Vergangenheit so verseucht worden, dass nichts genießbar wäre, was seine Wurzeln direkt in den Boden schlüge.
    Die industrielle Geschichte wird sichtbarer, je mehr man sich dem Kanal nähert, seinerzeit Hauptschlagader von "Klein-Manchester" Molenbeek und gleichzeitig früher Stadtgrenze zu Brüssel. Die Backstein-Fabrikgebäude haben in den letzten Jahren neue Nutzung gefunden: Ein Street-Art-Museum, direkt am Kanal, was vor wenigen Monaten eröffnet wurde. Ein "hippes" Hotel für kunst-interessierte, etwas betuchtere junge Touristen gleich nebenan. Ein Anbieter von Designer-Kleinmöbeln. Und eine Reihe von schicken Lofts.
    "Ja, das war früher ein Dorf, dann eine Arbeiterviertel, Industriearbeiter-Viertel und heute haben wir hier zum ersten Mal statistisch signifikant Akademiker wohnen – Leute mit Universitätsabschluss, weil halt hier hinten solche Loft-Projekte sind. Das sind praktisch nur die ersten 50 Meter hier am Kanal, fast ausschließlich. Ja, ich denke, wir laufen hier noch mal einen Bogen."
    Und dann ist man wieder im "marokkanischen" Viertel von Molenbeek. Mittendrin, etwa 200 Meter vom Kanal entfernt, an einem Platz, unweit des Neubaus der Polizeiwache von Molenbeek, steht ein auffälliges Gotteshaus: die katholische Kirche Saint-Jean Baptiste.
    Schon die Kirche selbst ist ungewöhnlich. 1931 eingeweiht, im Art Déco-Stil gebaut. Innen wirkt sie, mit ihren Beton-Bögen, die sich über dem Kirchenschiff wölben, und den bunten Glasscheiben als einzigem Schmuck, für eine katholische Kirche fast karg. Noch ungewöhnlicher als seine Kirche ist in diesem Umfeld der Gemeinde-Pfarrer: der dunkelhäutige Pater Aurélian Saniko aus Kamerun. Die katholische Kirche hat ihm 2013 diese christliche Gemeinde mitten im marokkanischen Viertel Molenbeeks anvertraut. Mindestens 70 Prozent der Menschen, die rund um Pater Aurélians Kirche leben, sind Muslime – hier, wo Molenbeek arm, rau, von Kleinkriminalität geprägt ist. Der katholische Pfarrer, Monsieur Le Curé, wie ihn auch die muslimischen Nachbarn nennen, scheut nicht den Kontakt zu ihnen. Im Gegenteil. Er pflegt ihn sehr bewusst.
    "Ich kümmere mich auch um junge Marokkaner; manche haben mit Drogen zu tun; manchmal beschädigt einer meine Kirche – so ist halt Molenbeek."
    Gelegentlich spielt der Pfarrer Fußball mit den Halbwüchsigen, wenn er sie auf den Stufen vor seiner Kirche herumlungern sieht. Eine Weise ihnen zu zeigen: Der Priester respektiert euch auf eurem Terrain, dem Fußballplatz.
    Das ist es, was aus Sicht des Pfarrers so vielen der jungen Leute, die in Vierteln wie Molenbeek leben, fehlt: Respekt. Und mehr noch vielleicht: Hoffnung. Menschen, die ohne das Gefühl, respektiert zu werden, ohne ein Gefühl der Hoffnung, aufwachsen, sind anfällig für Radikalisierung.
    Der Pfarrer nutzt jede Chance, mit seiner muslimischen Umgebung ins Gespräch zu kommen
    "Es stimmt schon. Die jungen Leute, die ich anspreche, wenn sie mittags auf den Stufen vor meiner Kirche herumsitzen, sagen mir, wenn ich sie frage, warum sie nicht in der Schule sind: "Aber Herr Pfarrer, ob wir nun in der Schule sind oder nicht, wir werden sowieso nie Arbeit finden. Unsere Verwandten haben alle Schulabschlüsse und finden doch keinen Job." Was man diesen Jungen geben muss: Hoffnung!"
    Es ist eine sehr kleine katholische Gemeinde, die Aurélian Saniko in Molenbeek betreut, überwiegend schwarzafrikanischer Herkunft wie er. Inzwischen hat er die belgische Staatsbürgerschaft. Manchmal spricht er seine muslimischen Nachbarn auf der Straße mit "Frères" an – Brüder. "Wir kommen schließlich alle aus Afrika", sagt er. Er nutzt jede Chance mit seiner muslimischen Umgebung ins Gespräch zu kommen.
    Dass er offensichtlich selbst einen Migrationshintergrund hat, erleichtert es dem Herrn Pfarrer, mit seinem Umfeld ins Gespräch zu kommen.
    "Vielleicht war ich als Migrant auch schon mal in der gleichen Situation wie sie. Dieser Aspekt hilft mir sehr, mich ihnen zu nähern und auch in meiner Gemeinde."
    Die versucht Pater Aurélian für seine Überzeugung zu gewinnen, dass es wichtig ist, sich zu begegnen. Dem gewachsenen Misstrauen gegenüber Muslimen, ja der Angst vor ihnen durch gegenseitiges Kennenlernen etwas entgegen zu setzen. Zu erleben, dass Muslime keine schlechteren oder besseren Menschen als Christen sind.
    Solche Begegnungen zu ermöglichen – dafür tut Monsieur Le Curé einiges. Zusammen mit dem Imam der benachbarten Moschee.
    "Ich suche den Dialog mit den Muslimen. Einmal pro Jahr gibt es Treffen zwischen ihren Vertretern und Vertreter meiner Gemeinde. Man setzt sich an einen Tisch und redet. Und Weihnachten organisiert meine Gemeinde ein großes interreligiöses Fest in der Kirche, mit bis zu 400 Besuchern – Muslimen, Christen, Juden. Ich predige, der Imam predigt, der Rabbi predigt. Wir essen und feiern gemeinsam Weihnachten."
    Auch das ist ein Teil des "etwas anderen Molenbeek". Von dem hört und liest man selten.