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SPD-Arbeitsmarktpolitik
Kein Bruch mit der "schröderschen Politik"

Das Arbeitslosengeld I sei ein Konstruktionsfehler, sagte der frühere Grünen-Politiker Hubert Kleinert im DLF. Bei den Arbeitsmarktmaßnahmen, die der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz nun anrege, handele es sich lediglich um Korrekturen in einzelnen Punkten, nicht um eine Abkehr von der Agenda 2010.

Hubert Kleinert im Gespräch mit Jonas Reese |
    Kanzlerkandidat Martin Schulz (SPD) spricht am 20.02.2017 bei der Arbeitnehmerkonferenz der SPD in Bielefeld (Nordrhein-Westfalen).
    Das Problem von Kanzlerkandidat Martin Schulz (SPD) werde sein, den "Rausch", in dem die SPD derzeit sei, durch den Wahlkampf zu retten, so der Politikexperte Hubert Kleinert im DLF. (dpa)
    Jonas Reese: Schulz rückt nach links will die Agenda 2010 entschärfen. Darüber sprechen kann ich nun mit Hubert Kleinert. Er ist Politikwissenschaftler an der Hochschule für Polizei und Verwaltung in Gießen. Guten Abend, Herr Kleinert.
    Hubert Kleinert: Guten Abend.
    Reese: Martin Schulz wird gleich wieder vorgeworfen, nicht konkret genug zu sein. Dabei hat er ja gesagt: Längeres Arbeitslosengeld 1, weniger befristete Arbeitsverträge, ein stabiles Rentenniveau. Das sind die Punkte, für die er eintreten wird. Ist das nicht schon mal was?
    Kleinert: Das Arbeitslosengeld 1, das ist ein Konstruktionsfehler. Das habe ich jedenfalls immer so gesehen. Es ist ja in der Tat ein Gerechtigkeitsproblem, wenn jemand, der 15 Jahre gearbeitet hat, die gleichen Leistungen bekommt wie jemand, der, sagen wir, drei oder vier Jahre gearbeitet hat beziehungsweise genauso schnell ins Arbeitslosengeld 2 abrutscht. Das haben ja auch schon andere zum Thema gemacht. Ich erinnere, dass Herr Rüttgers mal einen Vorschlag da gemacht hat in dieser Richtung.
    "Das sind Korrekturen an Punkten, die ich nachvollziehen kann"
    Reese: Die Rolle Rüttgers.
    Kleinert: Ja, das war so. Sieben, acht Jahre nach meiner Erinnerung liegt das zurück. Da liegt er aus meiner Sicht eigentlich sogar richtig. Was die Rente anlangt – gut, das ist nun ein Dauerthema. Da haben wir schon tausend Modelle gehabt. Ich glaube, da reicht unsere Sendezeit nicht, um in die Details zu gehen. Und mit den befristeten Arbeitsverträgen – ja, da müssen wir mal sehen, was dann im Einzelnen vorgeschlagen wird. Ich kann dem intellektuell durchaus folgen, was er da vorgeschlagen hat. Ich sehe auch jetzt erst mal nicht, dass das ein Bruch wäre mit der schröderschen Politik von damals. Das sind Korrekturen an Punkten, die ich nachvollziehen kann.
    Reese: Die Abkehr von Agenda 2010, das würden Sie so nicht bezeichnen?
    Kleinert: Das kann ich nicht erkennen. Die Substanz der Agenda-Maßnahmen hängt doch nicht an diesen Fragen. Das sind Fragen, die wichtig sind und wo ich auch Korrekturbedarf erkennen würde. Aber ich würde jetzt nicht sehen, dass Schulz dadurch die gesamte Politik der damaligen Zeit infrage stellen würde, diese Grundorientierung, Fordern und Fördern. Das ist eine Übertreibung, wie sie heutzutage üblich ist. So nehme ich das jedenfalls erst mal wahr.
    Eine Korrektur im Detail, keine Kurswende
    Reese: Aber die SPD selbst, sie feiert es ja ein bisschen als Abkehr von der Agenda 2010 und sozusagen als den Versuch, die Partei wieder zu versöhnen. Was müsste denn dann stattdessen kommen, um das wirklich wahr zu machen?
    Kleinert: Was heißt, was müsste stattdessen kommen? Ich sagte ja schon, intellektuell kann ich das gut nachvollziehen, was da vorgeschlagen worden ist. Es ist, glaube ich, heute ohnehin ein bisschen ein Problem, die Symbolik auf der einen Seite und die inhaltliche Substanz auf der anderen Seite. Manchmal wird etwas, was im Kern eine Korrektur im Detail ist, als Kurswende dargestellt, weil es einfach in die politische Landschaft passt. Das ist aber ein bisschen schwierig, da muss man aufpassen, so sehe ich das jedenfalls, wie überhaupt dieser Hype, der da im Moment ist, doch auch sehr viel mit Symbolik zu tun hat.
    Was bleibt vom Schulz-Rausch übrig in der Wahlkampfwirklichkeit?
    Reese: Noch mal die Frage. Kann er denn mit diesem Kurs die Partei versöhnen?
    Kleinert: Ich weiß nicht, ob Martin Schulz im Moment das Problem hat, die Partei versöhnen zu müssen. Die Partei ist ja fast im Rausch. Niemand hat geglaubt oder für möglich gehalten, dass die SPD so schnell wieder auf Augenhöhe mit der Union oder fast auf Augenhöhe mit der Union geraten könnte. Ich glaube, da gibt es im Moment gar nicht so furchtbar viel zu versöhnen. Das Problem, was Schulz haben wird, ist, ob das anhalten kann, ob das über viele Monate, wenn es dann tatsächlich auch darum geht, das programmatisch im Einzelnen durchzudeklinieren, was er nun eigentlich anzubieten hat, ob da nicht eine Situation eintreten kann, wo dann der berühmte Lack dann auch mal ab ist. Was zusammengefasst von dieser momentanen Stimmung, die es ja zweifellos gibt, nachdem Gabriel verzichtet hat zugunsten von Schulz, was davon in der Wahlkampfwirklichkeit der nächsten Monate übrig bleiben wird, das, glaube ich, ist das Problem von Schulz.
    "Die Große Koalition ist nach wie vor die wahrscheinlichste Regierung"
    Reese: Die Union hat nach dem heutigen Auftritt Schulz noch mal Sozialpopulismus vorgeworfen. Teilen Sie diesen Eindruck, oder kann man das schon auch ein bisschen als Abschied von der Großen Koalition für eine nächste Legislatur bewerten?
    Kleinert: Das ganz sicher nicht, denn wenn man zwei und zwei zusammenzählt, dann wird man leicht erkennen, dass die Große Koalition nach wie vor die wahrscheinlichste Regierung auch nach dem Herbst 2017 sein wird – nicht, weil das irgendjemand unbedingt möchte, sondern weil es sehr gut möglich ist, dass der Wähler eine Konstellation zustande bringt, die dann nur dieses zulassen wird. Von daher ist es ganz sicher falsch, jetzt zu sagen, Große Koalition nach Herbst 2017 ist damit vom Tisch. Ganz gewiss nicht!
    Reese: Aber laut den neuesten Umfragen hat jetzt erstmals Rot-Rot-Grün sogar die Mehrheit, wenn man dieser Emnid-Umfrage Glauben schenkt. Ist da eine Tendenz zu erkennen? Oder noch mal anders gefragt, jetzt auch vielleicht in Richtung Die Grünen, die ja bislang keine Koalitionsaussage getroffen haben: Sollte man sich da jetzt mal langsam orientieren und sich vielleicht zur SPD bekennen als möglichen Partner?
    "Ich glaube nicht recht an eine rot-rot-grüne Alternative"
    Kleinert: Jetzt ist in einer schwindelerregend kurzen Zeit die SPD aus dem ganz tiefen Umfrageloch zu Umfragehöhen emporgestiegen, die man ja nun auch mit Vorsicht genießen muss. Das sind aus meiner Sicht Stimmungslagen, die da derzeit abgefragt werden. Was man sicher sagen kann ist, dass die Bedingungen für die Sozialdemokraten sehr viel besser geworden sind, und die Wahrscheinlichkeit, dass ein deutlich günstigeres Ergebnis erzielt werden kann, als das vor wenigen Wochen noch wahrscheinlich war, ist natürlich viel größer geworden. Daraus würde ich die Schlussfolgerung ziehen, dass sich in der Tat vielleicht Möglichkeiten abzeichnen, die man vor einigen Wochen für vollkommen ausgeschlossen hätte halten können. Aber ich glaube nicht recht an eine rot-rot-grüne Alternative, weil zum einen misstraue ich ein wenig dieser Stimmung. Zum anderen kann ich mir es schlecht vorstellen, wie - wenn es wirklich auf Rot-Rot-Grün zuliefe, wie das dann halten soll in der Gesellschaft. Und das Dritte: Ich sehe auch nicht richtig, wie es dann praktisch umgesetzt werden könnte zwischen diesen drei Parteien. Ich sehe das mit einer gehörigen Portion Skepsis. Richtig ist allerdings, dass man gut daran tut, im Moment gar nichts auszuschließen, auch nicht Rot-Rot-Grün.
    Reese: … sagt Hubert Kleinert, Politologe an der Hochschule für Polizei und Verwaltung in Gießen, und er war Gründungsmitglied der Grünen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.