Capellan: Das Sommerinterview im Deutschlandfunk, herzlich willkommen Andrea Nahles. Wir treffen uns in aller Regel in Berlin, dieses Mal aber treffen wir uns unweit Ihrer Heimat. Wir sind zu Gast im Bundesamt für Ausrüstung der Bundeswehr in Koblenz. Sie haben sich ein Bild von der Lage der Truppe gemacht. Die ist ja nicht die beste und die Sozialdemokraten müssen also ein wenig den Spagat üben, einerseits mehr Geld in die Hand nehmen, andererseits ist die SPD auch die Partei, die für Abrüstung steht, die für eine Begrenzung der Waffenexporte steht, die Partei auch, von der eine starke Antwort auf den amerikanischen Präsidenten erwartet wird. Der macht ja nach wie vor Druck, Stichwort Zwei-Prozent-Ziel, Deutschland müsse weit mehr Geld in die Hand nehmen und für die NATO bereitstellen. Welche Antwort haben Sie auf Trump?
Nahles: Ja, zunächst einmal glaube ich, müssen wir Deutschen darauf hinwirken, dass in Europa die Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiter koordiniert wird. Wir brauchen eine europäische Verteidigungsstrategie, wir brauchen letztendlich auch eine europäische Rüstungsstrategie. Das ist meiner Meinung nach auch die Antwort auf Donald Trump und alle anderen. Wir müssen da auch in der Linie, wie es Heiko Maas ja jetzt auch gesagt hat, insgesamt selbstbewusster werden. Dafür sind wir auch durchaus gewillt und bereit, zusätzliche Mittel zu investieren.
Capellan: Und Heiko Mass hat jetzt offenbar sofort Begehrlichkeiten geweckt bei der Union. Volker Kauder, der Unionsfraktionsvorsitzende, hat gesagt, ja, wenn das so ist, dann muss man doch entsprechend auch mehr Geld bereitstellen. Sind Sie da bei Kauder?
Nahles: Nein, der Verteidigungsetat ist unter dem Finanzminister Olaf Scholz so stark gewachsen wie seit über zehn Jahren nicht. Das machen wir, weil wir eben glauben, dass die Bundeswehr auch ein Stück weit kaputtgespart wurde. Wir gehen jetzt einen anderen Weg. Wir glauben, wir müssen wieder mehr investieren, um die Sicherheit übrigens auch der Soldatinnen und Soldaten in den Einsatzgebieten zu gewährleisten. Wenn ich höre, da fehlt es an allen Ecken und Enden, aber dieses Zwei-Prozent-Ziel mit Verlaub, das können wir so nicht akzeptieren.
Capellan: Wie viel ist denn da drin aus Sicht der SPD?
Nahles: Also, wir haben jetzt eine Verständigung und da hat Frau von der Leyen auch Ja zu gesagt und darauf muss ich dann auch hinweisen, dass wir auf 1,5 Prozent gehen. Damit erhöhen wir sukzessive den Verteidigungsetat und wir brauchen uns von niemandem, schon mal gar nicht vom amerikanischen Präsidenten, an irgendeiner Stelle Druck machen zu lassen.
"Entscheidungswahl für die Zukunft unseres 'Way of Life'"
Capellan: Sie haben Heiko Maas selbst angesprochen, sein Gastbeitrag im "Handelsblatt" in der vergangenen Woche zur neuen Strategie im Umgang mit den Amerikanern, ganz so neu war das nicht. Er hat von "Europe United" gesprochen. Das müsse die Antwort sein auf den amerikanischen Präsidenten. Das habe ich aus Ihrem Munde auch schon des Öfteren gehört. Ein vereintes Europa, woher nehmen Sie den Optimismus, dass Trump Europa wirklich wird zusammenführen können?
Nahles: Ich sage mal so, wir haben ja in dem nächsten Jahr eine Europawahl und ich glaube, wir sollten allen Wählerinnen und Wählern in Europa die Bedeutung dieser Wahl klarmachen. Es gibt ausgewiesene Kräfte wie zum Beispiel Orbán, Salvini, die auch auf Twitter überall sehr offen sagen sie, sie wollen diese Europawahl zu einer Entscheidungswahl machen mit dem Ziel, das Europa, das wir kennen, zu zerstören. Diese Herausforderung haben wir also nicht nur von Trump, sondern die ist im eigenen Laden, wenn Sie so wollen, und ich glaube, deswegen ist diese Europawahl nicht so eine wie die letzten, sondern es ist eine entscheidende Wahl und daraufhin zu mobilisieren, das kann man erreichen, wenn man diese Europawahl wirklich politisch so einordnet, wie sie eingeordnet werden muss, nämlich als eine Entscheidungswahl für die Zukunft unseres "Way of Life", denn es geht am Ende doch darum, ob wir weltoffen bleiben, demokratisch bleiben, ob wir am Ende des Tages zusammenstehen und zusammenarbeiten und diese Zusammenarbeit sogar noch vertiefen oder ob jetzt wieder jeder für sich selber erklärt, "Austria First" und "Hungary First" und alle sind die Ersten, am Ende funktioniert es zusammen aber nicht.
Capellan: Weil Sie die Europawahl gerade ansprechen, hat die SPD schon einen Kandidaten, mit dem sie da ins Rennen gehen möchte? Hat sie nicht, aber Sie haben bestimmt eine Idee.
Nahles: Also, ich bin in Gesprächen.
Capellan: Auch mit Martin Schulz?
Nahles: Ich rede regelmäßig mit Martin Schulz, aber es hat nicht den Fokus der Spitzenkandidatur.
"Die Türkei gehört bei allen Schwierigkeiten zu Europa"
Capellan: Dann lassen Sie uns auf die Einigung Europas noch einmal zu sprechen kommen. Trump, der neue Allianzen möglich macht, das kann man sicherlich so sehen, Sie sind gescholten worden dafür, dass Sie jetzt auch eine Zusammenarbeit mit der Türkei in Aussicht gestellt haben, insofern, dass Sie gesagt haben, notfalls müsse man der Türkei, die ja insbesondere gerade aktuell unter den amerikanischen Sanktionen zu leiden hat, wirtschaftlich helfen.
Nahles: Ich habe gesagt, man muss Ihnen helfen, ja. Warum? Weil es uns nicht egal sein kann.
Capellan: Also keine Finanzhilfen?
Nahles: Das habe ich nicht ausgeschlossen. Ich habe da drüber gar nicht geredet. Ich habe nur festgestellt, wissen Sie, dass sogar ganze Sendungen damit bestritten wurden, dass ich angeblich Finanzhilfen in Aussicht gestellt habe. Das habe ich keinesfalls. Da hat der IWF eine Rolle, da haben andere Akteure eine Rolle. Ich wollte eigentlich nur meine Verbundenheit zeigen. Ich wollte auch zeigen, dass eben die Türkei bei allen Schwierigkeiten, die wir mit der aktuellen Regierung unter Erdogan haben, für uns zu Europa gehört, ein wichtiger NATO-Partner ist und ein Stabilitätsfaktor in der Region.
Capellan: Dürfen wir denn als Wertegemeinschaft, als europäische Wertegemeinschaft unsere Werte infrage stellen, gar aufgeben, weil die Wertegemeinschaft mit den Amerikanern derzeit bröckelt?
Nahles: Nein, natürlich nicht.
Capellan: Also welche Bedingungen würden Sie stellen mit Blick auf Hilfen für die Türkei?
Nahles: Wir sind noch nicht an dem Punkt, dass wir der Türkei jetzt aktuell Hilfe leisten können.
Capellan: Aber Sie haben sie ja ins Gespräch gebracht, diese Hilfen.
Nahles: Ja, aber ich muss ganz ehrlich sagen, wir warten doch erst einmal ab, wie die Sache sich entwickelt. Wir sind nicht an dem Punkt, dass uns die türkische Regierung um Hilfe gebeten hätte oder dass das in irgendeiner Form konkret wäre, und darüber hinaus erwarte ich von der Türkei, dass sie Leute, die seit über einem Jahr, Deutsche oder auch andere Länder, ohne Haftbefehl inhaftiert werden, auch freilassen.
"Die SPD ist gegen ein Anheben des Renteneintrittsalters"
Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit der SPD Partei- und Fraktionsvorsitzenden Andrea Nahles. Lassen Sie uns auf die Innenpolitik schauen. Die SPD macht seit einigen Tagen von sich reden, weil Olaf Scholz, ihr Finanzminister, die Rente für sicher erklären möchte bis zum Jahr 2040. Der Koalitionspartner, die CDU/CSU, spricht bereits von schierem Populismus. Warum haben Sie ohne Not und Anlass jetzt ein solches Versprechen ausgegeben?
Nahles: Wir haben einen sehr konkreten Anlass, denn wir werden wie verabredet in der Koalition eine Sicherungsgarantie für das Rentenniveau bis zum Jahre 2025 abgeben, das schon sehr bald. Das ist in den letzten Zügen in der Absprache zwischen den Ressorts. Gleichzeitig habe ich mich gefragt, warum will die Union eigentlich nicht, dass wir diese Sicherheitsgarantie, dass wir also das Absinken der Kaufkraft der Renten über das Jahr 2025 hinaus gewährleisten.
Capellan: Kann man eine solche Garantie wirklich geben?
Nahles: Das kann man machen, man muss es politisch natürlich wollen.
Capellan: Man muss viel Geld in die Hand nehmen. Experten sagen, das kostet 100 Milliarden Euro, Prognos-Institut.
Nahles: Wissen Sie, ich würde jetzt gerne mal kurz sagen, warum. Sie haben mich nämlich gefragt, warum sind wir für das Jahr 2040 und die Union ist dagegen und da habe ich eine ganz klare Vermutung. Wir hatten eine große Rentendebatte 2016 gehabt und da haben wir tatsächlich erlebt, dass die Union diese Sicherheitsgarantie, die macht nämlich nur Sinn, wenn man gleichzeitig nicht das Renteneintrittsalter erhöht. Würde man nämlich das Renteneintrittsalter weiter erhöhen, als wir das bereits gemacht haben, dann würde das halt klar eine Rentenkürzung bedeuten. Eine Sicherheitsgarantie also ist nur viel wert, wenn wir gleichzeitig nicht eine pauschale Erhöhung des Renteneintrittsalters machen.
Capellan: Also das heißt, Sie würden auch eine Garantie abgeben wollen, kein Renteneintrittsalter, keinen Monat mehr über das Alter 67 Jahre bis zum Jahre 2040 hinaus. Mit den Sozialdemokraten ist das nicht zu machen, kann man das auch versprechen?
Nahles: Die SPD ist gegen ein Anheben des Renteneintrittsalters. Herr Spahn, Schäuble, viele, die sich in der Union in den letzten Jahren dazu geäußert haben, sind explizit anderer Meinung. Sie schlagen sogar einen Automatismus vor, dass praktisch mit der Lebenserwartung, die ja langsam steigt, das Renteneintrittsalter erhöht wird. Ich sage Ihnen, deswegen haben wir in den nächsten Monaten einiges zu klären. Wir haben ja dazu auch eine Rentenkommission gebildet, die die unterschiedlichen Vorstellungen bewerten muss, die auch eigene …
Capellan: Ja, Entschuldigung, das wird Ihnen ja gerade vorgeworfen, dass Sie diese Rentenkommission und die Bewertung nicht abgewartet haben, sondern jetzt vorsprechen mit einem solchen Versprechen.
Nahles: Wieso das denn? Diese Kommission soll sich die unterschiedlichen Vorschläge, die im politischen Raum sind, angucken und bewerten und vielleicht eigene Vorschläge machen.
Capellan: Unter anderem auch das Renteneintrittsalter. Das steht auch zur Disposition.
"Wenn die Babyboomer in Rente kommen, ausgerechnet dann soll die Sicherheitsgarantie laut Union auslaufen"
Nahles: Genau, das bedeutet aber, dass wir als Sozialdemokraten natürlich unsere Vorstellungen formulieren können und unsere Vorstellung ist, dass gerade für die jüngere Generation von größter Wichtigkeit ist, dass auch sie auf die gesetzlichen Renten in dem Zeitpunkt setzen kann, wenn sie in Rente geht. Momentan sind doch die Rentnerinnen und Rentner, jedenfalls die meisten, in einer Situation, wo sie ein verlässliches Rentenniveau noch haben. Das, was wir aber Anfang der 2000er Jahre in die Rentenformel reingeschrieben haben, ist doch, dass sich die Löhne und die Renten entkoppelt haben. Das heißt also, die Renten wachsen nicht mehr mit den Löhnen mit. Das ändern wir jetzt. Das kehren wir jetzt wieder um und das bedeutet aber, dass dann im Jahre 2025, wenn die ganzen Babyboomer in Rente kommen, ausgerechnet dann soll die Sicherheitsgarantie laut Union auslaufen. Wir wollen, dass sie auch für die gilt, die in meinem Alter sind, dass sie sich immer darauf verlassen können, dass unser Staat eine starke gesetzliche Säule in der Rentenversicherung garantiert. Dass das nicht zum Nulltarif zu haben ist, das weiß ich auch. Dass das sogar erhebliche Anstrengung im Haushalt bedarf, weiß ich auch, aber mit Verlaub, es ist auch das zentrale Versprechen unseres Sozialstaates, dass man in dem Moment, wo man nicht mehr arbeiten kann, die nötigen Mittel dafür hat.
Capellan: Also Sie wollen es im Grunde, entnehme ich dem, finanzieren über mehr Steuermittel? Es gäbe ja auch noch den Weg, etwa Beamte und Selbstständige einzubeziehen in die gesetzliche Rentenversicherung, also die Zahl der Beitragszahler größer zu machen.
Nahles: Genau, das will ich auch, ja, genau, wir fordern seit Langem eine Erwerbstätigenversicherung und wir haben einen großen Erfolg erreicht, denn verabredet ist, dass im nächsten Jahr die Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung integriert werden können.
Capellan: Können.
Nahles: In dem Maße, wie das bisher nicht der Fall war. Wir haben eine Versicherungspflicht verabredet.
Noch kein Konsens mit Union bei Beamten in der Rentenversicherung
Capellan: Und Beamte?
Nahles: Beamte war nicht möglich, einen Konsens zu erzielen, ist aber eine Forderung der SPD.
Capellan: Olaf Scholz hat ja von einem Rentenwahlkampf gesprochen. Da würde dann auch diese Forderung erscheinen, Beamte in die Rentenversicherung?
Nahles: Ja, das fordern wir übrigens nicht erst seit gestern, sondern in den letzten beiden Wahlprogrammen der SPD können Sie das nachlesen. Wir fordern eine Erwerbstätigenversicherung, heißt, alle Erwerbstätigen, Beamten, Selbstständigen zahlen ein.
Capellan: Aber mit der Union wird es da nie eine Mehrheit für geben.
Nahles: Nun ja, ich sage Ihnen, wir haben bis vorletztes Mal gedacht, wir bekommen auch keine Öffnung mit der Union hin in Bezug auf die Selbstständigen und was soll ich Ihnen sagen, in den letzten Koalitionsverhandlungen ist es uns gelungen. Also ich sage da, steter Tropfen höhlt den Stein und mit wem wir Koalitionsverhandlungen beim nächsten Mal führen werden, das wissen wir, ehrlich gesagt, auch noch nicht.
Qualifizierte Zuwanderung "sehr gut für die Rente"
Capellan: Wie wichtig ist die qualifizierte Zuwanderung für die Sicherung des Rentensystems?
Nahles: Sehr wichtig ist sie vor allem für die deutsche Wirtschaft und daher brauchen wir auch das Fachkräftezuwanderungsgesetz und es ist für die Rente auch gut, aber nicht alleinentscheidend. Nützlich für die Rente ist ja nur, wenn sozialversicherungspflichtige Beschäftigung am Ende steht und da kann ich wirklich sagen, da haben wir, bevor 2015 die große Flüchtlingswelle kam, schon im Durchschnitt des Jahres 400.000 Leute gehabt, die zu uns gekommen sind aus dem europäischen Ausland und die gut integriert waren, sehr viele von denen sofort in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Das ist super und wenn wir jetzt hören, dass über 300.000 Menschen, also Flüchtlinge, die jetzt in den letzten Jahren gekommen sind, auch schon in sozialversicherungspflichtiger Arbeit sind, dann ist das alles sehr gut für die Rente.
"Bezahlbarer Wohnraum ist die neue soziale Frage"
Capellan: Die Union blockiert da gerade, gerade mit Blick auf den sogenannten Spurwechsel, also den Wechsel von der Asylgesetzgebung in die Einwanderungsgesetzgebung. Die Union blockiert auch bei der Rente ganz aktuell. In der kommenden Woche sollte auch die Reform des Mietrechts im Kabinett sein. Wie sieht es aus? Sie haben gesagt, diese Koalition muss liefern. Kann sie liefern? Können Sie liefern oder sehen Sie sich immer noch im Streit der Union gefangen, dass bis zur Landtagswahl in Bayern insbesondere da nicht viel laufen wird?
Nahles: Also, ich bin nicht sehr zufrieden mit den Entwicklungen, gerade in den letzten zwei Wochen. Ich dachte, nach dem Sommer, da geht es jetzt so richtig los. Wir beobachten aber, dass hier vieles weiter stockt. Trotzdem würde ich jetzt mal sagen, wir reden, wir versuchen, Wege freizumachen, denn es geht ja hier nicht um irgendwelche parteiinternen Auseinandersetzungen oder Landtagswahlen in Bayern, sondern wir haben ein akutes Problem, gerade im Bereich der Mieten. Bezahlbarer Wohnraum ist die neue soziale Frage, mehr aus Schutz auch für Mieter, die gezielt zum Beispiel herausmodernisiert werden aus ihren Wohnungen, wo sie vielleicht schon seit Jahrzehnten heimisch sind. Und deswegen erwarte ich von der Union, dass sie, im Interesse unseres Landes, jetzt einfach die bereits ausgehandelten Gesetzesvorhaben auch freigibt.
"Die Mietpreisbremse ist kleingehäckselt worden von vielen Lobbyisten"
Capellan: Jetzt sagt der wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums, die Mietpreisbremse hat überhaupt nichts gebracht. Man sollte sie lieber abschaffen.
Nahles: Wir reden ja auch hier nicht über die Mietpreisbremse ...
Capellan: Aber das gehört ja auch zum Konzept.
Nahles: ... Mit Verlaub, die ist ja auch kleingehäckselt worden von vielen Lobbyisten. Die ist nicht so gekommen, wie sie eigentlich ursprünglich gedacht war. Da wird jetzt ein Stück weit nachgelegt und es wird jetzt vor allem etwas angepackt, was hoffentlich gezielter wirkt.
Capellan: Die Modernisierungsumlage.
Nahles: Ja, man kann zwar modernisieren, man darf aber nur einen bestimmten Teil der Summe dann auf die Mieter umlegen, damit eben Modernisierung nicht zum letztendlich Rausdrängeln führt. Froh bin ich aber auch, denn das Wichtigste ist jetzt einfach auch, neu zu bauen, dass es gelungen ist, zusätzlich Mittel auch für den sozialen Wohnungsbau noch einmal zu bekommen, 2,5 Milliarden, und wir wollen auch durch eine Sonderabschreibungsmöglichkeit den Mietwohnungsbau fördern im privaten Bereich. Wir werden jetzt schon einiges auf den Weg schieben, um eben eine Entlastung auf den Wohnungsmarkt in Deutschland zu bringen und das ist auch dringend notwendig.
Bei Sozialstaatsreform "nicht an einzelnen Instrumenten herumwerkeln"
Capellan: Sie haben auch Veränderungen bei Hartz IV angekündigt, in Aussicht gestellt, ein wichtiges Thema für die SPD. Das hängt Ihnen seit der Agenda-Politik von Gerhard Schröder noch nach. Sie wollen an einer Stellschraube drehen, wenn ich das richtig verstanden habe, Sanktionsmöglichkeiten abschaffen für jüngere Hartz IV-Empfänger, für die unter 25-Jährigen. Bringt das etwas, wenn man nur einen solchen Punkt herausnimmt oder muss man Hartz IV grundsätzlich auf die Probe stellen?
Nahles: Wissen Sie, das war ein Interview mit Kollegen von Ihnen, die mich dann gefragt haben, was wir machen wollen. Da habe ich gesagt, wir machen eine größere Sozialstaatsreformdebatte in der SPD. Wir können nicht an einzelnen Instrumenten herumwerkeln. Ich halte das für wichtig, dass wir uns alles genau angucken und auch den Mut haben, nach vorne vielleicht auch ein paar grundlegende Veränderungen vorzuschlagen. Also wir werden in der SPD eine umfassende Debatte darüber führen mit dem Ziel, allerdings nicht an der Vergangenheit festzukleben, also in der Hartz IV-Debatte, sondern wirklich, wie sollte der Sozialstaat in Zukunft funktionieren, damit er möglichst wenig bürokratische Hürden hat, damit möglichst viele Leute schnell zu ihrem Recht kommen und damit er möglichst gerecht ist. Ein Beispiel, wo es nicht gut gelaufen ist, das habe ich dann genannt. Wir haben verschärfte Sanktionen verabredet für Jugendliche. Es gibt also Sanktionen und es gibt verschärfte Sanktionen für Junge. Der Effekt davon ist aber genau das Gegenteil. Die werden dann oft nicht mehr gesehen in den Einrichtungen, zum Beispiel der Bundesagentur, die ihnen helfen könnten, im Übergang von der Schule in den Beruf. Wir verlieren die Leute einfach und wir können denen dann nicht mehr unter die Arme greifen. Ergebnis, wir haben 1,3 Millionen Menschen ohne Berufsabschluss, gerade junge Menschen. Das kann's nicht sein.
Capellan: Sie sind in diesem Sommer, auf diesen Punkt möchte ich noch zu sprechen kommen, auch in den Braunkohleabbaugebieten in Deutschland, in der Lausitz, aber auch in Jülich in Nordrhein-Westfalen, gewesen. Stichwort Kohlekommission, Stichwort Reaktion auf den Klimawandel, wir reden viel über diesen heißen Sommer. Experten sagen uns, der Klimawandel ist angekommen. Die SPD stellt die Umweltministerin. Warum passiert so wenig in der Umweltpolitik, in der Klimapolitik, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in den Jamaika-Verhandlungen zehn alte Kohlekraftwerke bereits abgeschaltet werden sollten, dass man da Termine hatte, so weit ist die Große Koalition nicht und offenbar war ja die Union zu Zugeständnissen bereit. Warum nimmt eine SPD-Ministerin das nicht auf?
Nahles: Also zunächst einmal sind wir verpflichtet auf die Klimaschutzziele von Paris 2030, die sind völkerrechtlich bindend.
Capellan: Pardon, nachdem man die eigenen Ziele der Bundesregierung 2020 kassiert hat.
Nahles: Nein, indem wir ehrlich waren. Man kann auch die Leute belügen, aber selbst die Grünen hätten mit ihren Vorschlägen diese Ziele nicht erreicht. Das kann man dann auch ehrlich sagen, um auch den Druck zu erhöhen, die 2030-Zielmarke ernster zu machen. Die Braunkohle ist nicht die Zukunft in unserem Land. Das wissen übrigens auch die Menschen in der Lausitz oder im rheinischen Abbaugebiet, aber wer wirklich nichts zum Klimaschutz beigetragen hat, ist in den letzten Jahren insbesondere der Verkehrssektor, die Landwirtschaft und andere Sektoren. Was wir eigentlich nur wollen, ist dass alle beitragen müssen. Dazu wird sicher die Kohle auch gehören müssen, aber nicht nur. Würde man jetzt zum Beispiel sofort sämtliche Kohlekraftwerke in Deutschland schließen, dann würden die Klimaziele von Paris 2030 nicht erreicht werden. Das zeigt nur, dass wir ein bisschen mehr tun müssen, als nur auf die Kohle zu gucken. Ich jedenfalls sehe die SPD als die einzige Partei, die versucht, diese beiden schwierigen Aufgaben unter einen Hut zu kriegen und nicht nur auf die eine oder auf die andere Karte zu setzen.
Capellan: Nur flüchtet sich, Sie haben es selber angedeutet, auch diese große Koalition in Kommissionen, denn was die Verkehrswende angeht, auch da gibt es eine Kommission, die meines Wissens ihre Arbeit noch nicht einmal begonnen hat.
Nahles: Richtig, da muss Dampf gemacht werden. Ich sage Ihnen das ganz klar. Mir ist das in der Beschäftigung mit der Kohlefrage jetzt noch einmal klargeworden, wie wesentlich eigentlich Gebäude, Landwirtschaft und Verkehr sind, um unsere Klimaschutzziele in Deutschland wirklich effektiv erreichen zu können, aber es ist auch klar, dass wir auf Dauer keine Perspektive sehen in Deutschland für Kohle. Nichtsdestotrotz verdienen die Menschen in der Region, dass man ihnen eine faire Chance gibt, adäquate Ersatzarbeitsplätze zu bekommen.
"Die Arbeit muss ja jetzt erst einmal in Fahrt kommen"
Capellan: Lassen Sie uns zum Schluss noch einmal vom Klimawandel zum kleinen Klima der Koalition kommen. Da haben Sie ja schon angedeutet, dass das mitunter recht schwierig ist. Es gibt ja auch diese Revisionsüberprüfungsklausel im Koalitionsvertrag - wenn das nicht so klappt mit den Zielen, was man sich vorgenommen hat. Wo stehen Sie? Können Sie sich vorstellen, dass die SPD irgendwann die Reißleine zieht und sagt, wir können in dieser Koalition nicht mehr weitermachen?
Nahles: Also, darüber spekuliere ich jetzt nicht. Wir haben die Revisionsklausel für Ende 2019 in den Koalitionsvertrag geschrieben und da warten wir doch erst einmal ab. Die Arbeit muss ja jetzt erst einmal in Fahrt kommen.
Capellan: Blockiert denn der Streit der Union, da ging es ja vor allen Dingen um die Rückweisung an den Grenzen, es ging teilweise aber auch um Abschiebung, blockiert der weiterhin die Arbeit der Bundesregierung?
Nahles: Nun, das werden wir sehen. Ich bin jedenfalls entschlossen, dass wir als Sozialdemokratie darauf drängen, die Politik, die wirklich den Leuten unter den Nägeln brennt, das ist Rente, Pflege, bezahlbarer Wohnraum, auch zum Mittelpunkt unserer Regierungsarbeit zu machen.
"Wir müssen innerhalb von einer Woche klären, ob jemand Schutzstatus bekommt oder nicht"
Capellan: Und Abschiebung, ist das nicht auch ein Thema, was die Leute interessiert, wenn ich an den Fall Sami A. denke, der scharf diskutiert wird momentan, wo sich viele Leute fragen, ein Tunesier, der abgeschoben worden ist, der Sympathisant von Osama bin Laden, Zuträger möglicherweise war, der Hartz IV bezogen hat in Deutschland, der jetzt wieder zurückgeholt werden soll nach Deutschland, können Sie das den Anhängern Ihrer Partei, den Bürgern, den Wählern noch vermitteln?
Nahles: Das ist schwer zu erklären, ehrlich gesagt. Es sind offensichtlich Fehler gemacht worden. Insbesondere hat es keinen rechtsstaatlich sauberen Antrag auf Abschiebung gegeben und ich sage Ihnen auch, dass Gerichtsentscheidungen in Deutschland gültig bleiben müssen.
Capellan: Aber bedarf es vielleicht neuer, verschärfter Gesetze, um schneller abschieben zu können? Es wird ja argumentiert beispielsweise damit, dass Sami A. die Folter drohen könnte in Tunesien. Auf der anderen Seite ist Tunesien zu einem sicheren Herkunftsstaat erklärt worden. Das möchte zumindest die Bundesregierung. Das passt irgendwie nicht zusammen.
Nahles: Ich möchte, dass diese Länder zu sicheren Herkunftsstaaten ernannt werden. Das wird derzeit im Bundesrat von den Grünen blockiert. Dann könnten die Gerichte auf der jetzigen Rechtsgrundlage das auch anders handhaben. Wir haben im Rahmen dieser aufgeregten Debatte vom Sommer, die ja Herr Seehofer angezettelt hatte, darauf gedrungen, dass es ein beschleunigtes Asylverfahren gibt. In Deutschland muss es eben möglich sein, innerhalb von einer Woche zu klären, ob jemand Schutzstatus bekommt oder nicht. Das gelingt den Niederländern. Warum soll es in Deutschland nicht möglich sein, und zwar auf der Basis rechtsstaatlicher Prinzipien. Denn zu Recht sagen die Leute, da kann doch irgendwo was nicht stimmen, wenn hier im Grunde die Falschen abgeschoben werden, Leute, die gut integriert sind und Gefährder nicht abgeschoben werden können.
Capellan: Über allem steht ja auch der Druck, der durch den Erfolg der AfD ausgeübt wird, auch mit Blick auf die Politik, wenn ich jetzt an Sachsen denke. Da haben wir einen Mitarbeiter des Landeskriminalamtes, der an einer Pegida, einer AfD-nahen Demonstration teilnimmt. Können Sie das ertragen? Müssen Sie das ertragen können?
Nahles: Also, ich finde es absolut nicht in Ordnung, was dann passiert ist, dass da jemand sich an einer Demonstration beteiligt, nun, das ist auch ein freier Bürger. Dass er dann aber pöbelt und das ZDF behindert und die Polizei dann nicht etwa gegen den Pöbler vorgeht, sondern gegen die Journalisten, da fängt doch der Skandal erst an. Das ist leider auch nicht das erste Mal, dass solche Sachen berichtet werden aus Sachsen.
"Ich sage nicht Nein zu Rot-Rot-Grün, aber ich sehe momentan, dass sich da noch etwas bewegen muss"
Capellan: Als Kontrapunkt zu den Rechten im politischen Spektrum Deutschlands bildet sich gerade eine sogenannte linke Sammlungsbewegung. Fürchten Sie diese Bewegung?
Nahles: Nein, ich fürchte diese Bewegung nicht. Es ist eine Bewegung, die zumindest, was die SPD angeht, einen relativ kleinen Teil der Leute anspricht. Ich glaube, dass wir insgesamt eine sehr interessante Veränderung im Parteiensystem haben. Wir haben mittlerweile in Deutschland 13 verschiedene Regierungskonstellationen in 16 Bundesländern.
Capellan: Und die Union macht Ihnen gerade einen letzten möglichen Koalitionspartner, die Linkspartei, streitig. Rot-Rot-Grün ist für sie tot. Man hat auch nie linke Mehrheiten, die es ja gab, genutzt. Wird sich das zur nächsten Wahl ändern?
Nahles: Nein, man kann nicht einfach rechnerische Mehrheiten nutzen, wenn es keine politische Gemeinsamkeit gibt und wenn wir Rot-Rot-Grün wollen, dann muss es dafür auch eine belastbare politische Schnittmenge von Gemeinsamkeiten geben. Und wenn in allen wesentlichen außenpolitischen Fragen, ich betone, in allen wesentlichen außenpolitischen Fragen, die Linkspartei überhaupt keine Schnittmenge mit Grünen und SPD hat, dann wird es halt schwierig und deswegen: we will see. Ich sage nicht Nein zu Rot-Rot-Grün, aber ich sehe momentan, dass sich da noch etwas bewegen muss, insbesondere bei der Linkspartei.
Capellan: Andrea Nahles, ich danke herzlich für das Gespräch.
Nahles: Danke.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.