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SPD-Fraktionschef Steinmeier
Union will Finanzministerium behalten

SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier sieht kaum Möglichkeiten, das Finanzressort doch noch für seine Partei zu reklamieren. Es sei klar, dass die Union um dieses Amt kämpfe.

Frank-Walter Steinmeier im Gespräch mit Frank Capellan |
    Frank Capellan: Herr Steinmeier, was für eine Woche! Der Koalitionsvertrag steht - ob es die Große Koalition allerdings geben wird, das liegt nun allein in der Hand von 470.000 SPD-Mitgliedern. Das hat es auch noch nie gegeben. Auch nicht, dass wir immer noch nicht wissen, wer uns denn regieren wird und ob Sie als Außenminister oder als Fraktionschef ins Rennen gehen. Warum muss das so sein?
    Frank-Walter Steinmeier: Das ist eine Premiere, die hier gewagt wird, in der Tat. Aber es ist Demokratie und ich finde, eine zeitgemäße Demokratie. Früher sind Parteivorstände, gelegentlich auch Parteitage befragt worden, ob eine Koalitionsvereinbarung innerlich auf Zustimmung stößt innerhalb einer Partei. Wir befragen jetzt die Mitglieder. Und ich glaube, das ist nicht nur wegen der Großen Koalition, sondern auch, weil die Mitglieder heute stärkere Beteiligung erwarten, richtig so! Und deshalb werden wir uns der Anstrengung unterziehen, jetzt noch ein paar Tage, auch die Wochenenden unterwegs zu sein, um auf Regionalkonferenzen – wie wir das nennen – diese Koalitionsvereinbarung in allen Inhalten vorzustellen.
    Capellan: Aber noch mal gefragt nach der Mannschaft. Da ist doch im Grunde entschieden, wer ins Kabinett geht. Da hat die Kanzlerin nicht widersprochen, dass dem nicht so sei. Warum kann man das den Mitgliedern dann nicht auch sagen?
    Steinmeier: Zunächst mal war es ein starker Wunsch aus unserer Mitgliedschaft jedenfalls heraus, dass wir die Chance haben, über die Inhalte der Koalitionsvereinbarung zu sprechen, ohne dass Personen und Funktionen dabei im Vordergrund stehen.
    Capellan: Aber kann man denn die Inhalte von den Personen wirklich trennen? Denn es geht ja nicht nur um die Personen, es geht auch um die Ressortzuschnitte, und da kommt es ja für die Mitglieder darauf an, zu sehen: Welche Ministerien haben wir? Was bekommen wir für uns? Welche Prioritäten setzt die deutsche Sozialdemokratie in dieser Koalition?
    Steinmeier: Ja, dass man das trennen kann, das sehen Sie ja an der Art und Weise, wie wir es jetzt versucht haben. Ich glaube sogar, dass das auf Überzeugung gestoßen ist, dass nicht nur diejenigen in einer Partei, die sich Hoffnung machen können auf ein Ministeramt, ihren Bereich mit Ehrgeiz verhandeln, sondern da niemand weiß, ob er am Ende Berücksichtigung im Kabinett finden wird, müssen alle mit demselben Ehrgeiz in allen Politikbereichen für ein gutes Ergebnis sorgen. Und das hat, glaube ich, im Ergebnis jetzt die Koalitionsvereinbarung eher besser gemacht, als ich das aus früheren Beispielsfällen kenne.
    Capellan: Sie persönlich gelten als einer der wenigen, der auch das Finanzressort führen könnte. Warum machen Sie es nicht?
    Steinmeier: Ja, das ist ja … das hat ja nichts mit meinen persönlichen Wünschen oder Erwartungen zu tun, sondern ob das Finanzressort an die SPD fällt oder an die CDU/CSU ist eine Frage, die sicherlich zu den ersten gehört, die besprochen werden muss zwischen den Parteivorsitzenden. Aber das ist keine Frage von Wunsch und Vorstellung einzelner Personen – auch nicht von mir.
    Capellan: Aber Sigmar Gabriel möchte es nicht haben. Er hat durchblicken lassen, in seinen Augen ist das ein Verlierer-Ressort.
    Steinmeier: Na, ich lese das immer wieder. Ich bin erstaunt über die Gewissheit, mit der solche Dinge behauptet werden. Es ist ja verständlich, dass eine Partei, die 42 Prozent in einer Wahl bekommen hat, natürlich einige der wichtigen Ressorts auch auf ihrer Seite behalten will. Welche das sein werden, wissen wir im Augenblick noch nicht genau. Aber dass natürlich die Union auch über den Behalt des Finanzressorts kämpft, ist doch völlig klar.
    Capellan: Aber viele Sozialdemokraten wollen das Ressort ja auch haben und sagen gerade nach diesem Wahlkampf, wo ja eines der zentralen Themen Steuergerechtigkeit, auch Umverteilung von oben nach unten war, da ist es gerade zwangsläufig, dass die SPD dieses Schlüsselministerium übernimmt. Sie hätten keine Bauchschmerzen, wenn man auf das Finanzressort verzichtet?
    Steinmeier: Es geht nicht darum, ob man verzichtet. Ich glaube, wenn jede Partei nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen urteilen könnte, dann wünschte man sich alle 14 Ressorts auf der Seite einer Partei. Geht aber nicht, weil Koalition – in diesem Falle Große Koalition –, und deshalb muss man eine Verständigung darüber finden, welche Ressorts bei wem landen. Und da gibt es natürlich, sagen wir einmal, Gruppen von Ressorts, über die man redet. Das ist Wirtschaft oder Finanzen auf der einen Seite. Das sind drei außenpolitische Ressorts, wenn ich Verteidigung und Außen und Entwicklungszusammenarbeit nehme. Das sind Ressorts oder Ressortgruppen, wie Innen und Justiz, bei denen man wahrscheinlich bemüht sein wird, dass jeweils ein Ressort auf der einen und ein Ressort auf der anderen Seite landet.
    Capellan: Aber Sie sagen uns jetzt und auch den SPD-Mitgliedern: Entschieden ist noch nichts in der Sache?
    Steinmeier: Es ist so, wie Sigmar Gabriel in der Pressekonferenz nach der Paraphierung der Koalitionsvereinbarung gesagt hat: Natürlich sind Ressortaufteilungen und personelle Zuordnungen besprochen, aber sie sind nicht abschließend vereinbart worden. Insofern müssen die Gespräche darüber auch noch fortgeführt werden.
    Capellan: Herr Steinmeier, lassen Sie uns noch mal reden über das Mitgliedervotum. Peer Steinbrück als Kanzlerkandidat hat im Rückblick nun gesagt, für ihn war relativ früh klar, dass das mit Rot-Grün nichts werden würde. Die Alternative konnte dann eigentlich nur die Große Koalition sein. Darauf wurde allerdings wenig Rücksicht genommen seitens der Wahlkämpfer, seitens der SPD-Spitze. Haben Sie jetzt eigentlich Verständnis dafür, dass diese Basis den Kopf schüttelt, wenn sie plötzlich den SPD-Vorsitzenden neben einer Kanzlerin sitzen sieht und er sie dann auch noch respektvoll mit "Frau Dr. Merkel" anspricht?
    Steinmeier: Das ist der erste Satz, den ich im Augenblick in meinen Reden auf den Regionalkonferenzen auch sage. Ich verstehe die Skepsis der Mitgliedschaft in der SPD. Und glauben Sie mir, viele – auch in der Führung – waren nicht frei von dieser Skepsis. Und natürlich hängt das damit zusammen, dass die favorisierte Konstellation, in der wir regieren wollten, nicht die Große Koalition war. Aber mein Eindruck ist, dass jetzt Menschen beieinander in Verhandlungen saßen, die drei Wochen vorher sich noch heftigst befehdet haben auf den Marktplätzen. Das ist auch so, dass man dafür eine Zeit braucht, um sich aneinander zu gewöhnen. Aber ich glaube, wir haben auch in diesen Koalitionsverhandlungen gezeigt, dass das mit Professionalität gelingt.
    Capellan: Die Mitglieder dürfen nun über die Regierung entscheiden – wir haben das gesagt, das hat es noch nie gegeben, sie dürfen nicht entscheiden über wichtige parteiinterne Fragen, zum Beispiel die Wahl des Kanzlerkandidaten. Glauben Sie trotzdem, dass das verfassungsrechtlich in Ordnung ist, so wie das nun läuft, dass, wenn man das Quorum einbezieht, etwa 95.000 Sozialdemokraten über die Regierungsbildung entscheiden dürfen?
    Steinmeier: Also ich verstehe diese ganze Debatte über verfassungsrechtliche Probleme überhaupt nicht. Ich kenne auch keine nennenswerte Schar von Verfassungsrechtlern, die hier wirklich Bedenken hat. Wir müssen doch einfach nur mal einen Blick auf die Vergangenheit werfen. Wir haben uns über Jahrzehnte daran gewöhnt, dass Koalitionsvereinbarungen von den Parteien gebilligt werden. Das waren früher mal Parteivorstände – vielleicht 30 bis 40 Personen. Dann haben wir Parteitage über den Inhalt von Koalitionsvereinbarungen entscheiden lassen – das waren vielleicht 800 oder 900. Warum es weniger demokratisch sein soll, wenn man heute die Mitgliedschaft darüber entscheiden lässt, will ich nicht begreifen. Und dann zu solchen Sprachregelungen zu kommen, wie: "ein Referendum, ein Mitgliedervotum das ganze Land in Geiselhaft zu nehmen", das ist barer Unsinn, der aber auch keine und nicht die geringste Verankerung im geltenden deutschen Verfassungsrecht findet.
    Capellan: Entscheiden die Mitglieder auch über Ihre Zukunft, über die Zukunft der SPD-Spitze? Also die Frage geht dahin, was passiert, wenn abgelehnt wird? Wie stehen Sie dann, die Sie ja für diese Große Koalition gekämpft haben, wie stehen Sie dann da? Können Sie dann weitermachen?
    SPD-Mitglieder werden dem Koalitionsvertrag zustimmen
    Steinmeier: Also in der Tat ist es eine Frage, die wir uns natürlich in den letzten Wochen während der Verhandlungen auch immer wieder vorgelegt haben. Und natürlich vielleicht auch eine Frage, die uns mit besonderem Ehrgeiz in diese Verhandlungen hat hineingehen lassen. Wir wussten, dass eine sozialdemokratische Handschrift in dieser Koalitionsvereinbarung erkennbar sein muss, bevor man diese Vereinbarung den Mitgliedern in einem Mitgliedervotum vorlegt. Die Befürchtungen habe ich heute, nach den ersten Reaktionen in den Parteigremien, nicht mehr. Und sie hören jetzt auch, dass in den Regionalkonferenzen überwiegend Zustimmung signalisiert wird. Aber natürlich wäre ein Nein der Mitgliedschaft zu einem von der Führung ausverhandelten und unterzeichneten Koalitionsvertrag ein herber Einschnitt, eine herbe Zäsur gewesen.
    Capellan: Lassen Sie uns über die Inhalte sprechen dieses Koalitionsvertrages – zunächst mal übers Geld. Wir haben schon die Besetzung des Finanzministeriums angesprochen, dass das ja ein zentraler Punkt sein könnte, gerade für Sozialdemokraten. Nun heißt es bereits: Der Finanzminister – Wolfgang Schäuble – trickst – nicht 23 Milliarden an Mehrausgaben kommen da zusammen, sondern 28 Milliarden. Ein wichtiger Batzen in diesem Etat ist das sogenannte Bundesteilhabegesetz, das soll den Kommunen helfen bei der Unterstützung von der Eingliederung von Behinderten. Da geht es um viel Geld. Kommt dieses Gesetz noch in dieser Legislaturperiode oder dann doch, wie wir jetzt hören, 2018?
    Steinmeier: Erstens: Ja, das Gesetz kommt in dieser Legislaturperiode. Und zweitens ist das ein Bereich, bei dem wir – alle Parteien – auch Verantwortung tragen. Denn die Zustimmung zu dieser Demokratie hängt im Wesentlichen auch davon ab, wie das Leben der Menschen sich vor Ort in den Städten und Gemeinden darstellt. Und wir haben Regionen in Deutschland – und ich rede nicht nur von Ostdeutschland, sondern auch viele Bereiche im Westen –, in denen das kommunale Leben erstirbt, weil schlicht nicht mehr genügend Geld da ist, um das Schwimmbad offen zu halten oder das Heimatmuseum oder aber die Sportstätten. Deshalb ist es ein Gebot der Stunde, den Kommunen hier unter die Arme zu greifen und in einem Bereich, wo die kommunalen Ausgaben in den letzten Jahren am stärksten gewachsen sind, bei der Eingliederung von Menschen, die in ihrem Alltag Schwierigkeiten haben, hier zu helfen. Und wir haben nicht nur ein Teilhabegesetz angekündigt, sondern wir haben gesagt: Bevor dieses Teilhabegesetz kommt, soll in den Jahren zuvor schon jeweils eine Milliarde den Kommunen zur Verfügung gestellt werden, um schlimmste Not abzumildern.
    Capellan: Nun haben Sie die Situation der Kommunen angesprochen – das war immer Thema auch im Wahlkampf. Da haben die SPD-Mitglieder, die an der Basis auch für Sie gekämpft haben, sich beschimpfen lassen müssen für die Forderung nach Steuererhöhungen. Da hieß es immer: Es geht nicht anders, es geht nicht ohne. Jetzt muss es doch ohne gehen. Aber warum kann man nicht einmal Steuersubventionen anpacken – Stichwort: Hotelsteuer, Stichwort: Betreuungsgeld oder eben auch die kalte Progression, davon hören wir überhaupt nichts mehr, dass die abgebaut werden soll?
    Steinmeier: CDU/CSU sind mit einer gänzlich anderen Forderung in den Wahlkampf gegangen. Und das Wahlergebnis hat dazu geführt, dass wir mit unterschiedlichen Kräfteverhältnissen haben verhandeln müssen. Deshalb ist es völlig selbstverständlich, dass wir nicht zu 100 Prozent das Wahlprogramm der SPD haben durchsetzen können. Der CDU/CSU war es ein Anliegen, keine Korrekturen an ihren steuerpolitischen Anliegen der Vergangenheit vorzunehmen. Wir haben uns deshalb konzentriert auf andere Bereiche, insbesondere auf die arbeitsmarktlichen und arbeitsrechtlichen Maßnahmen. Und da, finde ich, lässt sich die sozialdemokratische Handschrift doch wirklich deutlich erkennen. Wenn mir jemand vor vier Wochen, fünf Wochen gesagt hätte, dass wir in einer Koalitionsvereinbarung ausgerechnet mit der Union den Mindestlohn durchsetzen, die gleiche Bezahlung von Leiharbeitnehmern und Stammbelegschaften nach neun Monaten, wenn mir jemand gesagt hätte, dass wir ausgerechnet mit der Union den Wegfall der sogenannten Optionspflicht, die Möglichkeit der Doppelstaatsangehörigkeit für Kinder und Jugendliche aus Migrationsfamilien, das alles durchsetzen, dann hätte ich gesagt: 'Na wart mal ab!' Und deshalb bin ich ganz froh über dieses Ergebnis. Ja, im Bereich der Steuerpolitik haben wir uns nicht durchsetzen können. In vielen anderen Bereichen – ein paar davon habe ich eben genannt – wahrnehmbar schon.
    Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk heute mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Frank Walter Steinmeier. Herr Steinmeier, ein Punkt, in dem Sie sich haben durchsetzen können, sind sicherlich die Rentenpläne. Nun gibt es da auch viel Kritik, gerade was die Rente mit 63 anbetrifft, gerade weil das, was ja sehr viel Geld kostet, nicht aus Steuergeldern, sondern mit dem Griff in die Rentenkasse finanziert werden soll. Warum kann es eine sozialdemokratische Partei zulassen, dass Beamte und Selbstständige, also Wohlhabende in aller Regel, dass die da nicht zur Kasse gebeten werden?
    Steinmeier: Zunächst einmal die Frage an sich: War es notwendig, hier eine Veränderung herbeizuführen? Ich denke ja. Und das sage ich gerade als jemand, der einer Partei angehört, die die Verlängerung der Lebensarbeitszeit ja mit durchgesetzt hat in der damaligen Großen Koalition zwischen 2005 und 2009. Aber das entbindet uns eben nicht von der Verantwortung genau hinzuschauen, wo durch eine Neuregelung auch neue Ungerechtigkeiten entstehen. Und wir haben feststellen müssen, dass diejenigen, die insbesondere sehr früh in die Arbeit gehen, zur Ausbildung gehen, die harten körperlichen Belastungen unterliegen im Verlauf ihres Berufslebens, dass von denen eben sehr selten nach langen Berufsjahren das 67. oder das 65., von vielen nicht einmal das 63. Lebensjahr erreicht wird. Und das war unser Ansatzpunkt zu sagen: Wie schaffen wir hier auch Gerechtigkeit zwischen den unterschiedlichen Beanspruchungen im Verlaufe eines Berufslebens. Uns ich finde es richtig, dass wir jetzt eine Möglichkeit gefunden haben zu sagen: Wer sehr lange gearbeitet hat, früh angefangen hat, 45 Beitragsjahre hinter sich hat, eingerechnet Zeiten von Arbeitslosigkeit, der muss tatsächlich auch die Möglichkeit haben, früher und ohne Abschläge von seiner erwarteten Rente auch in den Ruhestand gehen zu können. Das Datum …
    Capellan: … Aber warum soll der kleine Beitragszahler das bezahlen, über die Rentenversicherungsbeiträge?
    Steinmeier: Na, zunächst mal ist das ja eine Regelung, für die wir im Regelkreislauf der Rente Vorsorge treffen müssen. Es stellt sich eher für andere Bereiche, die jetzt rentenrechtlich geregelt worden sind, die Frage, ob das aus dem Beitragsvolumen zu mobilisieren ist – wenn ich …
    Capellan: … Mütterrente …
    Steinmeier: … an die Mütterrente denke oder ob wir nicht in längerer Hinsicht sehen müssen, ob es erhöhte Rentenzuschüsse aus der Steuer dafür geben muss.
    Steuerzuschuss für Rente könnte erhöht werden
    Capellan: Muss es die geben?
    Steinmeier: Kann ich von heute aus nicht beurteilen. Das ist eine Frage, die sich wahrscheinlich jenseits des Jahres 2020 stellt.
    Capellan: Aber die Rentenversicherungsbeiträge werden jetzt erst mal nicht gesenkt, wie es eigentlich geplant war, und sie werden steigen in der Zukunft, noch in der kommenden Legislaturperiode, oder?
    Steinmeier: Das war eine Vereinbarung der Koalitionsparteien in der Tat, dass wenn wir zu Korrekturen kommen wollen, sowohl bei der Mütterrente mit der Beseitigung der ungleichen Behandlung von Müttern, die ihre Kinder vor 1992 geboren haben und denen, die sie nach 1992 geboren haben. Und wenn wir zusätzlich zu einer Bereinigung von Ungerechtigkeiten nach der Verlängerung der Lebensarbeitszeit kommen wollten, dann kann man nicht gleichzeitig auch noch eine Absenkung der Beiträge vornehmen. Das haben wir jetzt ausgeschlossen in dieser Koalitionsvereinbarung – das entsprechende Gesetz muss dazu vor Weihnachten auch noch in den Deutschen Bundestag eingebracht werden. Ob das mittelfristig zu Beitragssteigerungen und wann kommen wird, das kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht beantworten.
    Capellan: Thema Mindestlohn – der soll kommen 2015. Aber übergangsweise bei bestehenden Tarifverträgen wird da auch immer wieder das Datum 2017 für 8,50 Euro die Stunde genannt. Glauben Sie, dass das den SPD-Mitgliedern reichen wird? Denn viele waren davon ausgegangen, 2014 schon wird es was mit dem Mindestlohn.
    Mindestlohn muss flächendeckend und überall gelten
    Steinmeier: Als ich damals 1998 von der Landespolitik in die Bundespolitik wechselte, hatte sich die damals SPD-geführte Bundesregierung ein großes Vorhaben vorgenommen, nämlich die Novellierung der damals sogenannten 630-Mark-Jobs. Das war ein Vorhaben, was sozialpolitisch hochnotwendig war, bei der wir uns der Schwierigkeiten der Neuregelung aber nicht von Anfang an genügend bewusst waren. Und insofern glaube ich, ist man klug beraten, bei der Einführung des Mindestlohns, den wir erstens wollen und von dem wir zweitens sagten, wir würden für die Zukunft auch nicht mehr unterscheiden zwischen Ost und West, wir einen Mindestlohn vereinbart haben, bei dem bis zum Jahre 2017 von den Tarifvertragsparteien – und nur von denen – noch Abweichungen vorgenommen werden können, ab 2017 dann flächendeckend und überall der Mindestlohn 8,50 Euro gilt. Ich glaube, mit der Regelung, die wir jetzt getroffen haben, haben wir auch die Möglichkeit in Ostdeutschland für die Betriebe geschaffen, sich frühzeitig darauf einzustellen. Und das, was ich jetzt höre, ist, viele beginnen das auch jetzt zu tun.
    Capellan: Sie haben die rot-grüne Koalition ‘98 eben selber angesprochen. Da war ein Projekt dieser Koalition – unter Gerhard Schröder – der Atomausstieg. Wo ist die Vision dieser Großen Koalition, der wir jetzt entgegensehen? Ist das die Energiewende?
    Steinmeier: Ich glaube, dass eines unterschätzt wird, dass diese Große Koalition in der Tat auch vor großen Aufgaben stehen wird. Das ist zum einen – darüber haben wir gesprochen miteinander – Europa. Ich glaube, dass es gut ist, dass Deutschland ein Stabilitätsanker in einem Europa bleibt, das ja zu erodieren droht. In einer Situation, in der viele populistische, auch anti-europäische Parteien in unseren Nachbarländern offensichtlich an Zustimmung hinzugewonnen haben, ist es wichtig, dass Deutschland ein stabiler Anker dieser europäischen Integration bleibt. Ich weiß, dass dieses europäische Projekt nicht nur Jahrzehnte lang für Frieden und Stabilität stand, sondern, dass ohne dieses Europa auch der Weg zur Deutschen Einheit viel schwieriger geworden wäre, als es ist. Da tragen wir besondere Verantwortung.
    Capellan: Lassen Sie uns noch einen Moment bei der Energiewende bleiben. Da fragen sich viele: Wo wird die Energiewende am Ende landen, wenn man sich nun vornimmt, den Ausbau der Windkraft zu deckeln – eine Förderung in Süddeutschland wird es wohl kaum noch geben – und gleichzeitig einen Bestandschutz gibt für Kohlekraftwerke in Nordrhein-Westfalen und Brandenburg?
    Steinmeier: Ich glaube, das hieße, die Koalitionsvereinbarung falsch lesen oder falsch interpretieren, sondern es geht gerade darum, die Energiewende fortzusetzen. Dazu gehört in der Tat auch die Einsicht, dass wir konventionelle Kraftwerke noch für einen längeren Zeitraum brauchen und wir gleichzeitig den Ausbau der erneuerbaren Energien entsprechend dem Ausbau der Stromnetze stärker anpassen. Wir können uns, glaube ich, für die Zukunft in der Tat nicht mehr leisten, dass wir Stromangebote aus erneuerbaren Energien dort zukünftig noch sehr viel weiter entstehen lassen, wo er gar nicht abgenommen und abtransportiert werden kann. Das alles nimmt diese Koalitionsvereinbarung jetzt in den Blick. Ich will nicht verkennen, dass bei der Umsetzung der anspruchsvollen Ziele, die wir dort niedergelegt haben – erstens: Energiewende – hin zu erneuerbaren Energien, der Weg bleibt aufrechterhalten, zweitens: Gewährleistung von Versorgungssicherheit und drittens: Strompreise in den Griff bekommen –, das wird in der Praxis uns noch vor die eine oder andere Schwierigkeit stellen. Aber ich glaube, der Weg, wie er dort beschrieben ist, ist richtig.
    Capellan: Sie haben die Außenpolitik eben angesprochen, Herr Steinmeier, da hörte sich das doch so an, als würde da der künftige Außenminister der Republik sprechen. Sie werden in der kommenden Woche den Preis der Deutsch-Norwegischen Willy-Brandt-Stiftung bekommen. Sie sind auch unter den europäischen Kollegen nach wie vor sehr beliebt. Wenn Sie dieses Amt nun bekommen sollten, wäre dann das Thema Europa das erste, was Sie anpacken würden, die Leute wieder für Europa zu begeistern, auch durch den Ausbau der europäischen Institutionen?
    Steinmeier: Also das ist ja erstens ein weiterer geschickter Versuch, noch mal zu der Frage des Personals in einer neuen Bundesregierung zu kommen. Die Frage kann ich nicht anders beantworten als zu Beginn unseres Interviews. Aber in der Tat bin ich der Meinung, dass sich europäische Außenpolitik dringend intensiver um Europa kümmern muss. Mehr als wir denken und wahrhaben wollen, hängt das Schicksal Deutschlands, auch der deutschen Volkswirtschaft, von der Stabilität im restlichen Europa ab. Und deshalb müssen wir uns dringend darum kümmern. Und wenn ich Stabilität sage, meine ich nie nur wirtschaftliche Stabilität, sondern vor allen Dingen auch politische Stabilität in einer Zeit, in der gerade junge Generationen ja immer mehr zu zweifeln beginnen, ob dieses Europa, was ich in meiner Generation als Hoffnung, als Zukunftsperspektive empfunden habe, nicht eher eine Drohung ist.
    Capellan: Heißt das auch mehr Beteiligung der Bürger, mehr Volksabstimmungen auf europäischer Ebene?
    Steinmeier: Na ja, das ist jetzt entschieden, was den Koalitionsvertrag und die verfassungsrechtliche Situation in Deutschland angeht. Wir haben uns nicht vereinbaren können auf die Einführung neuer Elemente unmittelbarer Demokratie, Referenten in das Deutsche Grundgesetz. Und insofern wird sich die Frage, jedenfalls für die nationale Gesetzgebung nicht stellen. Ob es auf der europäischen Ebene Referenten geben wird, zu der wir ja schon seit mehreren Jahren im Prinzip die Möglichkeit haben, wage ich etwas zu bezweifeln, weil es auch in den letzten zwei, drei Jahren immer wieder Versuche gegeben hat – etwa bei der Regulation der Finanzmärkte nach dem Ausbrechen der letzten Krise, mit der wir jetzt schon im fünften Jahre kämpfen, ohne dass es erfolgreich zu einem wirklichen Volksbefragungsunternehmen auf der europäischen Ebene gekommen wäre. Mir scheint das auf der europäischen Ebene kein Mittel zu sein, zu dem die Bürger sich europaweit zusammenfinden wollen – jedenfalls bis jetzt nicht.
    Capellan: Herr Steinmeier, lassen Sie uns abschließend noch einen Blick vorauswerfen auf die kommenden vier Jahre. Gesetzt den Fall, diese Große Koalition hält, wird es dann 2017 ein Linksbündnis mit der SPD geben? Und wenn ja, wer könnte das machen? Hannelore Kraft hat jetzt erklärt, sie würde niemals als Kanzlerkandidatin bereitstehen. Läuft es dann auf Sigmar Gabriel hinaus oder wollen Sie vielleicht doch noch mal ran?
    Steinmeier: Ach, mein Gott, wir sind noch nicht mal in der Regierungsbildung für die nächste Legislaturperiode und Sie fragen mich schon nach der Konstellation für die darauffolgende. Ich wünschte, wir hätten jetzt vor Weihnachten noch alles beieinander, damit eine Regierung steht. Was in vier Jahren ist, weiß keiner – Gott sei Dank auch nicht Journalisten. Insofern will ich so weit nicht vorausschauen. Eines ist nur sicher, dass wir, glaube ich, ganz gut daran tun, dass wir uns in Wahlkämpfe nicht mit dem Ehrgeiz um größtmögliche "Ausschließeritis" hineinbegeben. Sondern wir sollten in Zukunft darauf schauen, mit welchen Partnern möglichst viel von dem eigenen Programm durchsetzbar ist. Und wer das in vier Jahren sein wird – ich kann es Ihnen nicht voraussagen.
    Capellan: Frank Walter Steinmeier, Außenminister a. D. oder Außenminister in spe, das haben wir leider nicht erfahren, trotzdem Danke für das Gespräch.
    Steinmeier: Vielen Dank.
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