Offiziell hat die Sitzung noch gar nicht begonnen, da geht es bereits los:
"Das bestätigt doch eigentlich diese Killer-Phrase: Das haben wir schon immer so gemacht, das bleibt so und das werden wir nicht ändern, oder? Das ist genau unser Problem."
Draußen sind es, auch spät am Abend, fast noch 30 Grad, doch die Genossen des SPD-Ortsvereins Ost/Hillen in Recklinghausen treffen sich im Keller, in einem separaten Raum. Die Tische sind zu einem T zusammengeschoben, auf den rosa Tischdecken stehen Wassergläser, Weizen, alkoholfreies Radler sowie Salz- und Pfeffer-Streuer, die an dem Abend unbenutzt bleiben. Doch an Würze fehlt es nicht:
"Hier geht es heute um Realismus."
"Wenn sich Willy Brandt auf den Realismus, den du hier formulierst, verlassen hätte..."
"Ne, Willy Brandt nicht."
"Dann hätte sich die CDU durchgesetzt und dann wäre alles so geblieben, wie es war. Dann hätte es keine Verträge mit dem Osten, keine Öffnung zum Osten gegeben."
"Apropos Ost-Verträge: Franz-Josef Strauß hat damals ‚Pacta sunt servanda‘ gesagt. Verträge sind einzuhalten. Das gilt für mich für den Koalitionsvertrag auch."
"Aber erst, nachdem sie da waren."
"Ja, der Koalitionsvertrag ist auch abgeschlossen worden, der ist auch da."
"So, fangen wir an."
Der Vorsitzende hat schon drei Nachfolger wieder verloren
Werner Burmester ruft zur Ordnung:
"Der war gut, ja, fangen wir an."
Der 67-Jährige pensionierte Lehrer ist Vorsitzender hier. Drei Nachfolger hat er für seinen Recklinghausener Ortsverband bereits aufgebaut, alle drei zogen jedoch weg. Von einst 400 sind noch insgesamt 100 Mitglieder übrig, von denen drei Frauen und neun Männer zur offenen Vorstandssitzung gekommen sind. Das enttäuschende Ergebnis bei der Europa-Wahl, der Umgang und der Rücktritt von Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles, wie weiter mit der Großen Koalition? Alles kommt jetzt auf den Tisch:
"Für was soll die SPD stehen? Das finde ich auch mal eine ganz wichtige Frage, weil mir das ein bisschen kurz kommt."
Nicken in der Runde: "Zerrinnen im Zeitraffer", so nannte die Frankfurter Allgemeine Zeitung kürzlich die "Marginalisierung der SPD in ihrer einstigen Kernregion Ruhrgebiet". Lediglich in fünf Ruhrgebietsstädten, in Duisburg, Oberhausen, Bottrop, Gelsenkirchen und Herne kam die SPD bei der letzten Wahl noch auf - teilweise knappe - relative Mehrheiten.
Anderorts, wie in Mülheim an der Ruhr oder Essen, lag die CDU vorne, in Bochum und Dortmund waren es die Grünen. Wer in diesen Tagen durchs Ruhrgebiet fährt, trifft auf hitzige Diskussionen, ernste Genossen, auf Galgenhumor, Ratlosigkeit, aber auch Zweckoptimismus:
"Ich glaube, wir haben einen Europawahlkampf gemacht mit einem Fehler, den wir hier im Kommunalwahlkampf nicht befürchten müssen. Wir würden nämlich nie auf die Idee kommen, einen Kommunalwahlkampf für den Bestand der Stadt Bochum und der Kommune zu führen. Aber genau das machen wir auf europäischer Ebene. Aber den Wahlkampf, den wir geführt haben, haben wir gewonnen. Das möchte ich immerhin anführen. Es wird Europa in fünf Jahren noch geben, das war vor einem halben Jahr noch nicht ganz so klar."
Das Flüchtlingsthema plus Soziales, das macht jetzt die AfD
Sitzung der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, kurz AfA, in Bochum. Hier treffen sich die politisch interessierten Arbeitnehmer, die Betriebsräte, Gewerkschafter und Ähnliche, sprich: das Rückgrat der SPD im Ruhrgebiet. Dadurch konnte man der SPD im Alltag einst nicht entrinnen, schaffte die SPD sich das Image der "Kümmerer-Partei" - das heute zwiespältig ist:
"Naja, es ist nicht unbedingt eine Bürde, es ist aber schon ein bisschen Verantwortung, weil man weiß, wenn die SPD im Ruhrgebiet nicht gewinnt, dann gewinnt sie in NRW nicht, und dann gewinnt sie auch in ganz Deutschland nicht, weil hier haben wir die vielen Genossinnen und Genossen und können versuchen, viele Stimmen zu bekommen."
Auch Jens Matheuszik, 41 Jahre alt, Vorsitzender des Ortsvereins Bochum-Ehrenfeld, ist zur AfA-Sitzung in die Bochumer SPD-Zentrale gekommen. Auch Matheuszik kann die Entwicklungen im Ruhrgebiet benennen: Das Flüchtlingsthema, gepaart mit sozialen Fragen, wird vielerorts nun bei der AfD erkannt:
"Ja, man kann das hier in Bochum zum Beispiel schon so sehen, dass die eher industriell geprägten Bereiche, da ist die AfD einigermaßen stark, da hat sie auch Wahlkampf gemacht. Wenn man jedoch eher die studentisch geprägten Milieus, halt wie jetzt hier Ehrenfeld, da ist die AfD unter ferner liefen, da wird sie nicht über die Fünf-Prozent-Hürde hinwegkommen."
Das studentische Milieu übernehmen die Grünen
Doch da sind nun die Grünen. Das daraus resultierende Wahl-Ergebnis ist in diesen Tagen aber nur das eine, das andere der Umgang untereinander, Stichwort Nahles. Matheuszik ist da zwiegespalten:
"Also, ich finde, sie hat als Ministerin in der Regierung eine super Arbeit gemacht. Ich finde es auch unfair, wie mit ihr umgegangen wird, weil das, was sie gemacht hat - ‚Bätschi‘ und Co. - fand ich auch nicht toll. Bei anderen Politikern wird das honoriert. Es gibt einen ehemaligen Kanzler von uns, da wurde sogar ein Lied daraus gemacht - was Stefan Raab in die Top Ten reingebracht hat, weil der so einen lockeren Spruch gebracht hat. Bei ihr wird das alles kritisiert."
Matheuszik hält kurz inne:
"Aber wenn man als Ortsvereinsmitglied am Wahlstand steht und quasi jedes dritte Mal auf Frau Nahles angesprochen wird und dass die nicht gehen würde, dann muss man sich halt tatsächlich irgendwann die Frage stellen, ob es dann nicht sogar sinnvoll ist, dass sie diesen Schritt gemacht hat. Vielleicht auch sinnvoller für sie selbst."
"Der Umgang mit Andrea ist unmöglich"
NRW, so heißt es allerorts, war die treibende Kraft hinter Nahles' Ablösung. Der SPD-Ortsverein Ost/Hillen in Recklinghausen beispielsweise grenzt an den Wahlkreis des Bundestagsabgeordneten Michael Groß, der mit seiner Forderung nach einer Sondersitzung der Fraktion zur Rolle Nahles' deren Rücktritt mit ins Rollen brachte:
"Der Umgang mit Andrea ist unmöglich."
sagt der Vorsitzende Burmester:
"Also, wir als Sozialdemokraten, das finde ich dann immer ganz schlimm, dass Sozialdemokraten Solidarität im Herzen haben und Freiheit, Gerechtigkeit - und dann wird mit dem Personal so umgegangen. Das war unterirdisch, was Andrea da erlitten hat und was da dann passiert ist. Das kann eigentlich keiner gut heißen."
Auch Barbara Duka, die stellvertretende Vorsitzende hier, stimmt zu:
"Die Krokodilstränen, die jetzt insbesondere von Kevin Kühnert vergossen werden, finde ich also wirklich unsäglich."
Aber: Nun muss es weitergehen. Vor Burmester liegt das aktuelle Schreiben aus der Parteizentrale:
"und jetzt kommt da noch, die SPD-Mitglieder können bis zum 13. Juni… - das ist ja schon bald - Vorschläge machen, wie sich Mitglieder aktiv an der Wahl des oder der Parteivorsitzenden beteiligen können."
Neue Köpfe verzweifelt gesucht
Die Diskussion landet dann schnell bei Begriffen wie Urwahl oder Doppelspitze – und beim Programm, bei der GroKo-Frage. Hier gab es einst eine Mehrheit dagegen, noch immer gibt es einzelne Befürworter, letztendlich hänge aber alles mit allem zusammen, und:
"nicht nur Programme alleine zählen, sondern hinter den Programm muss auch ein Kopf stecken. Einen Kopf, den die Leute kennen."
"Genau."
"Und dem sie glauben."
"Und wem sie vertrauen, was er sagt. Das ist das Entscheidende."
Doch:
"Wo sind die Köpfe, die das machen können, ohne dass man sagt: Das sind die von gestern oder das sind Unerfahrene?"
"Vielleicht muss man mal Leute in der zweiten, dritten Reihe sich mal auf den Schirm holen."
Nadja Lüders nickt:
"Hm, die wieder jemand berufen sieht?"
Die 48-Jährige ist Generalsekretärin der NRW-SPD. Sie stammt aus Dortmund, aus jener Stadt, die Herbert Wehner einst als Herzkammer der SPD bezeichnet hatte - und in der nun die Grünen vorne lagen. Es sind die Funktionäre auf Landesebene, die nun gefragt sind. Sie versucht Zuversicht auszustrahlen:
"Da wird es Menschen geben, die sich bereit erklären, das, wie hat Franz Müntefering gesagt‚ 'schönste Amt der Welt nach dem Papst‘ zu übernehmen."
Momentan gehe es jedoch darum, sich erst einmal zu sammeln. Am kommenden Samstag sollen in NRW alle Mandats- und Funktionsträger in Oberhausen zusammenkommen. Urwahl, Doppelspitze, auch für Lüders klingt das gut, aber:
Vor der Urwahl steht ein Parteitag
"Erst die Inhalte, dann die Personen, das ist mein Petitum. Das muss wohlüberlegt sein, und es muss richtig verabschiedet werden, weil dazu brauchen wir eine Satzungsänderung, und die geht nur auf einem Parteitag."
Viele offene Fragen, viele offene Punkte. Und auch in Recklinghausen, beim Ortsverein, neigt sich die die Vorstandssitzung dem Ende entgegen.
"Anträge, Neuigkeiten, Probleme, haben wir was hier vor Ort?"
Am Ende geht es – trotz Nahles, Groko und Umgangsfragen – noch um die Baumsatzung. In Recklinghausen, das lässt sich festhalten, wird sich gekümmert. Und so kann Vorsitzender Burmester nach zweieinhalb Stunden festhalten:
"Fruchtbare Vorstandssitzung - und damit Feierabend – für heute."