Nicht nur Ortskräfte der Bundeswehr in Afghanistan sollen Schutz erhalten, sondern auch Beschäftigte von Medien und Hilfsorganisationen und Engagierte für Frauenrechte – das sagte Vizekanzler und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz im Dlf-Interview der Woche. Für sie werde es "den Schutz auch geben, wenn sie sich später einmal melden, bei einem deutschen Konsulat zum Beispiel". Darüber hinaus brauche es Unterstützung "für diejenigen, die in den Nachbarstaaten Zuflucht gefunden haben oder Zuflucht finden werden".
Vor Ort zu helfen, müsse die Devise einer neuen Flüchtlingspolitik sein, sagte der im Umfragen (Stand: 21.08.2021) derzeit beliebteste Kanzlerkandidat. "Es gibt zig Millionen Menschen auf der Welt, die fliehen, oft in ein Nachbarland, und natürlich müssen wir dafür Sorge tragen, dass in diesen Ländern Integrationsperspektiven entstehen", betonte Scholz.
Klimaneutralität nur mit schnellem Ausbau erneuerbarer Energien
Angesichts der Grünen-Forderung nach einem Kohleausstieg bis 2030 mahnte der amtierende Bundesfinanzminister zu Realismus. Priorität habe ein entschiedener Ausbau der Versorgung Deutschlands mit erneuerbaren Energien. Nur dann werde der gesetzlich festgelegte Umbau der Industrie auf CO2-Neutralität bis 2045 gelingen. Schon im ersten Jahr müsse eine neue Regierung "sofort alle Gesetze ändern, damit wir auch rechtzeitig fertig werden mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien, sonst werden nämlich alle Pläne, die wir gefasst haben, nichts werden".
Coronavirus: Argumente statt Impfpflicht
Für einen schnelleren Impffortschritt in der Corona-Pandemie setzt Scholz auf die "unverändert sehr, sehr guten Argumente", die es für eine Impfung gebe, zudem auf Coronatests, die ab Mitte Oktober kostenpflichtig sein sollen, und auf die Überzeugungskraft jedes under jeder Einzelnen. "Es sind zig Millionen Deutsche geimpft, man kann also sich bei seinen Nachbarn erkundigen, wie es war, bei uns beiden wahrscheinlich und bei vielen anderen. Und wir können jedem berichten, es ist gut ausgegangen und wir fühlen uns jetzt sicherer." Eine Impfpflicht braucht es nach Scholz’ Ansicht nicht: "Wir haben uns gegen eine Impfpflicht entschieden. Das ist politisch von allen so getragen und ich glaube auch richtig, denn es geht ja doch darum, dass wir die Bürgerinnen und Bürger überzeugen."
Lehren aus Fall Wirecard gezogen
Zur Kritik an seinem Umgang als Finanzminister mit dem Skandal um geschönte Bilanzen beim Bezahldienstleister Wirecard verwies Scholz darauf, dass die Konsequenzen aus dieser "schwierigen betrügerischen Handlung" gezogen seien. Die Finanzaufsicht Bafin habe einen neuen Chef. Unternehmen müssten Wirtschaftsprüfer künftig häufiger wechseln, damit sich beide Seiten nicht zu sehr aneinander gewöhnten. "Wir haben alles sofort identifiziert, was an Problemen mit dem nun seit vielen, vielen Jahren existierenden Aufsichtssystem festgestellt werden konnte und haben die Gesetze geändert."
"Ich schätze die Bundeskanzlerin"
Der scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stellt der Vizekanzler ein gutes Zeugnis aus. "Wir haben in vielen, vielen Jahren sehr gut zusammengearbeitet und deshalb, glaube ich, kann man das auch gerne zum Ausdruck bringen. Das wird ja doch eine erfolgreiche Kanzlerschaft sein, auf die sie zurückblicken kann." Es gehe um starke Führung, sagte Scholz über die Merkeljahre und über den von ihm angestrebten politischen Stil; aber auch darum, das Land zusammenzuführen und einen gemeinsamen Weg mit anderen Akteuren in der Welt zu finden.
Das Interview im Wortlaut:
Frank Capellan: Herr Scholz, ich durfte Sie in dieser Woche bei Terminen im Land begleiten. Sie sind jetzt etwa ein Jahr, glaube ich, der Kanzlerkandidat Ihrer Partei, und ich habe Sie selten so entspannt, so gut gelaunt und auch so humorvoll erlebt. Wie viel Genugtuung empfinden Sie eigentlich gegenüber denjenigen, die bis vor Kurzem noch müde gelächelt haben, wenn Sie erklärt haben: "Ich will Kanzler werden"?
Olaf Scholz: Gar nicht. Ich empfinde große Demut. Das ist etwas ganz, ganz Besonderes, wenn mir so viele Bürgerinnen und Bürger zutrauen, die Regierung dieses großen Landes zu führen – das ist ja keine einfache Aufgabe. Wir haben Verantwortung für das, was hier in Deutschland geschieht, dass wir das hinbekommen, dass wir gut Arbeitsplätze auch in den nächsten Jahren haben, dass wir zum Beispiel den menschengemachten Klimawandel aufhalten können. Wir haben Verantwortung dafür, dass das gut funktioniert mit der Europäischen Union, dass die sich ordentlich weiterentwickeln kann. Und natürlich geht es um all die vielen Herausforderungen in der ganzen Welt, über die Frage, wie wir dafür sorgen können, dass es, jedenfalls einigermaßen, friedlich zugeht.
Capellan: Trotzdem frage ich mich, wie erklären Sie sich diesen plötzlichen Zuspruch? Also, eine Umfrage nach der anderen zeigt, es gibt eine Chance, dass Sie eine Regierung führen können. 23 Prozent für die Union, 21 für die SPD, die Grünen sacken ab. Aus dem Duell Baerbock gegen Laschet ist eines Scholz gegen Laschet geworden. Und im ARD-Deutschlandtrend vom Freitag sagen 41 Prozent der Befragten: "Gäbe es eine Direktwahl, ich würde Olaf Scholz wählen." Haben Sie dafür eine Erklärung?
Scholz: Ich bin jetzt seit vielen Jahrzehnten in der deutschen Politik. Ich war Bundesminister für Arbeit und Soziales, Bürgermeister eines der 16 Länder, als Regierungschef dort, in Hamburg, ich bin jetzt Bundesminister der Finanzen. Ich habe mich sehr viel mit all den Herausforderungen beschäftigt, die auch für so eine Aufgabe wichtig sind. Und natürlich geht es, wenn gewählt wird, immer um zwei Fragen: Um die Frage, kann der das/kann die das, und es geht natürlich auch um die Frage, was ist der Plan für die 20er-Jahre, um die es jetzt geht.
Notwendige Konsequenzen aus Fall Wirecard gezogen
Capellan: Treten Sie jetzt selbstbewusster auf? Verändern solche guten Zahlen Ihren Wahlkampf? Bisher war ja das Hauptziel, vor den Grünen zu landen. Spielen Sie jetzt wirklich offensiv auf Platz 1?
Scholz: Wir sind die ganze Zeit offensiv, aber natürlich geht es um das große Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern. Wir werben für das, was wir uns vorgenommen haben. Ich werbe für meine Ziele, die mir wichtig sind, auch für den Respekt in unserer Gesellschaft, zum Beispiel, ein besseres Miteinander, dass niemand auf den anderen herabschaut, dass wir einander auf Augenhöhe begegnen. Und ich hoffe, dass das auch dazu beigetragen hat, dass jetzt die Umfragewerte jetzt so viel besser geworden sind. Und natürlich bemühen wir uns darum, dass sie noch besser werden – da bin ich ehrgeizig.
Capellan: CSU-Chef Markus Söder thematisiert das aus seiner Sicht ja desaströse Bild der Union nun öffentlich. Die Grünen, muss man sagen, könnten zum dritten Mal in Folge vom Umfragesieger – zumindest am Anfang – zum großen Verlierer werden. Wird das nun zwangsläufig mit sich bringen, dass die Attacken gegen Sie schärfer werden? Gehen Sie davon aus?
Scholz: Kann sein, aber wer im Wahlkampf nicht bereit ist zu akzeptieren, dass es auch hart zugehen kann, der ist ja auch nicht ordentlich vorbereitet auf das Amt, um das er sich bewirbt. Denn Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland sein heißt ja auch nicht, dass es einfach wird, sondern da geht es ja um große Herausforderungen.
Capellan: Nun gibt es ja auch Menschen, die sind stinksauer auf Sie, salopp gesagt, weil Sie als Finanzminister den Wirecard-Skandal, dieses Wirecard-Desaster nicht verhindern konnten oder weil Sie im Cum-Ex-Skandal Millionen von Nachzahlungen einer Hamburger Bank verhindert haben. Dass sehen Sie dennoch gelassen?
Scholz: Erstens stimmt das Letztere nicht, es hat keine Beeinflussung der Ämter in Hamburg gegeben. Und das haben ja mittlerweile alle, die es besser wissen müssten auch so bekundet, wenn ich das richtig sehe.
Capellan: Aber das glauben Ihnen nicht alle.
Scholz: Ich bin sehr froh über die Aufklärungsarbeit, weil das ja so ist, da hat es nichts gegeben an Einfluss, weder von dem damaligen Finanzsenator und heutigen Bürgermeister noch von mir. Und insofern ist das, glaube ich, auch klargestellt. Und bei Wirecard geht es ja darum, dass man, wenn so ein großer schlimmer Betrug stattfindet, daraus die notwendigen Konsequenzen zieht. Wir haben alles sofort identifiziert, was an Problemen mit dem nun seit vielen, vielen Jahren existierenden Aufsichtssystem festgestellt werden konnte und haben die Gesetze geändert. Wir haben einen neuen Chef bei der BaFin. Wir haben auch die Wirtschaftsprüfer dazu verpflichtet, häufiger zu wechseln, damit sich nicht Wirtschaftsprüfung und Unternehmen zu sehr aneinander gewöhnen. Also all die notwendigen Reformen durchgesetzt, die man dann nach einer solchen schwierigen betrügerischen Handlung dann auch ergreifen muss. Und das ist ja das, wozu wir aufgerufen sind, wenn wir Verantwortung haben.
Afghanistan: Langsamerer Abzug wäre wünschenswert gewesen
Capellan: Um nochmal kurz bei Ihrem derzeitigen Lauf zu bleiben. Es läuft gut für Sie, für die SPD. Vermutlich - das sagen auch viele Beobachter - profitieren Sie jetzt von Ihrer Rolle als Krisenmanager in der Coronakrise. Als Finanzminister haben Sie die Bazooka rausgeholt, viel getan, viel Geld in die Hand genommen. Mit Blick auf Afghanistan können Sie das als Vizekanzler wohl kaum für sich in Anspruch nehmen. Die SPD stellt immerhin den Außenminister, Heiko Maas, und der musste ja einräumen, die Lage völlig falsch eingeschätzt zu haben. Wie groß ist Ihre Sorge, dass das auch an Ihnen hängen bleibt und die guten Werte dann doch wieder nach unten ziehen könnte?
Scholz: Ich bin im Augenblick sehr besorgt, was die Zukunft der Bürgerinnen und Bürger Afghanistans betrifft, denn das was wir jetzt erleben ist ja, dass erneut dort eine islamistische Diktatur errichtet wird. Und gleichzeitig ist es so, dass wir jetzt natürlich dazu beitragen müssen, dass all diejenigen, die Schutz brauchen, den auch bekommen. Die Ortskräfte, die für uns gearbeitet haben, viele sind schon hier, wir holen noch weitere mit den Einsätzen der Bundeswehr jetzt aus Kabul heraus. Wir reden mit den Verantwortlichen, um sicherzustellen, dass das auch länger möglich ist. Ganz klar, die Einschätzung, die viele Länder in der Welt hatten, einschließlich der ja doch über gute Erkenntnisse verfügenden USA, war nicht so, dass man mit der Entwicklung der letzten Tage zu dem Zeitpunkt gerechnet hat.
Capellan: Aber wer muss denn Verantwortung übernehmen, Herr Scholz, wenn ein 20jähriger Bundeswehreinsatz in einem solchen Desaster endet? 59 Soldaten sind gefallen, an die 20 Milliarden Euro wurden für den Einsatz verpulvert und Afghanen, die uns ja vertraut haben, die für uns gearbeitet haben, die auf die Entwicklung ihres Landes gehofft haben, die fürchten nun um ihr Leben. Reicht es da zu sagen, wir haben uns einfach geirrt?
Scholz: Ich will einmal noch in Erinnerung rufen, worum es bei dem Einsatz ursprünglich ging – ich habe jedenfalls die Bilder von den furchtbaren Anschlägen auf das World Trade Center in den USA noch im Kopf. Deshalb war es richtig, dass wir die Terroristen, die in Afghanistan Unterschlupf gefunden hatten und die ganze Welt und in dem ganz konkreten Fall die USA bedroht hatten, gemeinsam bekämpft haben.
Capellan: Ja, das war Peter Struck, Ihr Parteifreund und Verteidigungsminister, der damals vor 20 Jahren gesagt hat: "Die Freiheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt". Aber ist diese Freiheit jetzt nicht wieder in Gefahr? Besteht nicht die Gefahr, dass sich Radikale, dass sich Terroristen wieder im Schutze der Taliban aus Afghanistan aktivieren könnten?
Scholz: Es war nie vorgesehen, dass das ein Dauereinsatz werden soll. Und die Entscheidung, dass sich die Verbündeten wieder aus Afghanistan zurückziehen, ist ja auch schon vor einiger Zeit getroffen worden. Wir hätten uns aus Deutschland heraus – manche andere auch – gewünscht, dass das ein wenig langsamer in diesem Jahr vonstatten gegangen wäre. Aber dass der Einsatz jetzt beendet wird, das war ohnehin die Entscheidung, die alle getroffen haben, das will ich noch mal sagen. Das, was wir ja jetzt erlebt haben, ist doch wirklich entsetzlich: Die Regierung des Landes verteidigt das Land nicht, sondern setzt sich ab, und 300.000 Soldaten, die über Jahre vor allem von den USA, aber auch von vielen anderen ausgebildet und ausgerüstet wurden, verteidigen ihre Bürgerinnen und Bürger nicht gegen den militärischen Vormarsch der Taliban.
Auch zivilgesellschaftlichen Akteuren Schutz ermöglichen
Capellan: Mit wie vielen Menschen rechnen Sie, die man noch wird aus Afghanistan rausholen müssen oder auch können? Denn niemand weiß, wie lange der Flughafen überhaupt noch geöffnet sein wird.
Scholz: Es wird jetzt darum gehen, dass wir unsere deutschen Staatsbürger rausholen; die Ortskräfte, die in Kabul sind und das Land verlassen wollen, dabei unterstützen, das zu tun, solange das jetzt aktuell geht. Und dann wird es natürlich auf Dauer darum gehen, dass wir diese Perspektive in Gesprächen auch längerfristig sicherstellen, dass wer da gehen möchte und nicht nur für uns, sondern – darüber reden wir jetzt ja auch – für andere gearbeitet hat, für Medien zum Beispiel, dass diejenigen, die wegen ihres politischen Engagements bedroht sind, dass Frauen zum Beispiel, die sich für Gleichstellung von Frauen eingesetzt haben und jetzt gefährdet sind, den Schutz bekommen und das Land verlassen können.
Capellan: Die Rede ist von 10.000 Menschen, ist das realistisch?
Scholz: Das geht ja immer um die konkret Betroffenen und ihre Angehörigen in der Regel. Diese Zahl ist geschätzt worden von Verschiedenen und das ist etwas, was man plausibel annehmen kann. Diejenigen, die wir unmittelbar identifiziert haben als Mitarbeiter, zum Beispiel der Bundeswehr, in den letzten Jahren, sind ja weniger und davon sind viele auch schon in Deutschland, über die vielen Jahre hinweg noch mehr.
Capellan: Der Unionskanzlerkandidat, Armin Laschet, hat mit Blick auf mögliche Flüchtlingsströme aus Afghanistan nun gesagt: "2015 darf sich nicht wiederholen!". Da stellt sich die Frage, wenn nun die Menschen aus verständlichen Gründen versuchen, Afghanistan zu verlassen, nach Europa, nach Deutschland zu kommen, wie viele Menschen aus Afghanistan könnte Deutschland aufnehmen?
Scholz: Die Frage, die wir beantworten müssen, ist, was ist mit denjenigen, wo wir jetzt erkennen, dass sie unsere Unterstützung brauchen. Das sind die Ortskräfte, wie wir besprochen haben, das sind diejenigen, über die ich eben geredet habe in erweitertem Sinne, die zum Beispiel für Medien, für Hilfsorganisationen tätig waren und die uns jetzt gemeldet werden. Das geht um die Frauenrechtlerinnen, über die ich gesprochen habe. Und für die wird es den Schutz auch geben, wenn sie sich später einmal melden, bei einem deutschen Konsulat zum Beispiel. Und das Gleiche, was wir dann darüber hinaus machen müssen ist, Unterstützung anzubieten für diejenigen die in den Nachbarstaaten Zuflucht gefunden haben oder Zuflucht finden werden.
Neue Flüchtlingspolitik: "Die Devise ist, vor Ort zu helfen"
Capellan: Also, verhindern, dass die Menschen nach Europa kommen, das ist die Devise?
Scholz: Die Devise ist, vor Ort zu helfen. Und es geht nicht um die Fragestellung, die Sie da thematisieren, sondern das muss einfach die neue Entwicklung unserer Flüchtlingspolitik sein. Es gibt zig Millionen Menschen auf der Welt, die fliehen, oft in ein Nachbarland, und natürlich müssen wir dafür Sorge tragen, dass in diesen Ländern Integrationsperspektiven entstehen.
Capellan: Die Frage habe ja nicht nur ich gestellt, die Frage hat ja – indirekt zumindest – Armin Laschet auch aufgeworfen, wenn er sagt, ‚2015 darf sich nicht wiederholen‘. Da ist ja offenbar die Angst vor unkontrollierter Zuwanderung – denn das verbinden viele ja mit 2015. Das sehen Sie offenbar genauso, wenn Sie jetzt sagen, ‚Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen in der Region bleiben und dort Hilfe bekommen‘?
Scholz: Das ist aber die richtige Politik, die wir ohnehin machen müssen, den Blick darauf richten, dass es so viele Menschen auf der Welt gibt, die flüchten, in Nachbarländer, in denen sie erst mal sicher sind. Und es ist unsere Aufgabe, das zu unterstützen.
Capellan: Ich sagte es bereits, Sie werden vielfach als Krisenmanager wahrgenommen, in der Coronakrise. Sie haben den vom Lockdown betroffenen Unternehmern geholfen mit finanzieller Unterstützung, aber auch weil Sie versucht haben, den Gesundheitsminister von der CDU, Jens Spahn, Anfang des Jahres zu treiben, mit Blick auf die stockende Impfkampagne. Wie lässt sich, Ihrer Ansicht nach, die Impfbereitschaft der Deutschen steigern?
Scholz: Es sind viele Deutsche geimpft, viele Bürger und Bürgerinnen unseres Landes, und wir müssen jetzt dafür werben, dass es noch mehr tun. Denn wir haben genug Impfstoff, es gibt keinen Mangel. Und es sind zig Millionen Deutsche geimpft, man kann also sich bei seinen Nachbarn erkundigen, wie es war, bei uns beiden wahrscheinlich und bei vielen anderen. Und wir können jedem berichten, es ist gut ausgegangen und wir fühlen uns jetzt sicherer. Und diejenigen, die etwas ängstlich waren, die können sich jetzt motiviert fühlen, es auch noch zu machen. Da werbe ich sehr aktiv für. Und das sollte auch Jeder und Jede von uns tun, damit das noch besser funktioniert. Und wir müssen ganz unkonventionell dafür sorgen, dass überall Angebote gemacht werden, die man leicht wahrnehmen kann.
Capellan: Warum machen Sie nicht mehr Druck? Wir hören einen Markus Söder aus Bayern, der drängt auf die 2G-Regel: Geimpfte und Genesene dürfen bald wieder alles, Ungeimpfte immer weniger – um es zuzuspitzen. Und Ähnliches hatte auch Ihr Parteifreund Heiko Maas vor einem Monat versprochen, weil er nämlich gesagt hat: ‚Wenn alle ein Impfangebot bekommen haben‘ – das ist ja jetzt der Fall –‚ ‘dann müssen die anderen ihre Freiheiten auch schnell wieder zurückbekommen‘.
Scholz: Ich finde, dass wir in Deutschland jetzt den richtigen Weg gehen. Wir werden an Orten, an denen man sich leicht infizieren kann, weil viele dort zusammenkommen, sagen: Da kann man nur rein, wenn man geimpft, von einer Infektion genesen oder getestet wurde. Und das ist das, was wir jetzt tun können, um einen neuen Lockdown zu vermeiden.
Capellan: Ja, trotzdem sagen viele Mediziner, die Nicht-Geimpften könnten nun dazu beitragen, dass sich noch gefährlichere Mutationen entwickeln, die dann auch die Geimpften bedrohen, und deswegen wir ja auf diese Herdenimmunität gedrängt. Was spricht denn dagegen zu sagen: Wer ins Theater will, wer zum Fußball geht, der muss einfach geimpft sein, mit Ausnahme natürlich derjenigen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können?
Scholz: Es muss ja immer beachtet werden, in einem Rechtsstaat, in einer freiheitlichen Gesellschaft, dass es eben auch die Möglichkeit gibt, das Risiko einer Infektion von anderen dadurch zu minimieren, dass man sich testen lässt. Und das ist das, was wir jetzt vorgesehen haben, allerdings mit einer Veränderung. Es wird ab Mitte Oktober, ab dem 11. Oktober, nicht mehr so sein, dass man das gebührenfrei machen kann.
"Unverändert sehr, sehr gute Argumente" für Corona-Impfung
Capellan: Und Sie halten selbst von einer Impfpflicht für Staatsdiener, für Lehrer, für Beamte etwa, nichts, die, wenn sie sich nicht impfen lassen, ja immer wieder auch verursachen, dass etwa eine ganze Klasse in Quarantäne geschickt werden muss?
Scholz: Wir haben uns gegen eine Impfpflicht entschieden. Das ist politisch von allen so getragen und ich glaube auch richtig, denn es geht ja doch darum, dass wir die Bürgerinnen und Bürger überzeugen. Und wir haben ja unverändert sehr, sehr gute Argumente, das kann man ja jedem darlegen, dass die meisten derjenigen, die jetzt bei uns und anderswo neu infiziert werden, die meisten derjenigen, die in Intensivstationen eingeliefert werden müssen, Ungeimpfte sind. Und das spricht dafür, sich impfen zu lassen.
Capellan: Okay, ich verstehe das richtig, Sie wollen Druck machen allein dadurch, dass diese Tests, die ja dann für Nicht-Geimpfte notwendig sind, dass die nun selbst bezahlt werden müssen. Gäbe es noch andere Möglichkeiten, etwa zu sagen für einen Kinobetreiber: Wenn du nur Geimpfte und Genesene reinlässt, dann darfst du den Laden auch wieder voll machen? Weil ja auch eine große Unsicherheit besteht, das sagen viele Experten, mit Blick auf die Tests.
Scholz: Der Beschluss, den die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten mit der Bundesregierung zusammen gefasst haben, beinhaltet die Möglichkeit, dass die Gesundheitsämter solche Vereinbarungen mit Anbietern treffen. Und ohnehin ist es ja so, dass jeder private Anbieter, jedes Unternehmen selbst entscheiden kann, wen es reinlassen möchte und deshalb strengere Regeln festlegen kann als diejenigen, die für alle durch das, was wir als Verordnung festlegen, zu beachten sind.
Capellan: Neben der Pandemie dürfte ja die Klimapolitik eine wichtige Rolle im Wahlkampf spielen. Armin Laschet hat im Zeichen der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz gesagt: ‚Ich habe nun deswegen keinen Grund, meine Politik zu ändern. Wir haben das Nötige vereinbart und in die Wege geleitet‘. Ein bisschen habe ich Sie auch so wahrgenommen, weil Sie beispielsweise in dieser Woche gesagt haben: ‚Den Kohleausstieg können wir nicht vorziehen, es bleibt bei 2038, wir müssen uns an das Vereinbarte halten.‘ Haben also diese schrecklichen Bilder aus den Fluggebieten bei Ihnen in Sachen Klimaschutz und Klimawandel und dem, was man dagegen tun kann, nichts bewirkt?
Scholz: Na ja, Ihr Bericht ist ja nicht ganz korrekt, deshalb wiederhole ich noch mal, was ich gesagt habe: "Wir sollten uns an Vereinbarungen halten und ansonsten uns mal an unsere Arbeit machen".
Capellan: Aber 2038, das ist ja die Vereinbarung. Und die Grünen wollen 2030 raus. Markus Söder sagt: ‚Geht, wir müssen jetzt früher aussteigen aus der Kohle‘.
Scholz: Niemand sollte sich davor drücken, das eigentliche Problem zu lösen und die eigentliche Arbeit zu machen. Und da wird man durch eine allgemeine Debatte auch nicht weiter vorankommen. Und deshalb gestatten Sie schon, dass ich mal über das rede, was wirklich zentral ist jetzt. Wir müssen dafür sorgen, dass wir die Erzeugung von Strom in Deutschland massiv ausbauen. Denn alles das, was die Industrie sich vorgenommen hat an CO2-neutraler Produktion, was wir per Gesetz festgelegt haben, dass es bis 2045 gelingen muss, dass Deutschland CO2-neutral wirtschaftet, wird nur gelingen, wenn die Unternehmen statt auf Kohle, auf Gas und Öl, auf Strom zurückgreifen können, der hergestellt ist mit Windkraft auf hoher See oder an Land oder Solarenergie. Und das ist etwas, was wir jetzt vorantreiben müssen. Wir brauchen allein für die Chemieindustrie im Jahre 2050 so viel Strom, wie wir insgesamt in Deutschland heute verbrauchen. Und deshalb müssen wir gleich im ersten Jahr der nächsten Regierung dafür sorgen, dass wir den Strombedarf des Jahres 2045 als Planungsgröße gesetzlich festlegen und sagen, das Stromnetz und die Erzeugungskapazitäten müssen für diesen Bedarf ausgebaut werden. Wir müssen sofort alle Gesetze ändern, damit wir auch rechtzeitig fertig werden mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien, sonst werden nämlich alle Pläne, die wir gefasst haben, nichts werden. Und das ist auch meine Kritik an der Union, dass sie sich bis jetzt geweigert hat, höhere Ausbauziele festzulegen und die notwendigen Gesetze zu beschließen. Das ist meine Kritik an unseren guten Freunden von den Grünen, dass sie dort, wo sie Regierungsverantwortung haben, zum Beispiel in Baden-Württemberg, nicht so richtig vorangekommen sind bei der Genehmigung von Windkraftanlagen. Das ist die Arbeit, die wir jetzt machen: Ärmel hochkrempeln, Bagger in die Hand nehmen, Stromleitungen verlegen …
Capellan: Aber Sie haben ja noch ein anderes Szenario an die Wand gemalt, Sie haben nämlich gesagt, und da waren die Grünen auf den Barrikaden: ‚Wenn wir so weitermachen, schaffen wir nicht mal 2038, dann das letzte Kohlekraftwerk abzuschalten‘. Und da stellt sich die Frage, wenn Grüne und Union in der Klimapolitik – ich erwähnte Söder, der von 2030 in Sachen Kohleausstieg redet –, wenn die näher beieinander sind als Sie, die SPD und die Grünen, wie wollen Sie dann Annalena Baerbock zu einer Koalition überreden?
Scholz: Zunächst mal malen Sie sich die Dinge ja ein bisschen zurecht. Das ist also ein hübsches Buntstiftbild, das Sie da gezeichnet haben, es hat aber mit dem, worum es jetzt geht, wenig zu tun. Deshalb sage ich nochmal: Wer will, das Deutschland CO2-neutral wirtschaftet, der muss dafür Sorge tragen, dass jetzt Erzeugungsanlagen gebaut werden. Ich glaube, das ist jetzt eine Führungsaufgabe, da geht es um Tatkraft und darum, dass man das anpackt und nicht, dass man, statt etwas zu tun, viel redet.
Capellan: Und Sie glauben nicht, dass die Grünen in einen Koalitionsvertrag schreiben wollen: 2030 sind wir raus aus der Kohle? Und eine andere Frage stellt sich, auch mit Blick auf die FDP, auf Christian Lindner, warum sollte der etwa mitmachen, dass es zu Steuererhöhungen kommt, die Sie ja wollen, um etwa die Corona-Kosten aufzufangen und zu finanzieren?
Scholz: Das Schöne an der Demokratie ist, dass das nicht so geht wie im Mittelalter, wo irgendwelche Fürsten Planungen gemacht haben und ihre Zinnsoldaten irgendwie über die Tische geschoben haben, sondern es wählen die Bürgerinnen und Bürger. Und da sage ich nochmal: Das ist eine Entscheidung, die die Bürgerinnen und Bürger treffen, mit einem klaren Mandat für die SPD, mit einer klaren Entscheidung dafür, dass ich eine nächste Regierung bilden soll.
Keine Absicht, auch Parteivorsitzender zu werden
Capellan: Ja, und dann bleiben wir bei denen noch mal. Da gibt es ja auch welche, die Angst haben Sie zu wählen, weil sie sagen: Wenn ich den Scholz wähle, wache ich mit einer linken Regierung auf, ein linkes Bündnis mit Grünen und Linkspartei. Warum schließen Sie das nicht einfach aus?
Scholz: Ich werbe für die Politik, die ich richtig finde, und da kann sich jeder drauf verlassen, dass genau die auch dann Gegenstand der Politik der von mir geführten Regierung sein wird. Also, ich setze mich ein dafür, dass wir die transatlantische Partnerschaft weiterpflegen, dass wir in der NATO gemeinsam für unsere Sicherheit sorgen. Ich setze mich dafür ein, dass wir eine starke Europäische Union haben. Ich setze mich dafür ein, dass wir solide wirtschaften, mit unserem Geld ordentlich umgehen.
Capellan: Okay, das schließt, Herr Scholz, das schließt dann inhaltlich – und Sie glauben das reicht, wenn Sie das so sagen –, das schließt ein Bündnis mit der Linkspartei aus?
Scholz: Die Bürgerinnen und Bürger wählen Parteien und sie können am einfachsten sicherstellen, dass es eine von mir geführte Regierung gibt, indem sie ihre Zweitstimme bei der SPD machen, dann geht nichts schief. Und das wird dann eine Regierung sein, die genau den Grundsätzen folgt, die mir wichtig sind und die ich jetzt in dem großen Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern – das ist ja der Wahlkampf – immer wieder voranstelle.
Capellan: Nun machen andererseits ja weite Teile Ihrer Partei und auch die Parteivorsitzende Saskia Esken keinen Hehl daraus, dass sie immer noch von Rot-Rot-Grün träumen. Wie lange wird eigentlich diese wundersame Geschlossenheit der SPD noch halten? Wie lange dürfen wir diesem Frieden trauen, etwa nach der Wahl?
Scholz: Wer SPD wählt, weil er Scholz als Kanzler will, kriegt auch Scholz als Kanzler. Und damit das auch von allen gut verstanden wird, haben wir uns früh festgelegt. Wir haben sehr früh entschieden, wer Kanzlerkandidat der SPD sein soll und wir haben seither gezeigt, dass die SPD eine Partei ist, die zusammenarbeitet, die geschlossen ist – dafür stehe ich.
Capellan: Sollten Sie Kanzler werden, wäre es da nicht zwangsläufig auch richtig – Gerhard Schröder und Angela Merkel haben das beide immer wieder betont –, dass Sie dann noch einmal nach dem Parteivorsitz greifen im Dezember, um die SPD auf Linie zu halten?
Scholz: Nein, das halte ich nicht für erforderlich, das habe ich auch nicht vor.
Capellan: Herr Scholz, in der berühmten Fotoserie der "Süddeutschen Zeitung", im Magazin, diese Fotoserie ohne Worte [ein Interviewformat, bei dem die Interviewten mit Gesten statt mit Worten auf Fragen antworten, d.Red.], sehen wir Sie in dieser Woche mit dem Bild, als Sie gefragt wurden, was werden Sie an Angela Merkel vermissen, wie Sie die Raute zeigen. Machen Sie damit deutlich, dass es zwischen Ihnen und Merkels Politikstil auch Ähnlichkeiten gibt?
Scholz: Erst mal schätze ich die Bundeskanzlerin. Wir haben in vielen, vielen Jahren sehr gut zusammengearbeitet und deshalb, glaube ich, kann man das auch gerne zum Ausdruck bringen. Das wird ja doch eine erfolgreiche Kanzlerschaft sein, auf die sie zurückblicken kann.
Capellan: Also, dieses ruhige, moderierende, auch abwartende, manche haben gesagt, aussitzende Regieren der Kanzlerin entspricht in etwa auch dem, was Sie sich für die kommenden vier Jahre vorstellen?
Scholz: Aussitzen finde ich keine gute Lösung, aber dass man starke Führung zeigen muss und gleichzeitig es hinbekommen muss, mit all den anderen, die Einfluss nehmen auf das Geschehen in der Welt, einen Weg zu finden, der die Zukunft gemeinsam sicher macht, das ist zum Beispiel etwas, das unbedingt wichtig ist als politischer Stil. Und deshalb geht es schon darum, das Land zusammenzuführen und es gleichzeitig in die richtige Richtung zu bewegen, damit wir wissen, wir sind vorne dabei.
Capellan: Ich habe in diesem Foto mit der Raute auch eine Botschaft gesehen: Wer eigentlich noch einmal eine Angela Merkel will – und das sind ja nicht wenige im Land –, der muss jetzt Olaf Scholz wählen. Ist das die Botschaft?
Scholz: Ich werbe dafür, das Kreuz bei der SPD zu machen und dafür zu sorgen, dass der nächste Regierungschef ein Sozialdemokrat ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.