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SPD-Kanzlerkandidatur
"Schulz bietet mehr Orientierung als Merkel"

Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Manuela Schwesig freut sich über die Nominierung von Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten. Ihr fehle ein "Spitzenmann, der die Menschen mitnimmt und auch Orientierung gibt", sagte sie im Deutschlandfunk. Schwesig warf Bundeskanzlerin Angela Merkel vor, in der Flüchtlingspolitik planlos agiert zu haben.

Manuela Schwesig im Gespräch mit Frank Capellan |
    Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Manuela Schwesig (SPD), aufgenommen am 17.11.2016 auf einer Pressekonferenz zur Demenz-Versorgung in Greifswald (Mecklenburg-Vorpommmern).
    Manuela Schwesig, SPD, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wirft der Kanzlerin in der Flüchtlingspolitik Planlosigkeit vor und macht sie damit mitverantwortlich für die derzeitige Europamüdigkeit. (dpa / picture alliance / Stefan Sauer)
    Capellan: Manuela Schwesig, wieder ist der SPD ein Vorsitzender abhanden gekommen über die Kandidatensuche. Ich jedenfalls fühlte mich erinnert an die Klausur am Schwielowsee im Jahr 2008. Damals witterte Kurt Beck Intrigen gegen sich, er warf verbittert das Handtuch.
    Verbitterung spricht meiner Ansicht nach auch aus der jetzigen Begründung des Sigmar Gabriel. Er hat gesagt: "Ich hatte als SPD-Vorsitzender oft das Gefühl, an einem Hochseilakt teilzunehmen. Du stehst da oben, alle gucken zu, ob du fällst. Ein paar, die rütteln auch noch am Seil und wollen sehen, ob du dich halten kannst." Hat die Partei ihn zu sehr und zu lange allein gelassen?
    Schwesig: Nein. Sigmar Gabriel hatte von vielen Unterstützung aus der Partei, auch in schwierigen Zeiten. Und ich finde, der Vergleich mit Kurt Beck und Schwielowsee trägt überhaupt nicht. Denn Sigmar Gabriel hat die Entscheidung, den Parteivorsitz abzugeben an Martin Schulz aus einer Position der Stärke heraus getroffen, sehr souverän.
    Und es ist ja nicht so, dass wir ihn vom Hof gejagt haben, sondern er hat selbst entschieden, natürlich auch sicherlich nach vielen Gesprächen, nach vielem Abwägen. Das hat er ja auch selber gesagt, dass er ...
    Capellan: Er hat ja auch lange gezögert. Er hatte sicherlich sich anderes erhofft.
    Schwesig: Er hat selbst entschieden. Und das ist eine Staffelstabübergabe. Das ist ein bisschen etwas anderes, als wenn jemand – sage ich mal salopp gesagt – alles hinschmeißt und dann muss es jemand anderes machen. Es ist seit Wochen und Monaten darüber diskutiert worden, wer ist der geeignete Kanzlerkandidat. Und es war immer klar, dass derjenige, der Kanzlerkandidat wird, auch den Parteivorsitz haben muss, dass das in einer Hand sein muss. Und die Abwägung zu Martin Schulz hin, die halte ich für richtig.
    "Das war ein typischer Sigmar Gabriel"
    Capellan: Die Verbitterung spricht meiner Ansicht nach allerdings schon auch aus der Art und Weise, wie er seinen Rücktritt kommuniziert hat – das berühmte Interview im Stern. Da hätte man ihm ja sicherlich bessere Haltungsnoten erteilen können, wenn er das geordnet im Rahmen einer Pressekonferenz gemeinsam mit Martin Schulz gemacht hätte und nicht über eine Medienveröffentlichung.
    Schwesig: Das war ein typischer Sigmar Gabriel. Und ich finde, das sollte man jetzt auch gelassen sehen und gar nicht mehr so viel darüber reden. Denn Sigmar Gabriel hat diesen Schritt getan, der ist ihm nicht leichtgefallen, weil ich weiß – und das hat man auch erlebt –, gerade der Parteivorsitz war für Sigmar Gabriel etwas ganz, ganz Wichtiges, das hat ihm Spaß gemacht. Er hat unendlich viel Kraft investiert, er hat ja auch viel erreicht mit uns.
    Und deshalb finde ich, dass er jetzt am Ende die Hand darüber hatte, wie das kommuniziert wird. Und die Deutungshoheit, das sollte man ihm dann auch zugestehen, da sollte man genauso souverän sein.
    Capellan: Also, er wollte es allen nochmal zeigen: Ich habe es in der Hand gehabt und ich kann auch entscheiden, wie ich das kommuniziere?
    Schwesig: Wir haben immer gesagt: Der Parteivorsitzende entscheidet. Das hat er getan. Und er wollte auch die Entscheidung und den Weg dahin in der Hand haben. Und das finden nicht alle gut, dass es so gelaufen ist. Aber noch mal, ich finde, darüber braucht man jetzt auch nicht noch ewig lange reden – das hat Sigmar Gabriel jetzt so gemacht.
    Das Ergebnis zählt, und das Ergebnis ist, dass wir mit Martin Schulz einen Kanzlerkandidaten bekommen und auch einen Parteivorsitzenden, mit dem die Partei, aber auch – wie wir sehen – viele Bürgerinnen und Bürger eben Aufbruchsstimmung, Zukunft und Hoffnung verbinden. Und das ist das, was die SPD braucht.
    Der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel (r) und Martin Schulz (SPD) geben am 24.01.2017 in Berlin in der SPD-Zentrale eine Pressekonferenz. 
    Der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel (r) und Martin Schulz (SPD) geben am 24.01.2017 in Berlin in der SPD-Zentrale eine Pressekonferenz. (picture-alliance / dpa / Kay Nietfeld )
    "Ich halte den Abwägungsprozess, den Sigmar Gabriel gemacht hat, für richtig"
    Capellan: Über das Ergebnis wollen wir jetzt ausführlich reden. Trotzdem einmal noch die Frage an Sie, inwieweit Sie das überrascht hat?
    Schwesig: Meine Loyalität und Unterstützung für Sigmar Gabriel hat mich nicht daran gehindert, natürlich auch die Realitäten zu erkennen. Und die Realität ist, dass Sigmar Gabriel unheimlich viel geleistet hat. Er hat gerade in den letzten Wochen und Monaten alles richtig gemacht, hat zehntausende Arbeitsplätze bei Tengelmann gerettet, gegen, ich sage mal, juristische Bedenken, ging es ihm um das Wohl der Menschen, mich unheimlich unterstützt hat bei den zum Beispiel Verbesserungen für die Alleinerziehenden, den Weg geebnet hat für Frank-Walter Steinmeier als Bundespräsidenten, also viel Gutes.
    Ich glaube, das haben die Leute auch gesehen. Dennoch kam immer wieder der Satz: "Er ist nicht der Richtige", "Wenn Sigmar Gabriel antritt, dann werden wir SPD nicht wählen" – das haben auch die Umfragen gezeigt. Und das ist ...
    Capellan: Also, genau der Satz kam auch aus der Partei?
    Schwesig: Der Satz kam aus der Partei und auch von Bürgern und das zeigen ja auch die Umfragen. Und das ist sehr, sehr bitter, dass wenn jemand hart arbeitet, viel erreicht, nicht sozusagen sich das dann auch letztendlich auszahlt. Und ich glaube, es war jetzt einfach wichtig, dass wir personell auch ein Angebot zu Merkel machen und dieses personelle Angebot ist Martin Schulz. Das sehe ich übrigens so und das habe ich auch schon in der Vergangenheit so gesehen.
    Nichtsdestotrotz waren immer alle loyal und haben gesagt: Sigmar Gabriel ist der Parteivorsitzende und er hat am Ende das Vorschlagsrecht und wenn er es macht, dann hat er auch unsere Unterstützung. Aber ich halte den Abwägungsprozess, den Sigmar Gabriel gemacht hat, für richtig. Und das zeigt, dass ihm eben die SPD auch besonders am Herzen liegt, dass er auch vielleicht Eigenes dabei zurückstellt.
    Capellan: Eine Frage an die Frauenministerin: Wenn zwei Männer die Kanzlerkandidatur derart unter sich ausmachen, blicken Sie dann manchmal auch ein wenig neidisch auf die Grünen, wo sich drei relativ friedlich um die Spitzenkandidatur bemüht haben – auch eine Frau darunter – und wo dann die Mitglieder entscheiden konnten?
    Schwesig: Nein, also, ich schaue überhaupt nicht neidisch auf die Grünen, weil ich glaube, dass sie derzeit auch nicht das personell überzeugende Angebot haben. Wenn eine Frau hätte mitmischen wollen, dann hätte sie es auch sagen müssen. Das gab es jetzt nicht in der SPD. Ich war immer dafür, dass wir das sozusagen, wenn es nicht mehrere Kandidaten gibt, dann auch entscheiden über den Parteivorsitzenden.
    Und ich halte die Entscheidung für Martin Schulz für gut und richtig auch deshalb, weil ich weiß – und das ist auch meine persönliche Erfahrung der letzten Jahren in der Parteispitze –, dass er gerade die Themen, die für die Frauen interessant sind – das Thema "Vereinbarkeit Beruf/Familie", aber auch das Thema "Gleiche Rechte für Frauen", gerade beim Thema Lohngerechtigkeit – unterstützt hat. Und insofern werde ich mit ihm einen Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten haben, der diese Themen, die insbesondere für Frauen wichtig sind, unterstützt.
    Capellan: Bleiben wir noch einmal kurz bei Sigmar Gabriel. Thomas Oppermann, der Fraktionsvorsitzende, hat gesagt: "Als Außenminister" – das war ja auch für viele eine Überraschung, dass er nun nach dem Auswärtigen Amt greift –, "als Außenminister wird er eine dienende Funktion haben im aufziehenden Bundestagswahlkampf."
    Da stellt sich die Frage: Wie ist das gemeint? Wozu "dient" Sigmar Gabriel?
    Schwesig: Sigmar Gabriel hat als Minister die gleiche Aufgabe wie wir alle als Minister: Wir haben zunächst dem Land zu dienen, wir haben unseren Fachbereich natürlich voranzubringen, aber einzubetten in letztendlich eine verantwortungsvolle Politik der Bundesregierung. Und natürlich sind wir SPD-Minister in der ersten Reihe auch Aushängeschilder für die SPD und haben damit natürlich auch die Verantwortung, der Partei zu dienen und letztendlich auch jetzt dem Kanzlerkandidaten.
    Also, das gehört alles zusammen. Das Wort "dienen" mag so ein bisschen altmodisch klingen, aber das heißt für mich übersetzt, dass man einen guten Job machen muss für die Menschen im Land.
    Martin Schulz (SPD) kommt am 24.01.2017 in Berlin in der SPD-Zentrale zu einer Pressekonferenz. 
    Martin Schulz (dpa / picture-alliance / Kay Nietfeld)
    "Martin Schulz verfügt natürlich über eine ganz große internationale Erfahrung"
    Capellan: Also, er dient aber auch dazu, die SPD in einem etwas besseren Licht dastehen zu lassen, wenn ich daran denke, dass es ja immer, wenn man sich auf der internationalen Bühne präsentieren kann, sehr gut ankommt, auch in der Bevölkerung. Da gab es Ausnahmen, aber wenn wir an Frank-Walter Steinmeier denken, der hatte immer sehr hohe Popularitätswerte als Außenminister.
    Kann Sigmar Gabriel Außenminister? Denn er ist ja nicht gerade als Diplomat bekannt.
    Schwesig: Sigmar Gabriel kann das. Sigmar Gabriel hat schon oft bewiesen, dass er Herausforderungen meistert, dass er die Leute auch überraschen kann. Und Sigmar Gabriel hat ja jetzt in den letzten Jahren schon auch gerade als Wirtschaftsminister diesen Balanceakt bringen müssen zwischen zum Beispiel Wirtschaftssanktionen, die notwendig waren, aber gleichzeitig auch Problemen, die dadurch entstehen, zwischen den Themen Wirtschaftsbeziehungen mit Ländern, aber gleichzeitig Einhaltung auch von Menschenrechten in diesen Ländern.
    Also, dieses Thema ist ihm gar nicht fremd. Und dass er manchmal ein klares, deutliches Wort findet, das muss doch jetzt für Außenpolitik gar nicht so schlecht sein.
    Capellan: Also, mit Blick auf Amerika, auf die Vereinigten Staaten, mit Blick auf Donald Trump, halten Sie es da für richtig, wenn man klare Kante zeigt, wenn man deutliche Worte spricht? Viele sagen mittlerweile, anderes versteht der neue amerikanische Präsident gar nicht.
    Schwesig: Ich bin jedenfalls sicher, dass Sigmar Gabriel den richtigen Ton dafür treffen wird. Und – ja – an der Stelle kann man sagen, es ist auch gut, wenn wir als Land auch ganz klar und deutlich das vertreten, was unsere Werte sind. Und wichtig ist ja auch, dass die Menschen auch verstehen, was wir in der Außenpolitik bewirken wollen.
    Capellan: Sigmar Gabriel hat in dieser Woche im Bundestag auch gesagt: "Es geht um die Zukunft Europas, um Demokratie in Europa angesichts des Vormarsches der Rechtspopulisten überall. Wir müssen aufpassen, dass uns Europa nicht völlig auseinanderfliegt."
    Was kann Martin Schulz als ehemaliger EU-Parlamentspräsident da einbringen, um den Zerfall Europas zu verhindern?
    Schwesig: Martin Schulz verfügt natürlich über eine ganz große internationale Erfahrung, er hat Beziehungen zu den europäischen Staatsmännern und -frauen, er hat selber viele Krisen mitbegleitet. Also, deshalb glaube ich, da bringt er den Teil mit, den wir unbedingt brauchen. Also, wir brauchen einen Kanzler, der natürlich das internationale Parkett beherrscht, der mit dazu beiträgt, dass Europa wieder zusammenrückt, dass Frieden herrscht.
    Und er schafft es gleichzeitig, dieses abstrakte Europa, dieses Europa, was viele nur noch über Institutionen wahrnehmen und gar nicht mehr über den Friedensgedanken, er schafft es, dafür Begeisterung zu erwecken. Und da hat Martin Schulz definitiv die Nase vor der Kanzlerin.
    "Das große Manko der Kanzlerin ist, dass sie die Menschen auf dem Weg nicht mitnehmen kann"
    Capellan: Er hat sich immer auch mit Angela Merkel sehr gut verstanden. Die beiden konnten sehr gut miteinander – jetzt ist er plötzlich der Gegner der Kanzlerin. Wie soll das funktionieren?
    Schwesig: Das muss sich gar nicht widersprechen. Also, ich glaube, dass man, wenn man Verantwortung in bestimmten Positionen hat, natürlich dann auch als Deutsche zusammenarbeiten muss jenseits von Parteigrenzen. Und ich glaube, der Unterschied zwischen Martin Schulz und der Kanzlerin ist, dass Martin Schulz überhaupt erklären kann, warum brauchen wir Europa, was ist unsere Rolle in Deutschland, wo wollen wir hin mit diesem Europa und dass er auch begeistern kann.
    Das große Manko der Kanzlerin ist, dass sie die Menschen oft auf dem Weg gar nicht mitnehmen kann, dass das alles sehr technisch läuft und die Leute irgendwie verwirrt sind vom Thema "Finanzkrise", "Europakrise", "Flüchtlingskrise". Es fehlt an dem Spitzenmann in unserem Land, der auch die Menschen in unserem Land mitnimmt, gerade bei diesen schwierigen internationalen Themen, und der auch Orientierung gibt. Und das – das ist meine persönliche Erfahrung, wenn ich vor Ort bin – vermissen die Bürgerinnen und Bürger bei der Kanzlerin. Nicht umsonst wenden sich auch mittlerweile viele ab.
    "Wie krude die Gedanken der AfD sind, konnte man gerade diese Woche wieder erleben"
    Capellan: Allerdings hat die AfD bereits jubiliert, als die Nominierung von Martin Schulz bekannt wurde, weil sie gesagt hat, argumentiert hat: Das ist ein Mann des sogenannten Establishments, das ist ein Mann, der für eine Haftungsunion steht. Das spricht eigentlich alles dagegen, dass er neue Wähler für Europa begeistern könnte.
    Schwesig: Es ist ja die Frage, wo wir die Wählerinnen und Wähler sehen. Es sprechen immer alle über die Wählerinnen und Wähler, die derzeit bereit sind, AfD zu wählen, aber wir müssen auch mal über die 85 Prozent im Land sprechen, die nicht AfD wählen werden. Von diesen 85 Prozent muss die SPD viel mehr wieder zurückgewinnen – das ist das eine.
    Und es ist gut, wenn wir klare Auseinandersetzungen haben mit der AfD – diese Auseinandersetzung scheuen wir überhaupt nicht. Das ist auch ein großes Kampffeld im Wahlkampf, weil die Unterschiede sind deutlich. Die AfD steht doch für die Spaltung des Landes, sie will Angst und Unsicherheit schüren, sie ist oft auch geistiger Brandstifter für Dinge, die in unserem Land passieren, die den Menschen nicht gefallen. Die Menschen wollen eigentlich nicht, dass dieses Land so auseinanderbricht.
    Und dagegen steht die Sozialdemokratie mit Martin Schulz, die für den Zusammenhalt steht. Und wie krude die Gedanken der AfD sind, konnte man gerade diese Woche wieder erleben. Ein AfD-Vertreter hat im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern – ich weiß, es schauen nicht alle in dieses kleine Land hin – bestritten, dass es den Klimawandel gibt. Er hat sogar gesagt, dass Kohlendioxid gut für die Natur ist. Also, ich muss wirklich denjenigen sagen, die vorhaben, die AfD zu wählen, sie sollen noch mal hinschauen, was die Leute von sich geben. Wer die Realität verkennt, der kann keine gute Politik fürs Land machen.
    Der AfD-Politiker Björn Höcke
    Der AfD-Politiker Björn Höcke sorgte mit einer umstrittenen Rede zum Gedenken an den Nationalsozialismus für viel Kritik. (imago / Jacob Schröter)
    Capellan: Dann lassen wir uns bei dem Thema bleiben, wie man mit der AfD umgehen sollte. In dieser Woche war das Holocaust-Gedenken am Freitag im Bundestag. Wenige Tage vorher hat der Geschichtslehrer Björn Höcke von einer "dämlichen Erinnerungskultur in Deutschland" gesprochen.
    Steht der verantwortungsvolle Umgang mit der deutschen Geschichte durch den Erfolg der AfD auf dem Spiel? Und was kann man dagegen tun?
    Schwesig: Ja, diese Äußerungen von Herrn Höcke zeigen, dass die AfD gar nicht so harmlos und bürgerlich ist, wie sie gerne erscheinen mag, sondern dass sie rechtsextreme Züge hat. Und im Deutschen Bundestag hatten wir die Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus mit dem Schwerpunkt, an die Opfer zu denken, die, weil sie geistig behindert waren, körperlich behindert waren, umgebracht worden sind, als unwertes Leben bezeichnet. Und dort hat eine Lehrerin das Schicksal ihrer Tante vorgetragen, ein junges Mädchen, das eben vergast worden ist, weil sie geistig behindert war.
    Und diese Frau hat mich echt bewegt und beeindruckt, weil sie sich auf die Suche gemacht hat nach dem konkreten Schicksal, weil sie uns noch mal ins Stammbuch geschrieben hat: Wir dürfen diese Menschen nicht vergessen und wir dürfen nicht vergessen, dass immer wieder auch heute sich die Welt so verändern kann, dass eben auch wieder solche schrecklichen Sachen möglich wären und dass wir da wachsam sein müssen.
    Und wissen Sie, wenn ich so eine Frau, so eine Lehrerin höre, dann sage ich: Das ist die Richtige, die auch mit unseren Kindern und Jugendlichen spricht. Und dass Herr Höcke als Lehrer so etwas von sich gibt, finde ich unmöglich. Und ich bin auch der Meinung, dass die AfD ihn ganz bewusst nicht rausgeworfen hat, weil sie nämlich gerne auch an diesem rechten Rand fischt.
    "Die NPD ist verfassungsfeindlich."
    Capellan: Sie haben ja viel in Mecklenburg-Vorpommern auch mit Rechtsextremismus zu tun. Sie waren auch enttäuscht, dass die NPD nicht verboten wurde. Ermuntert dieses Nicht-Verbot Rechtsextremisten, sich so zu äußern, wie es Björn Höcke getan hat?
    Schwesig: Natürlich nutzen jetzt Rechtsextreme dieses Urteil aus und sagen: "Ja, seht ihr, wir sind ja nicht verboten". Ich finde es dennoch richtig, dass man das Verbot versucht hat, auch wenn ich natürlich enttäuscht bin, dass es nicht ganz gelungen ist. Weil das Verfassungsgericht aber erstmalig gesagt hat: Die NPD ist verfassungsfeindlich.
    Und jetzt, finde ich, muss Politik handeln. Ich finde, dieses Urteil ist auch Auftrag. Zum Beispiel sehe ich überhaupt nicht ein, dass wir mit den Steuergeldern der Krankenschwester diese Partei finanzieren, wo das höchste Gericht sagt, die ist gegen unsere Grundwerte, gegen unsere Verfassung. Und deshalb ...
    Capellan: Also, Sie wollen eine Grundgesetzänderung mit Blick auf die Parteienfinanzierung?
    Schwesig: Genau. Genau.
    Capellan: Und wie schnell soll die durchgebracht werden und wie schnell kann die vereinbart werden?
    Schwesig: Das müssen die Fraktionen des Deutschen Bundestages prüfen, weil das geht ja natürlich nur über den Deutschen Bundestag. Aber ich finde, dass man in dieser Legislatur noch das machen sollte. Weil, man kann ja niemandem mehr erklären, dass wir eine Partei finanzieren, die gegen unser Grundgesetz ist.
    Wir wollen, dass unsere Kinder die Werte unserer Gesellschaft, unsere Grundwerte achten und gleichzeitig finanzieren wir eine Partei, die diese Werte mit Füßen tritt - das passt nicht zusammen, der Rechtsstaat darf sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen.
    Die drei Richter stehen nebeneinander; Voßkuhle verliest gerade das Urteil, das er in den Händen hält.
    Der Vorsitzende Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, verkündet am 17.01.2017 neben seinen Kollegen Peter Müller (l) und Peter M. Huber das Urteil im NPD-Verbotsverfahren im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. (Kai Pfaffenbach / REUTERS POOL / dpa)
    "Wir brauchen die richtigen Integrationsbedingungen"
    Capellan: Nun ist die AfD groß geworden durch die Kritik an der Flüchtlingspolitik, insbesondere an Angela Merkel. Die SPD – Sigmar Gabriel – argumentiert nun, Angela Merkel habe einen Scherbenhaufen in Europa hinterlassen, weil sie eben so viele Flüchtlinge aufgenommen hat.
    Macht sich die SPD da nicht unglaubwürdig? Denn man hat ja diesen Kurs auch lange bedingungslos mitgetragen.
    Schwesig: Na ja, wir haben ihn nicht bedingungslos mitgetragen, sondern wir haben erstmals für die richtigen Bedingungen gesorgt. Denn wir haben gesagt: Was ja nicht reicht ist, erst mal die Grenzen aufzumachen und alle können herkommen, sondern wir brauchen geordnete Verfahren. Erstens müssen diejenigen, die zu uns kommen, auch aufgenommen werden, wir müssen wissen, wer zu uns kommt.
    Zweitens, wir müssen insbesondere einen Schwerpunkt für Familien, also für Frauen und Kinder setzen. Und wir brauchen auch die richtigen Integrationsbedingungen. Es war ja die SPD, die Frau Merkel und die CDU treiben musste, dass wir endlich ein Integrationskonzept haben, ein Integrationsgesetz, Gelder zur Verfügung stellen, damit eben vor Ort nicht diese sozialen Spannungen auch entstehen, dass die Leute das Gefühl haben, weil jetzt die ganzen Flüchtlinge da sind, fehlen ihnen Dinge. Mir zum Beispiel war immer wichtig, dass es Kita-Plätze für alle gibt – für die einheimischen Kinder und für die Flüchtlingskinder.
    Und das meinte ich vorhin auch: Frau Merkel hat gerade an diesem Punkt gezeigt, dass sie keinen Plan hat. Sie hatte vorher keinen Plan, wie machen wir das eigentlich mit den Flüchtlingen, und dann auch lange Zeit, als wir diese zugespitzte Flüchtlingssituation hatten, und sie hat auch die Leute zu wenig mitgenommen. Mir hat zum Beispiel eine Verkäuferin gesagt: "Frau Schwesig, ich finde ja die Entscheidung nicht verkehrt, aber uns hat gar keiner darauf vorbereitet." Und da dachte ich so: Sie hat Recht.
    "Ich kenne Martin Schulz als jemanden, der ausgesprochen Familienthemen, Frauenthemen mit unterstützt"
    Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig. Frau Schwesig, Martin Schulz ist für viele innenpolitisch ein unbeschriebenes Blatt. Was erwartet die Familienministerin, die auch in der Programmkommission der SPD sitzt, das Wahlprogramm für die Bundestagswahl ausarbeitet, was erwartet sie von Martin Schulz?
    Schwesig: Ja, ich finde ja gar nicht, dass Martin Schulz innenpolitisch ein unbeschriebenes Blatt ist. Natürlich ist er vor allem als Europaparlamentarier bisher aufgetreten, aber Martin Schulz ist ja Mitglied der Parteiführung seit vielen Jahren, und den Programmprozess haben wir in der Parteiführung besprochen. Und ich kenne Martin Schulz als jemanden, der ausgesprochen Familienthemen, Frauenthemen mit unterstützt – das habe ich oft erfahren, weil ja nicht immer alles unumstritten ist, auch in der Partei.
    Ich gehe fest davon aus, dass das, was wir jetzt auch als Programm erarbeitet haben, zum Beispiel beim Thema "Vereinbarkeit von Beruf und Familie", beim Thema "Familiengeld", beim Thema "Gerechtes Steuerrecht", dass das Martin Schulz unterstützt, weil er auch jemand ist, der gerade beim Thema Gerechtigkeit den Schwerpunkt für unseren Wahlkampf sieht.
    Capellan: Sie möchten eine Familienarbeitszeit, haben die mehrfach vorgeschlagen. Wer sich um Kinder kümmert und die Arbeitszeit reduziert, der soll ein Familiengeld gekommen, bis zu 300 Euro monatlich.
    Wie soll das finanziert werden? Und vor allen Dingen die Frage, das ist eine Idee, die auch die Union, die auch die Kanzlerin nicht unbedingt als Blödsinn, sage ich mal, vom Tisch gewischt hat. Besteht nicht die Gefahr, dass die Union wieder einmal am Ende die Lorbeeren einfährt?
    Schwesig: Na ja, bei dem Thema ist ja das Gute, dass gerade die Kanzlerin bevor sie sich überhaupt mit dem Konzept beschäftigt hat, durch ihren Regierungssprecher verkünden lassen hat zu Beginn der Legislatur, dass sie davon nicht viel hält. Als dann alle mitbekommen haben, die Idee ist vielleicht gar nicht so schlecht und sie trifft vor allen Dingen den Nerv der Familien, Zeit füreinander zu haben, hat der Gegenwind ein bisschen nachgelassen.
    Aber ich glaube, die SPD hat in den letzten Jahren gezeigt, dass wenn die Familien sich auf eine Partei verlassen können, dass es die SPD ist. Weil wir haben alles durchgesetzt, die Union hatte überhaupt keine eigenen Ansprüche beim Thema Familienpolitik. Sie hat vieles am Anfang blockiert, am Ende dann mitgemacht. Klar, besteht immer die Gefahr, dass die Kanzlerin sich draufsetzt, aber ich glaube, in dem Themenfeld ist es uns gelungen zu zeigen, dass die Union den Anspruch, eine Familienpartei zu sein, schon lange aufgegeben hat.
    "Wir wollen vor allem die Familien unterstützen, die Kinder haben, unabhängig davon, wie sie zusammenleben"
    Capellan: Wohin geht die Reise mit Martin Schulz bei der Steuerpolitik, bei der Umverteilung von Vermögen von reich zu arm?
    Schwesig: Martin Schulz unterstützt das Steuerkonzept, dass wir vor allem die kleineren und mittleren Einkommen treffen müssen, uns auch um die Gedanken machen müssen, die gar keine Steuern zahlen, weil ihre Einkommen so klein sind, aber Sozialabgaben. Und wir werden in der Partei noch diskutieren müssen über das Thema Vermögenssteuer, über das Thema Erbschaftssteuer. Ich glaube, es ist jetzt gar kein steuerrechtliches Klein-Klein notwendig, sondern es sind Grundzüge notwendig.
    Und die Grundzüge müssen sein, dass wir insbesondere kleinere und mittlere Einkommen und vor allem Familien entlasten. Wir müssen im Steuerrecht unbedingt moderner werden. Wir vernachlässigen die vielen Familien, die nicht verheiratet sind, die alleinerziehend sind, und da muss sich das Steuerrecht ändern.
    Capellan: Sie wollen aber vor allen Dingen eine Entlastung über eine Senkung der Abgaben.
    Schwesig: Wir wollen eine Entlastung über die Steuern und denken jetzt darüber nach, wie können wir aber auch die Familien zum Beispiel erreichen, die gar keine Steuern zahlen, aber Sozialabgaben.
    Capellan: Wie passt das damit zusammen, dass Andrea Nahles gerade eine Erhöhung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung in Erwägung ziehen muss, weil das Rentenniveau auf 46 Prozent gehalten werden soll?
    Schwesig: Na ja, das gehört da mit zusammen. Denn natürlich erwarten die Leute erst recht, wenn sie ihr ganzes Leben gearbeitet haben, dass sie hinterher eine gute Rente haben. Wir wissen, dass wir gerade was das Rentenniveau angeht, Probleme gekommen können, wenn wir nicht das Rentenniveau stabilisieren.
    Capellan: Das wäre ja dann keine Senkung der Sozialabgaben, das wäre eine Erhöhung des Rentenbeitragssatzes.
    Schwesig: Nein. Aber zum Beispiel kann man auch beim Thema Steuererleichterung darüber nachdenken, ob man da nicht über die Sozialabgaben geht, sondern über die sogenannte negative Einkommensteuer, also ein Auszahlungsbetrag für die, die gar keine Steuern zahlen. Da gibt es sehr viele Modelle.
    Am Ende ist doch entscheidend, dass wir mit der Botschaft an die Menschen gehen und sagen: Wir wollen vor allem die entlasten, die jeden Tag hart arbeiten, aber unterm Strich bleibt bei ihnen gar nicht viel übrig, weil sie Kita-Gebühren zahlen, weil sie ihre Wohnung bezahlen müssen, weil sie ein größeres Auto brauchen, weil sie Kinder haben.
    Und derzeit ist das Steuerrecht so, dass es Ehegatten bevorteilt, aber nicht zwingend Familien, wo Kinder sind. Und wir sagen, wir wollen umsteuern, wir wollen vor allem die Familien unterstützen, die Kinder haben, unabhängig davon, wie sie zusammenleben.
    "Die SPD wird ohne Koalitionsaussage in die Wahl gehen"
    Capellan: Mit wem will Martin Schulz eine Mehrheit für seine Kanzlerschaft zusammenbekommen? Es gab in dieser Woche einen heftigen Schlagabtausch zwischen Sozialdemokraten und Linken. Hubertus Heil hat der Linkspartei Protektionismus á la Donald Trump vorgeworfen.
    Die Grünen wiederum haben die industriefreundliche Politik des Sigmar Gabriel kritisiert, haben daran erinnert, dass Gabriel als Wirtschaftsminister den Klimaschutzplan von Barbara Hendricks zurechtgestutzt hat. Das hörte sich alles nicht nach Rot-Rot-Grün an. Wie groß sind Ihrer Ansicht nach die Gemeinsamkeiten?
    Schwesig: Die SPD wird ohne Koalitionsaussage in die Wahl gehen. Ich glaube, von uns weiß heute noch niemand, wie die Mehrheitsverhältnisse am 24. September im Deutschen Bundestag sind. Da ist irgendwie alles möglich, alles drin. Wir müssen dafür sorgen, dass wir selber stärker werden. Die bisher 20 Prozent sind echt richtig bitter für die SPD, da müssen wir wieder nach oben kommen.
    Jetzt, mit der Kandidatur von Martin Schulz schon mal wieder auf 23 Prozent ist okay, aber natürlich haben wir da noch Luft nach oben. Und dann muss man sehen, mit welchen Koalitionspartnern kann man eine SPD-geführte Bundesregierung stellen. Wie wir sehen doch eines: Wir sind der Motor dieser Regierung gewesen, aber natürlich ist es unheimlich anstrengend, immer die guten Dinge für die Menschen gegen die Union durchzusetzen. Es wäre besser, wir könnten die guten Dinge für die Menschen mit anderen Koalitionspartnern schneller und unkomplizierter umsetzen.
    Capellan: Kann man auch, sollte man ein Bündnis mit der FDP wieder in Erwägung ziehen?
    Schwesig: Ich bin dafür, dass wir kein Bündnis ausschließen, aber jetzt auch nicht ein Bündnis favorisieren. Ich glaube, 2017 wird es das erste Mal so sein, dass jeder mit jedem spricht – außer natürlich mit der AfD –, und in dieser Koalitionsdiskussion verliert sich die SPD nur.
    Wir müssen auf unsere eigene Stärke setzen. Uns muss es gelingen, den Leuten deutlich zu machen: Wenn ihr Martin Schulz als Kanzler wollt, dann müsst ihr SPD wählen, denn nur mit einer starken SPD wird das am Ende rauskommen.
    "Das macht einfach Spaß, für das Land zu gestalten"
    Capellan: Abschließend ein Wort zu Ihrer Person. Sie treten erstmals für ein Mandat im Bundestag an – warum?
    Schwesig: Ja, ich bin als Bundesfamilienministerin natürlich Bundespolitikerin und habe deshalb mein Landtagsmandat abgeben müssen und finde es jetzt sehr gut, dass ich die Chance habe, für ein Bundestagsmandat zu kandidieren, weil es mir auch wichtig ist, die Interessen der Menschen aus der Region wo ich herkomme – Schwerin, Westmecklenburg – zu vertreten im Deutschen Bundestag.
    Capellan: Das heißt aber, Sie sehen Ihre politische Zukunft in Berlin als Ministerin und nicht als Ministerpräsidentin in Mecklenburg-Vorpommern? Denn als solche werden Sie auch immer wieder gehandelt und ins Gespräch gebracht.
    Schwesig: Ja, aber diese Debatte ist ja gar nicht aktuell interessant, weil wir haben einen Ministerpräsidenten, der gerade gewählt worden ist, Erwin Sellering. Und ich kandidiere jetzt für den Deutschen Bundestag und würde mich freuen, wenn ich in einer Regierung Martin Schulz wieder Bundesministerien sein kann. Das macht einfach Spaß, für das Land zu gestalten. Alles andere - ich glaube, ich bin 42 Jahre, ich muss jetzt nicht jede Frage beantworten.
    Capellan: Manuela Schwesig, danke für das Gespräch.
    Schwesig: Danke schön.