Christiane Kaess: Am Telefon ist jetzt der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, Mitglied des SPD-Bundesvorstandes, und er war bei den Verhandlungen in Berlin dabei. Guten Morgen.
Martin Schulz: Guten Morgen!
Kaess: Herr Schulz, 17 Stunden Schluss-Marathon, 185 Seiten Koalitionsvertrag – angesichts dieses Mammut-Werkes, ist es denn da angebracht, dass jetzt eventuell gerade mal gut 90.000 SPD-Mitglieder darüber entscheiden, ob die Koalition tatsächlich zustande kommt?
Schulz: Diese zukünftige Bundesregierung besteht aus selbstständigen Parteien und diese Parteien haben ihre internen Regularien. Eines unserer Regularien ist – das haben wir ja neu eingeführt – die Beteiligung der Mitglieder an grundsätzlichen Entscheidungen der Partei. Und in eine Regierung einzutreten oder nicht einzutreten, ist eine sehr grundsätzliche Entscheidung. Insofern machen wir von einem Instrument gebrauch, das ja in der SPD, als es eingeführt wurde, übrigens von den Medien lebhaft begrüßt wurde als eine Neuerung in der deutschen Parteiendemokratie, als eine Öffnung der Parteien.
Ich bin immer so ein bisschen erstaunt. Nachdem wir dieses Instrument unter großem Jubel eingeführt haben und jetzt gebrauchen, melden sich dann skeptische Stimmen. Also ich glaube, die Basisbeteiligung ist sicher ein Akt der Öffnung der Partei für eine moderne demokratische Entscheidungskultur.
Kaess: Aber wenn dem so ist, sollten dann die SPD-Mitglieder nicht ein Recht darauf haben zu erfahren, wer von ihren Spitzenpolitikern welches Ressort besetzen wird?
Schulz: Wir haben gerade aus unserer Mitgliedschaft viele Signale bekommen, genau das Gegenteil zu tun, um zu vermeiden, dass wir über Personalrochaden, über irgendwelche Spekulationen diskutieren müssen, wer wird was aus welchem Grund, sondern darüber diskutieren sollten – und das ist der Wunsch, muss ich noch einmal wiederholen, der Mitgliedschaft -, welche Inhalte sind da eigentlich verhandelt und durchgesetzt worden. Statt über Personalien zu spekulieren, über Inhalte zu diskutieren, das war der ausdrückliche Wunsch unserer Basisorganisation – einer der Gründe, warum wir erreicht haben, dass über die Personalfragen ganz zum Schluss gesprochen wird.
Kaess: Sie haben ja gestern noch behauptet, Helmut Schmidt werde Finanzminister. Können Sie uns denn heute einen seriöseren Tipp geben?
Schulz: Na ja, das war am frühen Morgen. Als viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen, halb in den Seilen hängend, mich gefragt haben, habt ihr denn schon einen Finanzminister, habe ich scherzhaft gesagt, ja klar: Helmut Schmidt.
Kaess: Und wer wird es ernsthaft?
Schulz: Ich habe ja Ihre Zielrichtung in der Frage schon gut verstanden. Aber ich verweise auf die vorherige Antwort. Wir werden über die Frage, wer übernimmt welches Ressort, am Ende der Entscheidungsfindung reden.
Kaess: Herr Schulz, vor dem Hintergrund des Mitgliederentscheides – es bleibt der Eindruck: Während Angela Merkel immer betont, es zählt, wie es dem Land geht, zählt für die SPD, wie es der SPD geht.
Schulz: Ich nehme diese Frage einfach mal so hin. Weil ich in vielen, vielen Interviews auch mit dem Deutschlandfunk mir den Vorwurf gefallen lassen musste, als wir zum Beispiel bei der Eurorettungskrise zugestimmt haben, weil wir sagten, wir könnten zwar jetzt die Regierung, die keine Mehrheit hat, zu Fall bringen, aber wir übernehmen die Verantwortung für dieses Land und stimmen der Eurorettungspolitik zu, habe ich auch im Deutschlandfunk die Kritik gehört, ihr habt ja gar keine eigene Position, beziehungsweise das Argument, erst das Land, dann die Partei, ist aber ziemlich schwach.
Jetzt höre ich eine Frage, es ginge uns nur um uns. Das finde ich sehr überraschend. Ich finde, wir haben einen Koalitionsvertrag der Großen Koalition für die kleinen Leute in diesem Lande geschlossen, und um die geht es vor allen Dingen der SPD, um die Leute, die einen Mindestlohn brauchen, um den Dachdecker, der nach 45 Jahren den Rücken kaputt hat und in Rente gehen kann. Es geht um die Mütter, die Kinder zur Welt gebracht haben und die jetzt eine Betreuung brauchen, weil sie als alleinerziehende Mütter einen Kita-Platz brauchen. Um diese Leute geht es und für die haben wir, finde ich, einen hervorragenden Koalitionsvertrag herausverhandelt.
Kaess: Herr Schulz, Sie haben gerade schon die Brücke zur Europapolitik geschlagen. Schauen wir auf die Sparpolitik in Europa. Sie haben ja vor den Verhandlungen noch die Bedingung gestellt, diese Politik wird Merkel nicht fortsetzen können. Das war ein Zitat von Ihnen. Darüber findet sich jetzt aber nichts im Koalitionsvertrag?
Schulz: Warum nicht?
Kaess: Warum schon? Es steht nirgendwo, dass die Sparpolitik nicht fortgesetzt wird.
Schulz: Ich empfehle Ihnen, die Einleitung des Europakapitels noch einmal nachzulesen. Ich kann es fast wörtlich zitieren.
Bekämpfung der EU-Jugendarbeitlosigkeit
Kaess: Da ist viel von Austerität die Rede und ein bisschen etwas von Solidarität.
Schulz: Ich zitiere Ihnen den Satz noch mal: "Eine nachhaltige Haushaltspolitik und Haushaltskonsolidierung alleine reicht nicht. Wir brauchen Investitionen in Wachstum und vor allen Dingen Beschäftigung und den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Den wird die zukünftige Bundesregierung an die erste Stelle ihrer Aktivitäten setzen."
Kaess: Das ist ja nichts Konkretes.
Schulz: Ach so. Das ist nichts Konkretes? – Da steht drin, dass wir sechs Milliarden Euro ausgeben wollen für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in 2014/2015. Da steht drin, dass wir die Entsenderichtlinien für entsendete Arbeiter in Europa novellieren wollen. Das sind die Missbrauchsstrukturen, die wir gerade in der Fleischindustrie kennen, wo Leute von einem Land ins andere geschickt werden und für 2,90 Euro acht Stunden, zehn Stunden, zwölf Stunden am Tag arbeiten müssen, diese Ausbeutung zu regulieren. Da steht die Bankenunion drin, indem zum Beispiel die Haftung von Anlegern, die Haftung von Eigentümern, die Haftung von Gläubigern, von Großbanken angesprochen ist, die zukünftig Banken retten sollen, und nicht der Steuerzahler, der die Spekulationsverluste von hemmungslosen Zockern abdecken soll. Ich könnte Ihnen die Liste jetzt fortsetzen, aber vielleicht hatten Sie in der Kürze der Zeit seit gestern auch nicht die Gelegenheit, den Vertrag vollständig zu lesen. Das kann ich ja verstehen.
Kaess: Aber, Herr Schulz, eine ursprüngliche SPD-Forderung, eine gemeinsame Haftung für Staatsschulden, soll es nicht geben, und die SPD ist auch mit ihrer Forderung nach einem europäischen Schuldentilgungsfonds gescheitert.
Schulz: Ich würde Ihnen doch empfehlen, den Vertrag noch mal zu lesen. Der Satz, die Haftung von Staaten für Bankenschulden wird ausgeschlossen, der steht wörtlich so in diesem Vertrag drin. Ich sage das noch mal: Ich habe da Verständnis für Sie. Man kann nicht zwischen gestern Nachmittag und heute Morgen 184 Seiten intensiv lesen. Schauen Sie noch mal nach!
Kaess: Haben Sie denn schon Reaktionen aus europäischen Ländern, die davon ausgehen, dass die Reformen gelockert werden?
Schulz: Ja. Wir haben sehr, sehr positive Reaktionen, insbesondere was die Bankenunion angeht, insbesondere was den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit angeht, was die Entsenderichtlinie angeht, Punkte, die ich gerade genannt habe. Es steht zum Beispiel folgender Satz drin: "Die sozialen Grundrechte, die in der Grundrechte-Charta der EU verankert sind, haben gleich viel Gewicht wie die Binnenmarktsfreiheiten im Binnenmarkt." Das ist ein entscheidender Satz für ganz viele Menschen in Europa, weil es nämlich bedeutet, dass die Wettbewerbsfreiheit von Unternehmen nicht höherrangig ist als zum Beispiel das Streikrecht, oder als das Tarifrecht. Das ist eine Trendwende in der europäischen Politik, wie es sie vorher noch nie gegeben hat. Ich glaube, wir haben jedenfalls sehr, sehr positive Reaktionen unserer Nachbarn.
Partnerschaft mit Vilnius bleibt auf der Agenda
Kaess: Herr Schulz, ein Thema möchte ich zum Schluss noch kurz ansprechen. Wir haben nicht mehr viel Zeit, aber dennoch: Heute beginnt der Gipfel der Europäischen Union zur östlichen Partnerschaft in Vilnius. Die Partnerschaft mit dem wichtigsten Land, nämlich der Ukraine, die ist schon vor dem Gipfel gescheitert. Die Ukraine hat sich entschieden, sich wieder stärker Russland zuzuwenden. War sich die EU hier ihrer Sache zu sicher?
Schulz: Ja, ganz sicher. Ich glaube, dass wir …
Kaess: Sie haben Russland unterschätzt?
Schulz: Nicht nur Russland unterschätzt. Ich glaube, wir haben auch die Dramatik der innenpolitischen Situation in der Ukraine unterschätzt. Die Ukraine ist mehr oder minder wirtschaftlich und vor allen Dingen finanziell in der tiefsten Krise in der Geschichte seit der Freiheit, seit der Einführung der Demokratie, seit der Orangenen Revolution. Die brauchen dringend Geld, die brauchen dringend sichere Gasversorgung.
Und die Europäische Union ist, wenn Sie mal sehen, was Putin den Ukrainern geboten hat, sicher nicht in diesem Maße bereit gewesen, den Ukrainern zu helfen. Darüber braucht man ja nicht lange zu diskutieren. Staaten Kredite zu geben, Staaten, die in der Krise sind, zu helfen, das ist in Europa nicht besonders populär. Und die Ukraine bekommt, wenn Sie mal die Angebote aus Moskau ansehen, kurzfristige Hilfe, die wir als Europäer in dieser Form nicht leisten können oder leisten wollen, und das ist meiner Meinung nach einer der Gründe, warum die Regierung unter diesem enormen Druck sich dann am Ende für eine Kooperation mit Russland entschieden hat. Ich glaube, wir werden als Europäische Union über diesen Vorgang noch lange nachdenken müssen.
Kaess: …, sagt der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz von der SPD. Danke für das Interview heute Morgen.
Schulz: Danke Ihnen, auf Wiederhören.
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