Christoph Heinemann: Parteitag der SPD in Berlin. In Berlin erreichen wir auch den Journalisten Daniel Friedrich Sturm. Er ist Hauptstadt-Korrespondent der Tageszeitung "Die Welt" und SPD-Kenner. Guten Tag!
Daniel Friedrich Sturm: Guten Tag, Herr Heinemann.
Heinemann: Kann diese SPD noch Wahlen gewinnen?
Sturm: Na ja. Sie hat ja in den letzten Jahren durchaus Wahlen gewonnen, denken Sie an die vielen Landtagswahlen. Die Sozialdemokraten verweisen ja immer darauf, dass sie in 14 von 16 Bundesländern Regierungsverantwortung tragen, außerdem im Bund und in den Großstädten. Jetzt stehen aber im März drei wichtige Landtagswahlen an, im März 2016: Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. Das wird ein sehr, sehr schwieriger Gang für die SPD und ich glaube, Sigmar Gabriel ist ganz froh, dass dieser Parteitag vor diesen Wahlen liegt.
Heinemann: Herr Sturm, Sie haben heute Morgen getwittert: "Je länger Aydan Özoguz redet, desto größer ist die Vorfreude auf Gerhard Schröder." Ist damit ein Grundproblem der SPD beschrieben, Stichwort Personal?
Sturm: Das würde ich schon sagen. Frau Özoguz ist ja stellvertretende SPD-Vorsitzende. Man bekommt davon aber relativ wenig mit. Außerdem ist sie Integrationsbeauftragte der Bundesregierung. Auch da finde ich, dass sie bei diesem Megathema wenig daraus macht. Das ist ein Grundproblem in der SPD, dass diese stellvertretenden Vorsitzenden eigentlich nicht richtig präsent sind. Hannelore Kraft und Olaf Scholz sind auch stellvertretende Vorsitzende; die kümmern sich aber im Wesentlichen um ihr Bundesland und greifen wenig in SPD-Politik im Bund ein. Das hat zwei Gründe: Zum einen hat Sigmar Gabriel das Bedürfnis, immer alles selbst zu machen, und mag nicht richtig delegieren. Auf der anderen Seite haben sie auch keine richtige Lust, ihn zu unterstützen. Da weiß man nicht genau, wer letztlich schuld ist. Aber es ist ein Grundproblem und ich glaube, das wird sich auch zeigen. Zwei Ausnahmen gibt es: Frau Schwesig und Herrn Stegner, auch Stellvertreter Gabriels. Die sind natürlich sehr präsent. Und bei Stegner meint dann wiederum mancher Delegierter, er sei in den Medien viel zu sehr präsent.
"Die Große Koalition hat sehr sozialdemokratische Politik gemacht"
Heinemann: Ist das größere Problem der SPD nicht die sozialdemokratische CDU?
Sturm: Ja natürlich, und das zeigt sich ja auch jetzt beim Thema Flüchtlinge und im Umgang mit der Bundeskanzlerin. Die Sozialdemokraten sympathisieren ja grundsätzlich mit der Flüchtlingspolitik von Frau Merkel und auch mit der Attitüde, mit der sie diese Flüchtlingspolitik verbindet. Sie verzichtet darauf, die Kanzlerin frontal zu attackieren. Deswegen geht man gegen die CSU vor und so weiter. Man kann natürlich auf der anderen Seite es auch nicht außer Acht lassen, die Rufe der pragmatischen Kommunalpolitiker zu beachten, die sagen, Vorsicht, Vorsicht, wir müssen doch ein bisschen aufpassen und wir können nicht allzu viele Flüchtlinge mehr in dieses Land lassen. So reden ja auch die Ministerpräsidenten. Da ist die SPD vor einer sehr, sehr schwierigen Aufgabe und ein Sozialdemokrat hat das neulich mal unter der Hand mit der Formulierung verbunden, wir können ja die Kanzlerin nicht rechts überholen.
Heinemann: Genau! Was ist in dem Zusammenhang gefragt? Was ist denn eigentlich heute 2015 der Kern sozialdemokratischer Politik?
Sturm: Ja, das ist so ein bisschen die Frage. Die Große Koalition hat ja sehr sozialdemokratische Politik betrieben in den vergangenen zwei Jahren, seitdem sie im Amt ist - denken Sie an die Rente mit 63, denken Sie an Mindestlohn und noch einige andere Sachen, Mietpreisbremse und so weiter. Ob das aber wirklich der SPD zugeschrieben wird, ob der Mindestlohn nicht nachher doch mit Frau Merkel nach Hause geht, das ist das große Problem. Und ich glaube, den richtig großen Gesellschaftsentwurf hat die SPD doch nicht. Sie muss natürlich auch in der Regierungspolitik pragmatische Politik betreiben und damit hadern die Sozialdemokraten ja bekanntermaßen, die immer gerne strahlende Resolutionsentwürfe verabschieden und mit den Mühen des Alltags eigentlich gar nichts richtig zu tun haben wollen. Und eine gewisse Ermattung, finde ich, ist schon zu spüren und ein Gegenprogramm zur Union, eine richtige Erkennbarkeit ist auch nicht vorhanden.
"Wirtschaftskompetenz ist nach wie vor in den Händen der Union"
Heinemann: Herr Sturm, Bodo Hombach, der frühere Wahlkampf-Manager, schreibt heute in der "Bild"-Zeitung, die SPD dürfe nicht den Fehler machen, besonders links sein zu wollen. Wahlen werden in Deutschland nun mal in der Mitte gewonnen. Welche Versuchungen gehen für die SPD von der Linkspartei oder auch von der AfD aus?
Sturm: Ja! Die hat natürlich das Problem, dass in der Wählerschaft der SPD - denken Sie an das durchaus sozial-konservative Klientel im Ruhrgebiet - Leute sowohl versucht sind, AfD oder Die Linke zu wählen. Da gibt es ja durchaus auch Schnittmengen in der Abwehr von Internationalem, in der Abwehr von Europa und so weiter. Da gibt es strukturelle Probleme. Und gut: Das Hombachsche Mantra von der Mitte ist jetzt nicht ganz neu. Er hat ja schon vor 20 Jahren über die Mitte räsoniert. Und ob er, der gewesene Kanzleramtschef, der ja schon vor 15 Jahren sich verabschiedet hat, nun wirklich der beste Ratgeber ist, ist meines Erachtens auch nicht ganz klar. Er war ja zeitweise auch Tippgeber für Jürgen Rüttgers, weswegen Herr Hombach für viele in der nordrhein-westfälischen SPD, etwa bei Hannelore Kraft, ein rotes Tuch ist. Da scheint mir dieser Hinweis einfach nur auf die Mitte auch ein bisschen zu simpel zu sein. Das hängt vielleicht auch damit ein bisschen zusammen, dass Herr Gabriel sich ja vor zwei Jahren entschieden hat, auf das Bundeswirtschaftsministerium zuzugreifen, um diese Mitte zu erreichen, um die Wirtschaftskompetenz der SPD zu steigern. Glaubt man Umfragen, so liegt die Wirtschaftskompetenz viel mehr nach wie vor in den Händen der Union. Da hat die SPD ein richtig großes Problem und sie steht eigentlich nur für die Kompetenz in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Das ist aber natürlich zu wenig, um über diese 25 Prozent, die Sie vorhin angesprochen haben, hinauszukommen.
Heinemann: Für diese Mitte - Sie haben es gesagt - steht Sigmar Gabriel unübersehbar. Wird der Parteichef geliebt oder gelitten?
Sturm: Er wird, glaube ich, geachtet und niemand möchte seine Aufgabe übernehmen. Deswegen, glaube ich, wird er auch morgen ein ganz ordentliches Ergebnis bekommen. Er hat das letzte Mal 84 Prozent bekommen. Ja, das ist natürlich ein sehr undankbares Amt, insbesondere in Verbindung mit dem Wirtschaftsministerium. Ich halte es auch nicht für ausgeschlossen, dass Gabriel in den nächsten zwei Jahren möglicherweise auch noch das Ministerium abgibt, um sich einer anderen Aufgabe zuzuwenden. Aber den SPD-Vorsitz, den will er natürlich behalten und er muss auch Kanzlerkandidat der SPD werden in meinen Augen. Letztes Mal hat er ja Peer Steinbrück vorgeschoben; jetzt kann er nicht wieder jemand anders vor das Kanonenrohr schieben. Ein SPD-Vorsitzender, der sich das Amt des Kanzlers nicht zutraut, ist in meinen Augen kein richtiger SPD-Vorsitzender, und ich glaube, dass die Menschen das auch erwarten. Dirk-Oliver Heckmann hat ja vorhin das Zitat gebracht, mit dem Sigmar Gabriel seine Kanzlerkandidatur so ein wenig angemeldet hat. Das war ein Konditionalsatz, wenn die SPD und so weiter. Ich glaube, dass das Volk letztlich und auch die Mitgliedschaft der SPD das eigentlich nach dem Modell Schröder haben will. Schröder hat damals gesagt, da war er niedersächsischer Ministerpräsident: "Ich will Kanzler werden." Diesen Machtwillen, den wollen doch die Menschen auch sehen. Wer das wichtigste Amt in der größten Nation Europas anstrebt, muss diesen Machtwillen auch zeigen.
"Twitter ist für handelnde Politiker auch eine große Gefahr"
Heinemann: Ob unsere jüngeren Hörer noch wissen, was Konditionalsätze sind, weiß ich nicht in Zeiten von Twitter. Das Internet ist erfunden worden, die sozialen Medien auch. Parteien müssen kommunizieren. Kann die SPD schon Internet?
Sturm: Ja, da tut sich ein bisschen was, und sie hat da eine Homepage, die sie auch ein bisschen aufgepeppt hat. Da versucht sie, glaube ich, einiges. Sigmar Gabriel hat aber seine Angewohnheit, die er zwischenzeitlich mal hatte, zu twittern, sich doch mehr oder weniger wieder abgewöhnt. Das hing aber auch damit zusammen, dass er zuweilen Dinge getwittert hat, die er dann ein paar Stunden später oder spätestens ein paar Tage später schon wieder bereut hat. Ich bin gespannt, wie er das in seinem nächsten Wahlkampf handhaben wird, ob er dann wieder bei Twitter stärker aktiv ist. Aber Twitter ist natürlich für handelnde Politiker auch eine große Gefahr, insbesondere für jemand, der eine so lose Zunge, oder besser gesagt so lose Finger hat wie Sigmar Gabriel.
Heinemann: Nicht so für handelnde Journalisten wie Daniel Friedrich Sturm, der Hauptstadt-Korrespondent der Tageszeitung "Die Welt" und SPD-Kenner. Danke schön nach Berlin für das Gespräch.
Sturm: Danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.