Christoph Heinemann: Wir wissen nicht, ob Franziskus den Tag, an dem die Kardinäle ihn zum Papst gewählt haben, nicht manchmal insgeheim verflucht. Über Seilschaften im Vatikan wird berichtet, die dem Oberhaupt der Katholischen Kirche das Leben schwermachen. Zufriedene Heiterkeit strahlt der Mann schon lange nicht mehr aus.
Auch das vorgeblich zweitschönste Amt nach dem Pontifex hat so seine Tücken. Die letzte Chefin, die sich am Sonntag mit einem Paukenschlag verabschiedet hat, erlebte in ihrer Amtszeit nicht, dass der SPD-Vorsitz zur seelischen Erbauung beitragen würde. Ganz im Gegenteil!
Malu Dreyer, Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-Gümbel führen die SPD in einer Übergangszeit jetzt, die den Rücktritt der alten und die Wahl der oder des neuen Vorsitzenden überbrücken soll. Dabei gilt: Der Trend ist längst kein Genosse mehr. Auch nicht der Deutschlandtrend. Dort stehen die Grünen auf Platz eins; für die SPD würden gerade zwölf Prozent der Befragten stimmen. Das ist der niedrigste Wert für die Partei, der jemals in einem Deutschlandtrend gemessen wurde. Unterdessen ist die Partei mit der Selbstorganisation beschäftigt.
Am Telefon ist Sebastian Hartmann, der SPD-Vorsitzende von Nordrhein-Westfalen, Wahlkreis Rhein-Sieg-Kreis 1. Guten Morgen!
Sebastian Hartmann: Guten Morgen!
Heinemann: Zwölf Prozent SPD im Deutschlandtrend. Ist das auch die Quittung für die Art, wie Andrea Nahles unter anderem von Ihrer SPD in Nordrhein-Westfalen abgesägt wurde?
Hartmann: Es ist der Beleg, dass Hektik nicht weiterhilft, dass Besonnenheit angesagt gewesen wäre. Bei einem Wahlergebnis von 15,nochwas Prozent bei einer Europawahl, was ein lang laufender Prozess ist, der nicht auf ein oder zwei Jahre zu reduzieren ist, ist Demut, Analyse und echte Aufarbeitung, vor allen Dingen Kursneubestimmung angesagt und nicht hektische Personaldiskussionen. Deswegen habe ich am Wahlabend schon gesagt und vor Personaldiskussionen gewarnt und dass auch eine Verabredung im Parteivorstand am Montag existierte, wir arbeiten das in Ruhe auf. Wenn man dann von Neuwahlen in einer Bundestagsfraktion per TV erfährt, da habe ich dann gesagt: Nein, das wird uns nicht weiterhelfen. Und die aktuelle Situation belegt das, dass dieser Schnellschuss nicht gut war.
Heinemann: Kurz zur Erklärung: Wieso hat die NRW-SPD Andrea Nahles abgesägt?
Hartmann: Die NRW-SPD hat Andrea Nahles nicht abgesägt.
"Das Problem der SPD liegt tiefer"
Heinemann: Hat Frank Capellan gerade anders geschildert.
Hartmann: Ja, gut! Dann ist der Herr falsch informiert. Das ist ja nun nicht mein Problem. Ich verweise darauf, dass am Sonntag der Bundestagswahl wir auseinandergegangen sind, auch schon am Abend, dass wir gesagt haben, wir wollen in dieser Koalition anders arbeiten. Wir haben 20 Monate nach der Bundestagswahl ins Land gehen lassen. Wir haben schwierige Wahlergebnisse in Bayern gehabt und darum haben wir uns in Europa auch nach der Europawahl verständigt, dass wir in Ruhe im Parteivorstand das aufarbeiten, eine zweite Sitzung für den Montag nach dieser desaströsen Europawahl, wo wir auf Platz drei gelandet sind, vereinbart und explizit eine Personaldiskussion ausgeschlossen, weil das ist nicht die Lösung der Krise der SPD. Das Problem der SPD liegt tiefer.
Heinemann: Herr Hartmann, Frank Capellan ist immer sehr gut informiert. Das wollen wir jetzt erst mal so stehen lassen. – Auch in Bremen wurde die SPD abgewählt und will doch mit Grünen und Linken weiterregieren. Womit haben die Wählerinnen und Wähler das verdient?
Hartmann: Die Wählerinnen und Wähler wählen keine Koalitionen, sondern Parteien, die danach selbständig Koalitionen vereinbaren können. Es ist jedem Landesverband überlassen, genauso wie die SPD sich den Eintritt in eine Große Koalition auf Bundesebene wirklich nicht leicht gemacht hat. Wir hatten das ausgeschlossen. Danach hatten sich FDP und Grüne verweigert und nach einem sehr, sehr langen und zähen Prozess mit Balkonbildern und spontanen Neinsagern wie Christian Lindner hat die SPD dann auch diese Position geändert. Das ist in der deutschen Parteiendemokratie ein übliches Verfahren.
"In Bremen ein sehr schwieriges Wahlergebnis eingefahren"
Heinemann: Wahlniederlage als Auftrag zum Weiterregieren?
Hartmann: Die SPD in Bremen hat ein sehr schwieriges Wahlergebnis eingefahren. Unsere Solidarität gehört den Genossinnen und Genossen dort, die auch gekämpft haben, die sich aber auch von bestimmten Trends, die nun europaweit stattfinden, nicht abkoppeln können. Aber sie müssen jetzt erst mal ausloten, was ist die beste Möglichkeit oder die beste Koalitionsoption für Bremen. Da helfen keine Tipps von der Seitenlinie, auch aus Nordrhein-Westfalen nicht. Das muss jeder Landesbezirk anders sehen. Aber wir stellen fest, dass seit einigen Jahren die Republik deutlich bunter geworden ist, was die Koalitionen angeht. Es gibt ja auch Jamaika bis hin zu möglichen Ampelkonstellationen. Das sind alles Variationen, die existieren.
"Die SPD ist die Partei der Arbeit"
Heinemann: Tipps von der Seitenlinie. – Die Landes-SPD in Nordrhein-Westfalen will sich heute mit Vorschlägen für die Zukunft der SPD beschäftigen. Was schwebt Ihnen vor?
Hartmann: Wir haben uns in Nordrhein-Westfalen auf einen Dauerlauf gemacht. Als ich im Juni 2018 Landesvorsitzender wurde, habe ich mehrere Fragen mit meinem Team auch geklärt, und wir haben einen Vorschlag gemacht. Einerseits haben wir gesagt, wir wollen eine Teamlösung mit einer neuen Spitze. Das erste Mal, dass ich Verantwortung auf Landesebene übernommen habe mit einem Wahlamt, war im Juni, aber ich habe das mit einem Team gemacht, mit Köpfen, die für Personen auch erkennbar sind, wer welche Themen besetzt.
Zweitens haben wir gesagt, wir wollen nicht Wischiwaschi, sondern wir wollen einen Kurs rot pur. Die Bestimmung des sozialdemokratischen Markenkerns, wo wollen wir den Wählerinnen und Wählern ein unverwechselbares Angebot machen, wo brechen wir auch mit Fehlannahmen der Vergangenheit und bieten andere Lösungen in einer Zeit, wo wirklich sehr viel im Umbruch ist. Zum Beispiel: Die SPD ist die Partei der Arbeit. Wenn Arbeit aber im Land im Umbruch ist und Arbeit immer der Schlüssel zu einem selbstbestimmten guten Leben war, auch gut bezahlt mit Tarifverträgen gesichert, wenn das weggeht, wenn das umbricht, dann hat die SPD ein Problem, wenn sie da nicht erkennbar wird, weil die SPD ist nicht nur die Partei, die ein Sozialstaatskonzept aufstellt. Sie ist im Kern die Partei der Arbeit und braucht den Sozialstaat als Mittel zum Zweck. Das sind Klärungen, die wir dort ausführen, und das schlagen wir auch auf der Bundesebene vor.
Heinemann: Klingt unglaublich kompliziert. Wen wollen Sie damit überzeugen?
Hartmann: All die Menschen, die arbeiten in dem Land, die Fragen haben, ist das denn noch sicher, wie kann ich Qualifizierung erreichen, die ich nicht selber bezahle, oder wie kann ich dafür sorgen, dass ich nicht meinen Arbeitsplatz wegrationalisiere oder möglicherweise sogar davon profitiere, dass die Digitalisierung oder der Umbruch, der jetzt stattfindet, vielleicht eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich bedeutet.
"Die SPD ist im Umbruch, genau wie die Gesellschaft"
Heinemann: Dieser Satz passt auf kein Wahlplakat.
Hartmann: Will sagen, dass die Partei erst mal miteinander diskutieren muss, und das ist vielleicht auch ein taktisches Moment, dass man nicht sofort an die nächste Wahl denken sollte, weil das ist doch erkennbar abgelehnt worden. Wir müssen Klärungen herbeiführen und die SPD ist im Umbruch, genau wie die Gesellschaft im Umbruch ist. Wenn wir jetzt schon wieder taktische Momente nach vorne ziehen, wird uns das keine einzige Wählerstimme mehr bringen. Deswegen lasst uns streiten um die Sache, vernünftig, aber das muss geklärt werden, und das ist eines der Felder, die offen sind.
"Es ist ein Gebot, auch Asyl zu gewähren"
Heinemann: Sozialdemokraten können Wahlen gewinnen in Dänemark, und zwar mit mehr Sozialpolitik und einem strengen Kurs in der Flüchtlingspolitik. Was kann die SPD davon lernen?
Hartmann: Was ich vorhin aufgeführt habe. Wenn in der Mitte der Gesellschaft, einer solidarischen Gesellschaft Grundgüter wie Boden, Mobilität und Arbeit, auch Familien mit zwei Einkommen sich Wohnen nicht mehr leisten können, dann muss man dafür sorgen, dass ein starker Staat da auch eingreift, indem Wohnungen gebaut werden, in denen Mieterinnen und Mieter geschützt werden, indem Mobilität bezahlbar bleibt, also auch dem Staat eine starke Rolle zuweisen, und das sollte man auch durch gute Steuern und Finanzen finanzieren, was wir in Nordrhein-Westfalen und auch mit der hessischen SPD vorangebracht haben.
Zweiter Punkt ist das, was man auch in der Einwanderung erkennt. Natürlich ist das Gebot Humanität. Da möchte ich den dänischen Sozialdemokraten sagen, dass wir uns in Deutschland auf einen anderen Weg gemacht haben. Es ist ein Gebot, auch Asyl zu gewähren. Aber wir müssen auf der anderen Seite natürlich zum Beispiel durch ein Fachkräfte-Einwanderungsgesetz klären, wie der andere Teil der Migration so gestaltet wird, dass der Mensch, der hier arbeiten möchte, A eine reelle Chance hat und B, dass das auch für die Gesellschaft zum Vorteil wird. Natürlich brauchen wir da auch Ordnung und entsprechende Gesetze, die Klärung herbeiführen. Das ist eine klare Erwartungshaltung.
"Eine Chance für eine Hochphase der Sozialdemokratie"
Heinemann: Herr Hartmann, bei der Europawahl wurde vor allem über ein Projekt abgestimmt: über den Klimaschutz. Weniger über Parteien. Das heißt, hier haben Bürgerinnen und Bürger Themen gesetzt und nicht darauf gewartet, was die Parteien anbieten. Was bedeutet das für die SPD?
Hartmann: Die SPD hat manche Dinge nicht klar genug gemacht, zum Beispiel, dass wir in Nordrhein-Westfalen schon 2014 und 2016 mit Hannelore Kraft gesagt haben, wir steigen aus der Braunkohle aus. Das heißt: kein neuer Tagebau. Das war damals das Datum von 2045. Jetzt sind wir sogar auf Bundesebene bei 2038. Das ist etwas, was nicht mit einer Vollbremsung geht, sondern wir brauchen ja auch bezahlbare Energie, zum Beispiel für die Industrien in unserem Land.
Hier ist aber eine zweite Sache noch wichtig. Das zweitwichtigste Thema bei der Europawahl war die Frage der sozialen Sicherheit, und die SPD muss sehr genau hingucken, was sie daraus ableitet: Einerseits dort auch Kompetenz deutlich machen beim Klimaschutz, zum anderen aber die Wählerinnen- und Wählerwanderung mal betrachten. 1,3 Millionen sind zu den Grünen gegangen, aber zwei Millionen in die Nichtwähler. Das ist eine aktive Wahlenthaltung. Das heißt, wir müssen überlegen, ob nicht diese Wählerinnen und Wähler gerade sagen, ihr müsst klarer machen, wofür ihr steht. Da warten wir auf ein gutes Angebot. Gerade jetzt in der Zeit des Umbruchs ist das doch eigentlich eine Chance für eine Hochphase der Sozialdemokratie und nicht fürs verzagt sein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.