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SPD-Politiker Klaus Hänsch
"Die Grenzen der Erweiterungsfähigkeit der EU sind erreicht"

Klaus Hänsch war in den 90er-Jahren Präsident des Europäischen Parlaments. Geboren 1938 in Schlesien, geprägt durch Krieg und Flucht, aber auch durch spätere Studienaufenthalte in Frankreich, zog der Sozialdemokrat 1979 in das Europaparlament ein. Bis heute glaubt der Diplom-Politologe an das Friedensprojekt Europa - eine EU-Erweiterung lehnt er jedoch ab.

Klaus Hänsch im Gespräch mit Ursula Welter |
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    Der SPD-Politiker und frühere Präsident des Europaparlaments kann auf einen europapolitischen Erfahrungsschatz zurückgreifen, der Jahrzehnte zurückreicht. (Deutschlandradio / Nina Carbonetti)
    Sprecher: Frieden, das sei das Ziel der europäischen Einigung gewesen, das Versprechen, dass dies ohne Krisen ablaufen würde, habe es hingegen nie gegeben, so schrieb Klaus Hänsch im Sommer 2016 in einem Essay für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Der SPD-Politiker und frühere Präsident des Europaparlaments kann auf einen europapolitischen Erfahrungsschatz zurückgreifen, der Jahrzehnte zurückreicht.
    Geboren 1938 in Schlesien, geprägt durch die Kindheitserfahrung von Krieg und Flucht, aber auch durch spätere Studienaufenthalte in Frankreich, zog der Diplom-Politologe 1979 in das Europaparlament ein. Klaus Hänsch begleitete den Weg des EP vom reinen Beratungs- und Kontrollgremium hin zum Parlament mit mehr Kompetenzen und mehr Einfluss. 1994 bis 1997 war er Präsident dieses Parlaments.
    Und auch an dem Versuch, die europäische Integration durch eine Verfassung weiter zu befördern, wirkte Hänsch mit. Das Scheitern des Vertrags am Veto der Franzosen und Niederländer – ein Rückschlag zwar, aber für den überzeugten Europäer kein Grund zur Resignation. Bis 2009 war er Mitglied des EU-Parlaments und ist bis heute ein gefragter Gesprächspartner in Europafragen, der an das Friedensprojekt Europa glaubt.
    Es war immer dasselbe: Nie wieder! Nie wieder Krieg, nie wieder Flucht, nie wieder wegziehen müssen. Und das hat schon geprägt.
    Mit dem Handwagen nach Flensburg
    Ursula Welter: Klaus Hänsch, herzlich willkommen! Ein Europäer im Studio des Deutschlandfunk, das kann man sagen. Wir werden über Sie reden und über die Wechselfälle in diesem Europa, das sich beides verbindet – also Ihre Biografie und diese Geschichte Europas. Das können wir schon am Jahr 1945 sehen, das war das Jahr, in dem Sie und Ihre Familie Schlesien verlassen mussten.
    Hänsch: Ja, ich war gerade sechs Jahre alt geworden, und die russischen oder damals der Russe, wie es hieß, näherte sich der Stadt, und da haben meine Großeltern, jedenfalls mütterlicherseits, und meine Mutter beschlossen, die Stadt zu verlassen kurz bevor die Rote Armee einrückte. Mit Handwagen zuerst und zu Fuß, dann mit Güterzug und anderen Zügen, das ging alles, ohne dass ich so genaue Erinnerungen habe.
    Ich weiß nur, dass es Stückchen für Stückchen, wie ich heute weiß, Richtung Westen ging, an Dresden vorbei – das war im Nachhinein gesehen sehr wichtig, wir waren vielleicht zwei Tage, bevor der große Angriff auf Dresden geführt wurde, gerade noch an der Stadt vorbei gekommen, weil es hieß, die ist sowieso überfüllt von Flüchtlingen – und dann Leipzig, Halle, also der ganze langsame Weg mit manchmal wöchentlichen oder 14-tägigen Unterbrechungen in irgendwelchen Notunterkünften – Turnhallen und Einquartierungen – bis rauf nach Flensburg, wo ein Onkel von mir, ein Bruder meiner Mutter, bei der Marine stationiert war.
    "Das Erlebnis des Zusammenbruchs, das Gehen und Fahren durch Städte, die Ruinen geworden waren"
    Welter: Über das Ankommen in Flensburg sprechen wir gleich. Sie sind aufgebrochen in einer Februarnacht, und Sie haben in Ihren Memoiren geschrieben, also in dem Buch "Kontinent der Hoffnungen", das im Dietz-Verlag erschienen ist, dass Europa in Bewegung war. Kann man sagen, Klaus Hänsch, dass Flucht und Vertreibung Ihr Leben und dann auch Ihr politisches Wirken geprägt haben?
    Hänsch: Ja, natürlich, das vergisst man nicht, auch wenn man es als Kind erlebt hat. Je älter man wird, desto mehr fragt man sich und hab ich mich gefragt: Wie ist das eigentlich gekommen, warum mussten wir damals 1945 aus Schlesien fliehen? Was haben wir getan eigentlich, dass das so gekommen ist, wie ich es erlebt habe? Und dazu kommt dann auch noch das Erlebnis des Zusammenbruchs, also das Gehen und Fahren durch Städte, die Ruinen geworden waren.

    All das hat dazu geführt, dass man irgendwann, ohne dass ich den Moment, den Tag oder das Jahr genau beziffern könnte, zu sagen, das möchte ich eigentlich nicht wieder erleben. Und bei allen Gesprächen, auch mit meiner Mutter vor allen Dingen in diesen Fragen, weil mein Vater war Soldat und noch im Krieg, es war immer dasselbe: Nie wieder! Nie wieder so was, nie wieder Krieg, nie wieder Flucht, nie wieder wegziehen müssen. Und das hat schon geprägt.
    Teilansicht des polnischen Szprotawa, früher Sprottau, in Schlesien in den 1930er-Jahren. AUFNAHMEDATUM GESCHÄTZT
    Teilansicht des polnischen Szprotawa, früher Sprottau, in Schlesien. (imago stock&people)
    Das hat nicht – damals jedenfalls nicht – dazu geführt, dass ich mich als Europäer fühlte. Ich bin deutsch sozialisiert worden, und das Schlimme, was ich auch empfunden habe damals als Heranwachsender, dass es mein Land war, mein Land, das all das selbst, hauptsächlich jedenfalls, selbst verschuldet hatte. Das hat mich umgetrieben damals und bis in meine europäische Arbeit hinein.
    "Das Umfeld selbst war nicht willkommensbereit"
    Welter: Wir wollen über das Ankommen auch sprechen. Sie haben gesagt, Sie sind dann in Flensburg angekommen, in Schleswig-Holstein. Wie war das, gab es eine Willkommenskultur, würden wir heute so formulieren, also fügten sich für Sie die Dinge – Schule, Abitur, all das?
    Hänsch: Nein, also eine Willkommenskultur in der Form, wie sie heute im Gespräch ist, gab es nicht. Es gab allerdings, und das gilt für meine kleine Familie da – meine Mutter und meine beiden Geschwister –, es gab Einzelne, die geholfen haben und helfen wollten. Wir hatten ja nichts weiter als das, was man auf einem kleinen Handwagen herumschleppen kann, als wir ankamen in Flensburg, und wir haben es gut getroffen.
    Aber natürlich das Umfeld selbst war nicht willkommensbereit. Die Flüchtlinge, die so als eine Art Polacken beschrieben wurden, die wurden schon ausgegrenzt. Ich kann mich erinnern, wir sprachen natürlich kein Platt, kein Plattdeutsch aus Schlesien kommend, und die Flensburger und die Umgebung von Flensburg, die war sehr Plattdeutsch geprägt. Und wenn man nichts verstehen sollte, dann sprachen die eben untereinander Platt.
    Auch in den ersten zwei, drei Jahren in der Schule gab es einen deutlichen Unterschied zwischen den einheimischen Mitschülern und den Flüchtlingen. Das hat sich dann immer mehr, wie soll ich sagen, verwachsen. Das ist immer weniger geworden, beim Abitur hab ich so was nicht mehr gemerkt. Ich kann nur sagen, die eigentliche Integration findet dann statt, indem Mädchen und Jungen zueinander finden und sich über die Herkunft überhaupt keine Gedanken mehr machen, ob Flüchtling oder nicht. Das war bei mir so, auf diese Weise bin ich dann schließlich in Flensburg integriert worden.
    Bewegender Besuch im Heimatdorf
    Welter: Und so blickt man dann nach vorne. Sie haben im Laufe Ihres Lebens dann – und ich stell mir das sehr bewegend vor – das Glück gehabt, als Präsident des Europäischen Parlaments zurückzukommen in Ihr Heimatdorf, aus dem Sie da damals mit dem Leiterwagen losgezogen sind. Wie war das, zurückzukommen?
    Hänsch: Das war sehr bewegend, und zwar, weil es diesen unglaublichen, in meiner Sicht jedenfalls, unglaublichen Unterschied gab: Wie man weggegangen war, flüchtend, in der Nacht, mit Geräuschen von der nahenden Front im Ohr, und jetzt kam man – allerdings auch mit einem Militärhubschrauber – zurück.

    Ich hatte einen offiziellen Besuch in Warschau, und die haben dann dafür gesorgt, dass ich meine Geburtsstadt noch mal besuchen konnte oder wieder besuchen konnte, und die Ankunft und die ersten flüchtigen Erinnerungen, die ich hatte, dann auch in der Realität zu sehen. Von außen war die Stadt kaum zerstört, dann der Einzug, so richtig mit Protokoll, Polizei vorweg und so weiter, und dann wirklich Spalier am Straßenrand bei dem Einzug vom Flughafen und eine große Menschenmenge – ich meine, das muss die halbe Bevölkerung gewesen sein dieser Kleinstadt. Als ich dann vor dem Rathaus angelangt war und auf den Marktplatz zurückguckte, das war schon bewegend, also ein richtiger Empfang, wie man ihn sich wünschen würde.
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    Klaus Hänsch, ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments, im Deutschlandradio Interview. (Deutschlandradio / Nina Carbonetti)
    Welter: Wir haben den Namen der kleinen Stadt noch gar nicht genannt.
    Hänsch: Die hieß Sprottau und heißt heute Szprotawa.
    Welter: Und Ihr Elternhaus stand noch?
    Hänsch: Ja, also das Haus, in dem meine Mutter mit mir und meinen Geschwistern gewohnt hat, stand noch, alle anderen Häuser, in denen Verwandte gewohnt haben in der Stadt, waren alle weg.
    Mein Vater war Werftarbeiter, meine Mutter Verkäuferin, kleinste Verhältnisse, da gab's nichts anderes für mich als Sozialdemokratie.
    Politische Sozialisation eines Lesesüchtigen
    Welter: Sie haben als junger Mensch viel gelesen, hab ich in Ihren Memoiren gelesen, Sie haben Radio gehört – war das der Weg in das Leben des dann politisch denkenden Klaus Hänsch, dieser Konsum, würden wir heute sagen, von Medien und politischen Nachrichten.
    Ich will noch hinzufügen, was ich interessant fand: Sie haben gesagt, dass Ihre Faszination als Jugendlicher in den 50er-Jahren keineswegs den großen europäischen Themen gegolten hat, das heißt, der spätere Europaparlamentspräsident hat sich da noch nicht interessiert für, sagen wir, Montanunion, Schumann-Plan, römische Verträge, denn das waren ja die Jahre des europäischen Aufbaus, aber das hat Sie noch nicht interessiert?
    Hänsch: Das hat mich nicht interessiert. Ich weiß nicht, woran das gelegen hat, vielleicht daran, dass es in der Schule keine Rolle spielt. Ich habe sehr viel aus der Schule aufgenommen, es hat mich fast alles interessiert, was dort geboten wurde, und darüber hinaus habe ich eigentlich nicht sehr viel weiter geblickt. Ich war lesesüchtig, bei der Herkunft meiner Familie ist das schon, wie soll ich sagen, moniert worden, der Junge liest zu viel, aber ich ließ mich faszinieren durch Geschriebenes.

    Und dann hab ich nächtens ein, zwei, drei dieser großen Debatten im Deutschen Bundestag verfolgt, also Ollenhauer, Dehler, Heinemann, natürlich Adenauer, das versteht sich von selbst – das waren damals die Großen, denen ich zugehört habe. Und daran kann ich mich genau erinnern: Jedes Mal, wenn ich einen von denen hörte, fand ich es genau richtig, was der sagte, und dann war der andere dran, und dann fand ich, der hat auch recht. Also ich war noch nicht so richtig orientiert.
    Vereidigung Konrad Adenauers zum ersten Bundeskanzler am 20.9.1949: Seine Wahl wurde mit einer Stimme entschieden.
    Vereidigung Konrad Adenauers zum ersten Bundeskanzler am 20.9.1949: Seine Wahl wurde mit einer Stimme entschieden. (dpa/picture alliance)
    "Das ist die Partei, die Gerechtigkeit für die kleinen Leute will"
    Welter: Also Bundestagsdebatten hören im Radio bis tief in die Nacht, und dann haben Sie sich für die Sozialdemokratie entschieden. Warum?
    Hänsch: Na ja, das war dann doch schon deutlich später, da studierte ich schon in Berlin, aber das politische Grundinteresse, das ich eigentlich mein ganzes bewusstes Leben gehabt habe, und dann der familiäre Hintergrund, da gab es eigentlich nichts anderes, als Sozialdemokrat zu werden. Mein Vater war Werftarbeiter in Flensburg, meine Mutter Verkäuferin, kleinste Verhältnisse, da gab's nichts anderes für mich als Sozialdemokratie. Also nicht so sehr aus einzelnen politischen Gründen, auch nicht durch Personen, sondern einfach aus dem Gefühl, das ist die Partei, die Gerechtigkeit für die kleinen Leute will.
    Welter: Also Gefühl und Milieu. Schreiten wir kurz die Etappen ab, die Sie dann vom Abiturienten hin zum Politiker, Berufspolitiker gegangen sind: Sie haben Politologie, Geschichte und Soziologie studiert, in Köln zunächst, sind dann nach Paris gegangen – Flensburg, Köln, Paris, und dann Berlin, Otto-Suhr-Institut, dort auch die Promotion 1969.
    Das Otto-Suhr-Institut, davor die Sciences Po in Paris, also die Kaderschmiede der französischen Elite, die Sorbonne – all das sind Etappen. Zitiere ich Sie richtig, wenn ich sage, was Sie mal formuliert haben, Frankreich ließ mich nicht mehr los – ist das eine wichtige Etappe auf diesem Weg gewesen?
    Hänsch: Ganz sicher ein wichtiger Teil meiner politischen Sozialisation ist Frankreich, ist Paris, also der erste Aufenthalt dort. Erstens war ich furchtbar fasziniert, nicht furchtbar, sondern wunderbar fasziniert.
    "Das Selbstbewusstsein der Nation Frankreich hat mich fasziniert"
    Welter: Von der Stadt, von den Menschen, vom Studium?
    Hänsch: Von der Stadt, von den Sichtachsen und Palästen, die es gab, und dass sich die Republik, die Politik eingerichtet hatte in diesen schönen Häusern des Adels und der Monarchie. Ich war fasziniert von dem General de Gaulle als französischem Staatspräsidenten, von seiner Außen- und Entkolonialisierungspolitik, das war alles faszinierend, und dass dieses Land Staat war.
    Das war etwas, was ich aus der Bundesrepublik und meinem damaligen Werdegang nicht kannte. Das blieb ja in Deutschland alles möglichst klein, möglichst zurückhaltend, man zeigte nicht Staat, und in Frankreich war das alles ganz anders.
    Welter: Also dieses Selbstbewusstsein der Nation?
    Hänsch: Ja, das Selbstbewusstsein der Nation, das hat mich fasziniert. Der andere Punkt, auf den Sie kommen wollen, ist, wie ging es mit dem Studium weiter. Ich hab da einfach angefangen, "Cours de Civilisation Française" hieß das, das war an der Sorbonne, und das war so französische Kultur – auch Politik, fünfte Republik. Da hatte ich als Lehrer den Maurice Duverger, und dessen Art, Politik zu erläutern und verständlich zu machen, das hat mich fasziniert.
    Und da kam ich zu dem Schluss, das möchtest du eigentlich auch können, was er kann. Dann hab ich gesucht, gefunden, Politologie in Berlin, Otto-Suhr-Institut, und damit war die Sache entschieden. Und dann ging's schnell. Der Maurice Duverger, der ist dann später, viel später mein Kollege im Europäischen Parlament geworden.

    Welter: Sie saßen dann zusammen in Straßburg und Brüssel.
    22. Januar 1963: Frankreichs Präsident Charles de Gaulle (r.) und Bundeskanzler Konrad Adenauer nach der Unterzeichnung im Élysée-Palast.
    22. Januar 1963: Frankreichs Präsident Charles de Gaulle (r.) und Bundeskanzler Konrad Adenauer nach der Unterzeichnung im Élysée-Palast. (AFP)
    Hänsch: Da saßen wir zusammen im gleichen Europäischen Parlament, in der gleichen Fraktion.
    Brückenbauer als Redaktionsleiter von "Dokumente/Documents"
    Welter: Et voilà, würde der Franzose sagen. Sie haben auch für "Dokumente/Documents", also die Zeitschrift von Jean du Rivau, dieses zweisprachige Blatt geschrieben, das heißt, Sie haben deutschen Lesern französische Vorkommnisse erklärt, das heißt, publizistisch auch ein bisschen versucht, da schon als junger Student Brückenbauer zu sein.
    Hänsch: Ja. Ich habe zunächst mal während meines zweiten Paris-Aufenthalts an Sciences Po eine politische Landeskunde geschrieben, die für heutige Begriffe, meine jedenfalls, unglaublich hohe Auflagen gehabt hat, weil sie nützlich war. Und es gab nichts Ähnliches in der Zeit, einfach die politische Situation in Frankreich zu beschreiben und nicht die aktuelle, sondern wie ist was geworden und worauf muss man bei Frankreich achten, wenn man über französische Politik redet.
    Das war das eine, und das Zweite war, ich war dann für eine Übergangsphase – so war es auch vorgesehen – der Redaktionsleiter von "Dokumente", dieser deutsch-französischen Vierteljahresschrift. Dort habe ich selber eigentlich nicht sehr viel geschrieben, aber ich hab dafür gesorgt, dass der Mai 1968, also die französische Revolte, Studentenrevolte und darüber hinaus, deutschen Lesern gezeigt wurde, wer hat sich beteiligt, was haben wir gedacht und so weiter und so weiter, und das hat den größten Teil der Hefte, die ich betreut habe, dann ausgemacht – unter leicht spöttischen Blicken der übrigen Freunde in dem Bereich.
    Welter: Das klingt ein bisschen banal und trotzdem banal, weil man glaubt, die Antwort zu kennen, dennoch ist es eine wichtige Frage: Verständnis für Frankreich, Zusammenarbeit mit Frankreich, das haben Sie stets als Politiker später dann auch als wichtig, als zentral empfunden?
    Hänsch: Ja, ganz sicher, weil mir damals eigentlich schon, aber in der praktischen Arbeit im Europäischen Parlament später noch sehr viel mehr [klar wurde, dass]* ohne Frankreich und Deutschland und deutsch-französische Zusammenarbeit nichts wird in Europa, nichts. Deutschland und Frankreich können nicht alles durchsetzen, sie können nicht vorschreiben, aber sicher ist, dass wenn Deutschland und Frankreich gegeneinanderstehen, Europa nicht weiterkommt. Das war so und das ist immer noch so.
    Der Ansatz war, wenn Sie so wollen, ein nationaler. Ich wollte für Deutschland in Europa was machen.
    Der Weg nach Europa
    Welter: Dieses Deutsch-Französische hat dann auch den Weg in die Europapolitik gebahnt. Ihre erste Etappe hatten Sie dann dem deutsch-französischen Vertrag zu verdanken.
    Hänsch: Ja, schon. Meine erste berufliche Etappe nach dem Studium war die Düsseldorfer Staatskanzlei, genauer gesagt der Ministerpräsident, der damalige Ministerpräsident Heinz Kühn, der für zwei Jahre der Beauftragte der Bundesrepublik Deutschland für die kulturellen Angelegenheiten im deutsch-französischen Vertrag war, also kulturelle Angelegenheiten, weil das ja Ländersache ist, und dann musste es auch ein Länderministerpräsident sein und nicht etwa ein Außenminister oder so. Der suchte jemanden, und da ich nun französische Vorerfahrungen hatte, eben auch was geschrieben habe, auf diese Weise bin ich von Berlin nach Düsseldorf gekommen.
    Welter: Und das waren dann die ersten beruflichen Schritte des Klaus Hänsch. Es ging dann zu Johannes Rau, damals Minister, in die Pressearbeit.

    Hänsch: Ja, die Aufgabe bei Heinz Kühn lief aus, das war der normale Schritt, also für zwei Jahre, und dann war der aufstrebende Landespolitiker Johannes Rau, der Minister wurde, Minister für Wissenschaft und Forschung, und der suchte einen Pressereferenten. Und da nun ich gerade frei wurde bei Heinz Kühn, wurde ich gewechselt zu Johannes Rau.
    Klaus Hänsch war von 1994 bis 1997 Präsident des Europäischen Parlaments.
    Klaus Hänsch war bis 2009 Mitglied des EU-Parlaments und ist bis heute ein gefragter Gesprächspartner in Europafragen. (Deutschlandradio / Nina Carbonetti)
    Das war eine sehr interessante, auch politisch für mich wichtige Zeit – nicht so sehr durch irgendwelche Förderung, sondern durch die Art, wie Johannes Rau Politik anging, während ich von Berlin und von der Politologie herkommend so ein bisschen verkopft war, was Politik anlangt. Theorie war ich gut, Analyse war ich auch gut, aber wie man sich verhält und was man macht, wie man sich einsetzt, wie man mit Menschen spricht, wenn man etwas Politisches erklären will, da hat Johannes Rau mir doch sehr viel beigebracht – nicht indem er das gesagt hätte, so oder so müssen Sie das machen, sondern einfach weil ich abgeguckt habe.
    Welter: Er hat es vorgelebt, wie man auf die Menschen zugeht?
    Hänsch: Ja.
    Welter: Es gab ein paar vergebliche Versuche, in den Bundestag und in den Landtag gewählt zu werden.
    Hänsch: Ja, das ist sozusagen das normale politische Leben. Ich war irgendwann mal dann der Meinung, jetzt müsste es ein Mandat werden, ohne besonders festgelegt zu sein, und dann ist es tatsächlich so, dass die Nominierung zum Bundestagskandidaten ganz knapp scheiterte, also in der Partei, und dann bei einer Landtagswahl, in der ich kandidiert habe, einfach der Wahlkreis nicht zu gewinnen war.
    "Ich wollte für Deutschland in Europa was machen"
    Welter: So ist das manchmal. Und dann kam die große Stunde sozusagen, als das Europäische Parlament direkt gewählt wurde, 1979, das war der Moment für Sie?
    Hänsch: Ja, das war der Moment, wo ich erstens dachte, jetzt greifst du zu, wenn es irgendwie geht, und nicht einfach nur als Ersatz. Das hab ich mich manchmal gefragt, ist das denn nur ein Ersatz für dich. Und da bin ich jedes Mal, wenn ich mich selber befragt habe, zu dem Ergebnis gekommen, nein, nein, wenn du dein politisches Interesse, dein Grundinteresse in den vergangenen Jahren von Jugend an noch einmal rekapitulierst, dann hattest du immer eine Affinität zu internationalen Fragen – zur Frage, wie steht Deutschland in Europa, wie stellt es sich in Europa dar, was macht es in Europa. Der Ansatz war, wenn Sie so wollen, ein nationaler. Ich wollte für Deutschland in Europa was machen.
    Welter: Und um da hinzukommen, mussten Sie sozusagen erst einmal die Basisarbeit im Wahlkreis leisten. Ihr Wahlkreis war groß, wo genau haben Sie Wahlkampf gemacht?
    Hänsch: Na ja, das ging vom Niederrhein, also von Kleve im Norden bis Wuppertal, Remscheid, Solingen im Süden mit dem Kreis Mettmann, der meine engere politische Heimat war, fast in der Mitte, aber auch dazugehörend Städte wie Oberhausen und Duisburg vor allen Dingen. Ich hatte in meinem Wahlkreis die Hälfte der deutschen Stahlindustrie, immer noch Kohle, ein europaweites Zentrum der Chemieindustrie. Es war schon und ist eigentlich immer noch eine faszinierende Region von hoher Wichtigkeit für Europa.

    Welter: Sie haben formuliert, Europa beginnt vor Ort, das ist zweifellos so. Ich hab gestaunt, oder auch nicht, weil das vielleicht sich auch gut schildern lässt, dass Sie mit dem Thema Europa dann in diesen Wahlkämpfen – und Sie sind sechsmal angetreten in Ihrem beruflichen Leben –, dass Sie nicht immer so recht durchgedrungen sind zu den Menschen.
    Fahnen vor dem Europaparlament in Straßburg
    1994 bis 1997 war Klaus Hänsch Präsident des Europäischen Parlaments, bis 2009 war er noch Mitglied. (Deutschlandfunk / Andreas Diel)
    Hänsch: Nein, also das stimmt, und man kann sie nicht nur mit Europa erreichen, sondern man muss dann schon ein bisschen zeigen, wie man als Person ist. Da hat mir, wenn ich so sagen darf, meine eigene Herkunft aus meinem, ja, sagen wir ruhig, proletarischen Elternhaus geholfen, weil ich bestimmte diplomatische Floskeln oder solche Dinge nicht jedes Mal gebrauchen muss, sondern ich weiß manchmal sehr genau, was ich in einer bestimmten Situation vor einfachen Leuten sagen muss und was ich auch besser lasse. Das hat mir häufig geholfen.
    Ich war zum Beispiel, das werde ich nie vergessen, der einzige Politiker außer dem Oberbürgermeister von Duisburg, der bei dem großen Streik bei Krupp-Rheinhausen vor der Belegschaft oder vor Teilen der Belegschaft sprechen durfte. Andere haben sie überhaupt nicht gelassen, weder Bundestag noch Landtag. Das war für mich fast wie eine Auszeichnung.
    Welter: Als das Ruhrgebiet brannte.
    Hänsch: Ja. Und dieser Versuch und auch die Möglichkeit, diese Menschen anzusprechen, ohne ihnen gleich nach dem Munde zu reden, das merken die sehr schnell.
    "Europa ist Frieden? Ich sag: Ja!"
    Welter: Aber Durchdringen mit europäischen Themen, das ist ja das, was Ihre Kollegen heute auch schildern, es ist schwer.
    Hänsch: Das ist schwer. Es war aber vielleicht nicht ganz so schwer für mich wie heute für die Kolleginnen und Kollegen, weil es – auch bei denen, die mit Europa nicht sehr viel am Hut hatten – noch eine Grundstimmung gab, dass dieses Europa doch für Frieden und für Wohlstand eine wichtige Sache sei. Sie hatten nicht viel damit am Hut und haben sich auch nicht besonders um Einzelheiten gekümmert und nicht dafür interessiert.
    Ich erinnere mich an ein Nebengespräch bei irgendeinem Parteitag in Oberhausen, wo mir jemand sagte, ach du, geh mich mit dein Europa, dat kost bloß unser Geld. Und da sage ich, da ist es aber besser angelegt, als wenn wir es für einen neuen Soldatenfriedhof ausgeben müssen. Da sagt er: Europa ist Frieden? Ich sag: Ja! Ist gut Klaus, du machst das schon. Das beschreibt so ein bisschen die Art, wie die mit mir und ich mit denen kommuniziert habe.
    Welter: Du machst das schon, Klaus Hänsch. Wollten Sie heute in der Haut der Europapolitiker stecken, die Wahlkampf machen müssen und die an allen Ecken und Enden mit Populisten, mit Europagegnern, -skeptikern zu tun haben?
    Hänsch: Also wenn ich nicht zu alt dafür wäre, dann würde ich keine Sorge haben und mich durchaus in dieser Haut wohlfühlen. Wenn man das gemacht hat, wenn man meint, dass diese Europäische Union für Deutschland wichtig ist, dann scheut man sich nicht vor Schwierigkeiten.
    Wie machen wir aus diesem Parlament ein Parlament, das etwas zu sagen hat?
    Bauarbeiten im europäischen Gebälk
    Welter: 1979 ins Europaparlament gewählt, bis 2009 waren Sie Abgeordneter im Europäischen Parlament, 30 Jahre. Als Sie anfingen, gab es den Binnenmarkt noch nicht, es gab den Euro noch nicht, die Mauer zwischen Ost und West stand noch. Als Sie aufhörten 2009, steckte Europa schon in einer der schwersten Krisen, die Finanzkrise tobte, und das Ende sehen wir noch nicht. Womit befasste sich denn ein Europaabgeordneter 1979, wissen Sie noch, was die ersten Themen waren?
    Hänsch: Mein erstes Thema war ein Bericht über die Lage in der Tschechoslowakei. Das hing zusammen mit der Helsinki-Vereinbarung und mit der Situation der Opposition um Václav Havel, und da wollte das Europäische Parlament, das ja damals noch kein Gesetzgebungsparlament war, eine Diskussion über die Situation in diesem Land führen, und die hatte ich vorzubereiten. Das war das erste.
    Und dann war es immer zunächst einmal das Hauptthema, jedenfalls für mich: Wie machen wir aus diesem Parlament, das außer ein paar kleineren und außer dem Haushalt keine Befugnisse hatte, ein Parlament, das etwas zu sagen hat? Da gab es zwei Strömungen – die einen wollten gleich einen neuen Vertrag und jetzt machen wir daraus ein Parlament, wie wir uns das vorstellen, und es gab die andere Strömung, das war ich, der sagte, das kriegen wir nur hin, was wir gemeinsam wollen, wenn wir Schritt für Schritt vorgehen, das heißt, nicht die Chefs, die ja die Verträge ändern müssen, verschrecken, sondern die Kompetenzen, die wir haben, nutzen bis in die letzte Nische. Am Ende hat sich das durchgesetzt, und der Erfolg hat mir recht gegeben.
    "Zu versuchen, aus dem Europäischen Parlament so eine Art Kopie der nationalstaatlichen zu machen, muss scheitern und ist auch falsch"
    Welter: Sie waren 1994 bis 1997 Präsident des Europäischen Parlaments. Sie haben damals in Ihrer Eingangsrede oder für Ihre erste Rede als Parlamentspräsident stehenden Applaus geerntet, und es hat anschließend geheißen, das sei eine Art Kriegserklärung an Kommission und Rat gewesen, das heißt, Sie waren kämpferisch. Das bringt mich zu der Frage: Dieses Institutionengefüge, das viele Europäer heute als Demokratiedefizit wahrnehmen, das hatten Sie damals sozusagen schon auf dem Plan, aber was waren Ihre Antworten?
    Hänsch: Das Erste und Wichtigste ist, dieses Gerede vom demokratischen Defizit wegzukriegen, weil es einfach nicht stimmt. Wir haben es mit einer Union der Staaten und der Bürger oder man kann auch sagen der Bürger und der Staaten zu tun, und das heißt, wenn die Europäische Union kein Staat ist und auch keiner werden wird, dann muss das, was demokratische Substanz ist und was demokratische Werte sind, sich anders ausdrücken, institutionell darstellen, als das im Nationalstaat der Fall ist. Das heißt, zu versuchen, aus dem Europäischen Parlament – nur als Beispiel – so eine Art Kopie der Nationalstaatlichen zu machen, der nationalstaatlichen Parlamente, muss scheitern und ist auch falsch.

    Im Übrigen, das vergisst man ja auch: Die Leute, die vom demokratischen Defizit reden und dann auch bestimmte Dinge meinen, die nicht da sind im Europäischen Parlament, die orientieren sich alle an ihrem nationalen Parlament, bloß die sind auch nicht gleich. Der schwedische Reichstag funktioniert eben anders als die italienische Abgeordnetenkammer und so weiter und so weiter, vom britischen Parlament will ich dabei gar nicht reden.
    Zu Sehen ist Vaclav Havel nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten der Tschechoslowakei am 29. Dezember 1989.
    Am 15. Oktober 1989 erhielt Vaclav Havel in Abwesenheit den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, am 29. Dezember 1989 wurde er zum Regierungspräsidenten der Tschechoslowakei gewählt. (picture alliance / dpa)
    Wir haben den Bundestag im Blick und glauben, Europa müsste so funktionieren, das Europäische Parlament, wie der Bundestag. Das ist aber Unsinn. Warum eigentlich? Es gibt andere demokratische Parlamentserfahrungen in diesen Raum Europa, die mit gleichem Recht demokratisch genannt werden können. Das war das Erste. Und das Zweite war natürlich, dass wir darauf drängen mussten, dass die Reformverträge, die sozusagen am Horizont standen, alle immer auch einen bedeutenden Fortschritt der formalen Rechte für das Europäische Parlament mit sich bringen würden und müssten.
    Welter: Da haben Sie zum Beispiel dafür gesorgt, dass die Kommissare in die Anhörung mussten, das heißt, da gab es ein Recht, und Sie haben daraus einen Machtfaktor gemacht.
    Hänsch: Das ist eben nicht im Vertrag, sondern das war so etwas, wo man sagte, hier gibt's eine Lücke, in die keiner richtig rein kann, das mache ich. Also die EU-Kommissare, die werden designiert von den Mitgliedsstaaten, und dann stimmt das Europäische Parlament pauschal über die ab – so war die damalige Regelung. Und da hab ich gesagt, das kann ja wohl nicht sein, wir kennen sie doch eigentlich gar nicht. Da machen wir Anhörungen ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, die Anhörungen im Senat.
    Das fanden einige der Regierungen außerordentlich nicht nur frech, sondern geradezu despektierlich und jedenfalls für die Europäische Union, fürs Europäische Parlament nicht geeignet – Kollegialität der Kommission geht verloren und was da so alles an Argumenten kam. Am Ende hat das Parlament das einfach gemacht. Und nachdem es das einmal gemacht hatte und dabei ein bisschen aufgepasst hat, dass da nicht gleich beim ersten Mal über die Stränge geschlagen wird, da hat es sich etabliert, von selbst. Und so gibt es eine ganze Reihe von Dingen, die das Parlament in der Praxis angefangen hat, die dann in den Vertragsänderungen im Laufe der Zeit übernommen wurden und sozusagen juristisch festgeklopft wurden.
    "Es muss mehr Gründe für die sinkende Wahlbeteiligung geben als das Europäische Parlament selbst"
    Welter: Das ist vielleicht ein gutes Beispiel: Wie erklären Sie, Klaus Hänsch, dass, obwohl das Parlament diese Fortschritte erzielt hat, obwohl die Direktwahl sich etabliert hat, das Interesse dann doch immer stärker abgenommen hat, auch die Beteiligung bei den Europawahlen abgenommen hat und wir heute erleben, dass die Ablehnung so groß ist?
    Hänsch: Wenn ich das wüsste, dann wüsste ich auch ein Mittel dagegen, aber ich weiß es nicht, woran das wirklich nicht. Ich weiß nur, dass die Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament – da haben Sie völlig recht – sozusagen von Wahl zu Wahl gesunken ist. Ich weiß aber auch, dass Wahlen zu regionalen Parlamenten, auch in deutschen Bundesländern, oder zu Kommunalwahlen in der Prozentzahl noch weiter unter dem liegen, was ins Europäische Parlament gewählt wird. Es muss für die sinkenden Wahlbeteiligungen mehr Gründe geben und andere Gründe geben als nur das Europäische Parlament und dessen Bild in der Öffentlichkeit selbst.
    "Zu viel Transparenz verschreckt die Bürger eher"
    Welter: Es hat ja den Versuch eines ganz großen Wurfs gegeben, Sie haben auch im Verfassungskonvent gesessen, das war damals mit vielen Hoffnungen auch verbunden. Am Ende stand für das, was ausgearbeitet wurde, das Nein der Franzosen und der Niederländer. Hat Sie das enttäuscht, vielleicht sogar traurig gemacht?
    Hänsch: Aber natürlich. Ich hab ja im Präsidium des Konvents an führender Stelle mitgearbeitet, und wir waren und sind immer noch – hab vor ein paar Wochen mit Giscard d'Estaing noch mal drüber geredet – überzeugt, dass das der angemessene und richtige Entwurf war. Also die Enttäuschung bei mir und anderen war groß.
    Auf der anderen Seite aber ist es schon so, dass von diesem Verfassungsvertrag so viel in den heute geltenden Vertrag von Lissabon übernommen worden ist, eigentlich die Substanz ist übernommen worden, sodass die Traurigkeit nicht zu groß werden muss. Im Gegensatz zu dem Ruf nach Transparenz hat mich der Vorgang gelehrt, dass zu viel Transparenz die Bürger eher verschreckt.

    Welter: Ein kompliziertes Vertragswerk für den einzelnen Bürger, zweifellos, aber Europa ist kompliziert. Aber wir haben jetzt gerade Frankreich, die Niederlande erwähnt, das Nein damals, wir haben dann im Juni dieses Jahres die Entscheidung der britischen Bevölkerung erlebt, auszutreten – hätten Sie das je gedacht?
    Hänsch: Nein. Obwohl ich sagen kann, diesen berühmten Artikel 50 im Lissabon-Vertrag, der ja auch übrigens aus dem Verfassungsvertrag übernommen worden ist in der Substanz, der wäre ohne mich nicht in den Vertrag gekommen. Das war in der Diskussion, und die Mehrheit im Präsidium wollte den nicht, und auch eigentlich eine Mehrheit im Konvent – der hat sich nicht sehr damit beschäftigt, also das Plenum –, aber wenn wir darüber im Einzelnen abgestimmt hätten, bin ich nicht sicher, dass das durchgekommen wäre.
    Ich war dafür, einfach aus dem Grund, weil ich sagte, wenn ein Volk wirklich austreten will, dann hat die Europäische Union keine Polizei, keine Sanktionen, kein Militär, um den Staat festzuhalten. Und wenn das so ist, dann muss man das ordentlich abwickeln können. Und deswegen ist das also in den Vertrag hineingekommen, und jetzt arbeiten wir damit.
    "Ich bin sehr dafür, dass wir mit den Briten ohne Grimm und Groll verhandeln"
    Welter: Das heißt, Sie machen Ihren Frieden mit der Brexit-Entscheidung?
    Hänsch: Wir müssen es ja. Es ist eine demokratisch zustande gekommene Entscheidung. Ich bin dafür, sehr dafür, dass wir mit den Briten ohne Grimm und Groll verhandeln, allerdings sind das Trennungsverhandlungen und nicht etwa Bleibeverhandlungen. Es muss schon klar sein – man kann über Partnerschaft und andere Modelle wie Norwegen, Schweiz oder so reden, soll man auch reden, aber es muss klar sein, wer draußen ist, kann nicht drinnen mitbestimmen, also einen Sitz im Rat, im Parlament und so weiter kann es nicht geben.
    Welter: Artikel 50 – was passiert, wenn die Franzosen im nächsten Jahr sich entscheiden sollten, für eine Partei zu stimmen in großem Umfang oder vielleicht sogar, dass Marine Le Pen Staatspräsidentin wird, halten Sie das für denkbar?
    Hänsch: Also denkbar ist das schon, dass es so kommt. Ich glaube nicht, dass es so kommen wird, aber ich schließe das bewusst nicht aus. Dann aber ist zunächst mal die Frage, tut sie das, was sie jetzt sagt. Das ist ja wieder eine andere Situation. Das gilt ja auch für die Zusammensetzung der Nationalversammlung. Dann muss erst mal geklärt werden, gibt es in Frankreich ein Referendum.
    Es ist nicht gesagt, dass ein Sieg Le Pens in der Präsidentschaftswahl gleichzeitig ein negatives Votum zur Folge hat bei einem Referendum über den Verbleib oder das Verlassen der Europäischen Union. Wenn aber doch der Austritt gewollt wird in Frankreich, dann, machen wir uns nichts vor, ist die Union am Ende.
    Es gibt Phasen, da muss man festhalten und Haltung zeigen, und in einer solchen Phase ist die europäische Einigung im Augenblick.
    Europa bewahren
    Welter: Wenn wir über die Krise Europas sprechen, dann will ich auch noch an eine Formulierung erinnern, die Sie, Klaus Hänsch, in Ihren Memoiren zu Papier gebracht haben, dass Sie es immer mit informationsresistenten Klischees zu tun hatten, dass Sie also immer viele Menschen getroffen haben, die zwar viele Vorurteile über Europa hatten, aber nicht viel wussten – heute würde man postfaktisch sagen, das heißt, die Europäische Union hat schon lange damit zu tun, bevor es diese Vokabel gab. Wie kann man das erklären, denn alles ist offen.
    Hänsch: Ja, wie kann man das erklären. Ich weiß ja auch nicht genau. Jetzt will ich und darf ich auch nicht in eine Medienbeschimpfung abgleiten, weil natürlich auch die Medien über lange – das hat sich verbessert, eindeutig –, aber über lange Zeit Europa nicht ernst genommen haben.

    Das hat zu tun mit der Einstellung in den politischen Parteien in der Bundesrepublik, aber auch in anderen europäischen Ländern, die sich immer – vielleicht verständlicherweise – als nationale Parteien, auch wenn sie für Europa waren, verstanden haben. Und wenn das Wissen und das Engagement von führenden nationalen Politikern nicht vorhanden ist, dann kann man nicht erwarten, dass die Menschen mit Europa etwas anfangen können.
    Marine Le Pen, Vorsitzende des rechtsextremen Front National, steht bei einem Kongress der Partei im südfranzösischen Frejus mit ausgebreiteten Armen auf der Bühne.
    "Es ist nicht gesagt, dass ein Sieg Le Pens in der Präsidentschaftswahl gleichzeitig ein negatives Votum zur Folge hat bei einem Referendum über den Verbleib oder das Verlassen der EU." (AFP / Franck Pennant)
    Welter: Und dann gibt es Staats- und Regierungschefs …
    Hänsch: Die lesen ja nicht alle die Broschüren der politischen Landeszentralen in den Bundesländern und so weiter, die lesen auch die Broschüren nicht, die in Brüssel gemacht werden. Das kann ich alles verstehen, ich würde sie, wenn ich sie nicht lesen müsste oder musste, auch nicht lesen, also das ist ganz schwierig. Europa muss wie alle andere Politik auch durch Personen transportiert werden, und das ist über viele Jahre in Deutschland noch schlechter als in anderen Ländern gelungen.
    "Die Grenzen der Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union sind erreicht"
    Welter: Ist denn auch der Bogen politisch überspannt worden, ich denke an die Osterweiterung.
    Hänsch: Nein. Es gibt Dinge, die die Europäische Union machen musste, und die Erweiterung nach Osten gehörte dazu. Ich erinnere mich noch an die Jahre vor dem Fall der Mauer, wo es dann auch immer gesagt wurde in der Politik, vor allen Dingen in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, also zu Europa: Europa ist mehr als die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, auch Krakau gehört dazu und Prag gehört dazu, nicht nur Rom und Lissabon und so. Da war immer in der Öffentlichkeit eine solche Stimmung, und wenn man das in einer Rede so sagte, dann kriegte man auch Beifall dafür.
    Und dann war die Möglichkeit da und die Anträge aus den osteuropäischen und mitteleuropäischen Staaten waren da, also es gab keinen Grund und keinen Weg, um an der Sache vorbeizugehen. Das musste im Sinne Europas und auch aus der Werthaltung der europäischen Einigung heraus so geschehen. Dann hat man sich beschwert, das gehe zu schnell. Da kann ich nur sagen, der Zeitraum war mit Spanien und Portugal ebenfalls sieben Jahre, vom Antrag bis zum Beitritt. Und wenn ich mal an Deutschland denke, 1945, da waren es fünf Jahre bis zur Mitgliedschaft der jungen Bundesrepublik Deutschland in der europäischen Einigung.
    Also das alles war unabwendbar und auch richtig und gut. Was anderes ist nach meiner Überzeugung, dass wir endlich jetzt als Union erkennen müssen, dass die Grenzen der Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union erreicht sind, und das muss der Öffentlichkeit sehr klargemacht werden, finde ich – nicht bloß wegen Erdogan –, denn eine Türkei, auch wenn sie anders strukturiert ist als unter dem jetzigen Staatspräsidenten, kann die Europäische Union nicht verkraften.
    Und Gleiches gilt etwa für die Ukraine oder Georgien oder Moldawien. Wenn wir uns in diese Räume hinein erweitern, dann entfernt sich die Union nicht nur immer mehr von ihren Bürgern, je größer sie wird, sondern es ist auch geopolitischer Größenwahn.
    "Wir müssen das, was wir gewonnen haben, festhalten"
    Welter: Wir haben zurückgeblickt, auf Ihre Kindheitserinnerungen sind wir zu sprechen gekommen, Flucht aus dem Osten, dann der Weg in den Westen, Krieg, Elend, Hunger, Wiederaufbau. Wenn Sie an all das denken, Klaus Hänsch, was wünschen Sie dann jungen Europäern von heute?
    Hänsch: Dass sie genug Bewusstsein sich erwerben über das, wo Europa herkommt – diese europäische Einigung, diese Europäische Union. Und dann, dass sie erkennen, dass es in der Geschichte Phasen gibt – da muss man vorangehen, da muss man Neues konstruieren, und es gibt Phasen, da muss man festhalten und Haltung zeigen, und in einer solchen Phase ist die europäische Einigung im Augenblick.
    Wir müssen das, was wir gewonnen haben über die Jahrzehnte, was wir erreicht haben in diesen Jahrzehnten – und das ist vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte nahezu unglaublich –, das müssen wir im Augenblick festhalten und deutlich machen, dass wir nicht bei der ersten großen und schweren Krise kopflos auseinanderlaufen.
    Welter: Klaus Hänsch, ich bedanke mich sehr herzlich für das Gespräch!
    Hänsch: Danke sehr!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    *An dieser Stelle wurden die eingeklammerten Worte für die bessere Lesbarkeit ergänzt.