Der Handlungsbedarf bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie ist enorm. Bereits im September hatte Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) im Dlf gesagt: "Je offener wir darüber debattieren, welche Maßnahmen richtig und welche falsch sind, desto mehr entziehen wir Verschwörungstheoretikern den Boden für ihre Theorien." Am Wochenende nun eine erneute Warnung vor den negativen Folgen für die Demokratie: Es sei die Aufgabe des Bundestags, wesentliche Entscheidungen zu treffen, und nicht die Aufgabe von Regierungsmitgliedern, erklärte der FDP-Politiker auf einer Veranstaltung der "Bild"-Zeitung.
Zuvor hatte sich bereits die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, Franziska Brantner, ebenfalls für mehr Mitspracherechte des Bundestags in der Corona-Politik ausgesprochen. Es reiche nicht mehr aus, dass allein Bundeskanzlerin Merkel und die 16 Ministerpräsidenten über Maßnahmen entscheiden könnten, sagte sie im Interview der Woche im Deutschlandfunk.
Was passiert, wenn wichtige Beschlüsse zur Bekämpfung der Corona-Pandemie nicht vom Parlament gefasst werden? SPD-Politikerin Hilde Matthis, Mitglied des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestag, Wahlkreis Ulm, betonte im Dlf-Interview, die Verordnungsmöglichkeit von Gesundheitsminister Jens Spahn müssten "sehr kritisch hinterfragt werden". Entscheidungen wie Einführung kostenloser Coronatests etwa, die sich auf die Beiträge der Krankenversicherungen auswirken, dürfe nicht allein die Exekutive regeln.
Christoph Heinemann: Frau Mattheis, sollte der Bundestag in der Corona-Politik mehr zu sagen haben?
Hilde Mattheis: Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir auch von Parlamentsseite her innehalten und feststellen, was ist denn mit dem ersten und zweiten Schutzgesetz für die Bevölkerung passiert, wie viele Verordnungen und in welchem Zeitrahmen wurde da über eigentlich Parlamentsangelegenheiten entschieden. Wir haben ausdrücklich, als dieses im März begann, die Debatte, auch über die Verordnungsmöglichkeiten des Bundesministers Spahn gesprochen worden, gesagt, nein, nicht wie in der ersten Vorlage, die Bundesregierung soll die Notlage festlegen, sondern das Parlament. Das war ausdrücklich auch mein Verlangen, das wurde dann auch mit Unterstützung der Oppositionsparteien im Gesetz geändert. Ich glaube, dass es jetzt an der Zeit ist, tatsächlich auch zu sagen von Parlamentsseite her, diese Regelung, die wir geschaffen haben und die uns ja auch die Möglichkeit gibt, diese Notlage zu betrachten, das müssen wir von Parlamentsseite her leisten, denn mittlerweile geht es ja sehr weit auch in die Eingriffe in die Krankenversicherung und in die Beiträge der Krankenversicherung. Das ist, glaube ich, etwas, das nicht allein die Exekutive regeln darf, sondern das muss schon in der Verantwortung der Legislative liegen.
"Gesundheitsdienst stärker in die Rahmenkompetenz des Bundes geben"
Heinemann: Frau Mattheis, Sie haben – das war jetzt ein Beispiel –, Sie haben gerade eben den Vorschlag von Markus Söder gehört, welche Kompetenzen genau sollten denn von den Ländern auf den Bundestag übertragen werden?
Mattheis: Mein Petitum ist schon seit Langem, dass wir den öffentlichen Gesundheitsdienst sehr viel stärker in die Rahmenkompetenz des Bundes geben. Wir sehen, dass der öffentliche Gesundheitsdienst etwas ist, wo wir zu dieser Zeit einfach drauf bauen müssen und es als sogenannte dritte Säule in unserem System haben müssen. Wir haben gesehen, dass in den letzten Wochen und Monaten nur ganz minimal verbessert wurde, obwohl wir viel Geld zur Verfügung gestellt haben, obwohl wir viel Unterstützung zur Verfügung gestellt haben. Da, glaube ich, sollten wir in der Debatte tatsächlich die Rahmenkompetenz des Bundes einfordern, da bin ich sehr dafür.
Heinemann: Heißt das, Entschuldigung, Frau Mattheis, heißt das, dass der Bundestag besser Bescheid weiß, was gut ist für Vorpommern als die Regierung in Schwerin?
Mattheis: Das sage ich nicht, sondern Rahmenkompetenz bedeutet, dass wir gerade, was den ÖGD anbelangt, sehr viel schneller und direkter agieren. Wir haben bis vor zwei, drei Wochen gebraucht, um eine Vereinbarung über die digitale Ausstattung hinzubekommen mit den Ländern, und so geht es auch bei der Personalausstattung. Wir sehen immer noch einen unglaublichen Flickenteppich, und in manchen Risikogebieten ist es ja kaum möglich, die Nachverfolgung hinzubekommen, auch wenn die Bundeswehr jetzt den Einsatz unterstützen soll. Alles das muss eigentlich eine Sache sein, die wir bundesweit unterstützen, und zwar ohne die Zustimmung der Länder zu bekommen oder einfordern zu müssen, weil es ja darum geht, von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern einfach den Gesundheitsdienst so aufzustellen, dass er seine Aufgaben wahrnehmen kann.
Mattheis: Finanzierung der Tests hätte im Parlament diskutiert werden müssen
Heinemann: Frau Mattheis, wenn Sie sich die bisherige Corona-Politik anschauen, welche der bisherigen Entscheidungen hätte der Deutsche Bundestag anders getroffen?
Mattheis: Ich glaube, wir hätten ein Stück weit anders getroffen die Entscheidung zum Beispiel über die Finanzierung der Tests. Ich glaube, dass der Griff in den Gesundheitsfonds damit zum größten Teil in die Beitragszahlen, in die Mittel der Beitragszahlenden etwa ist, was man diskutieren muss. Ich glaube nämlich, dass wir auch an diesem Punkt Steuermittel einsetzen müssten, die auch von denen getragen werden, die die Finanzierung stärker mitleisten können. Da dieses einfach auf die Beitragszahler umzulegen, das, finde ich, ist eine Debatte, die im Parlament geführt werden muss. Diese Verordnung ist am 15.10. in Kraft getreten, und ich glaube, das ist ein Punkt, wo ganz deutlich wird, dass das Parlament hier die Aufgabe eigentlich hätte übernehmen müssen, und deshalb will ich jetzt die Parlamentsdebatte.
Heinemann: Stichwort Kompetenzen: Jens Spahn arbeitet an einem neuen Gesetz mit dem Titel "Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite".
Mattheis: Ja, das ist das dritte Gesetz.
Heinemann: Das klingt etwas langatmig. Er möchte einige seiner Sonderrechte für den Infektionsschutz jetzt damit verstetigen über den 31. März hinaus. Benötigt der Bundesgesundheitsminister Beinfreiheit?
Mattheis: Nein.
Heinemann: Warum nicht?
Mattheis: Ich glaube, dass das ein Punkt ist, der tatsächlich in die Rechte der Legislative massiv eingreift. Wir haben es sehr bewusst bis zum März 2021 begrenzt und haben sehr bewusst auch im Gesetz reingeschrieben, dass das Parlament auch bis dorthin, also im Zeitraum bis dorthin feststellen kann, dass das Parlament wieder seine vollen Rechte bekommt. Und das will der Gesundheitsminister jetzt ausdehnen, sodass er über seine Verordnungsmöglichkeiten tief in das Gesundheitswesen eingreifen kann. Das lehne ich entschieden ab.
"Demokratien vertragen solche Dinge nicht"
Heinemann: Spahn möchte unter anderem oder könnte dann Verordnungen erlassen, um Menschen, die aus Risikogebieten nach Deutschland einreisen, zu umfangreichen persönlichen Auskünften zu verpflichten. Was spricht dagegen?
Mattheis: Ich bitte Sie! Wir haben ja schon eine ausreichende beziehungsweise weite Kompetenz des Gesundheitsministers in dem ersten und in dem zweiten sogenannten Bevölkerungsschutzgesetz, so. Diese Möglichkeiten muten ja wirklich an wie so, jemand sitzt dort und erklärt, welche Menschen nach Deutschland reinkommen dürfen und welche nicht. Das hat etwas von wirklich, wie soll ich sagen, ohne dass ich da besonders beleidigend wirke, aber ich glaube, Demokratien vertragen solche Dinge nicht.
Heinemann: Frau Mattheis, muss man solche Entscheidungen in Pandemiezeiten nicht treffen?
Mattheis: Wir haben das sehr ausdrücklich diskutiert, haben gesagt, ja, um die Schnelligkeit mit medizinischer Versorgung hinzubekommen, stimmen wir zu zum ersten Bevölkerungsschutzgesetz. Da wurden vor allen Dingen auch die Möglichkeiten, Medikamente zu beschaffen und, und, und sehr klar geregelt und die Verordnungsmöglichkeiten des Bundesministers ausgeweitet. Im zweiten Gesetz haben wir dies ein Stück weit noch ausgedehnt und haben gesagt, ja, wir wollen, dass andere, zum Beispiel Berufe im Gesundheitswesen, stärker einbezogen werden. Und jetzt will der Minister noch ein Stück weitergehen und über den Gesundheitsbereich in allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen hineingehen. Da muss ich sagen, das würde für mich eine starke Grenze überschreiten.
Heinemann: Nun ist Deutschland ja bisher nicht schlecht gefahren im internationalen Vergleich, das kann man so feststellen. Rechnen Sie damit, dass der Bundestag Ende März ein Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite beschließen könnte, also dass dieses Gesetz vielleicht gar nicht mehr notwendig wäre?
Mattheis: Das läuft automatisch aus, wir müssen es gar nicht beschließen, weil das ist die Fristenregelung, die wir in dem Gesetz vorgenommen haben, dass es dann automatisch ausläuft. Wenn es bis dahin die Notlage nicht mehr gibt, können wir das im Parlament beschließen, dass diese Notlage nicht mehr vorhanden ist. Natürlich hoffe ich sehr, dass bis spätestens im März diese Notlage nicht mehr existiert, und da wird das Robert Koch-Institut und andere Institute uns ja entsprechend auch, was die Zahlen anbelangt, einiges sagen können. Ich hoffe natürlich sehr, dass die ganzen Maßnahmen, vor allen Dingen die Abstandsregelung, das Maskentragen zum Erfolg führen, das ist völlig klar, und ich glaube, dass wir aber gleichzeitig sehr kritisch hinterfragen müssen, wie weit diese Verordnungsmöglichkeit des Ministers gehen darf, und das ist mein Ansatz.
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