Parteichef Martin Schulz hatte eine Große Koaliton am Wahlabend im September noch abgelehnt - mittlerweile schließt er eine Neuauflage nicht mehr aus. Kühnert kritisierte, diese Kehrtwende von Schulz sei an der Basis nicht erklärbar. Nicht nur bei den Jusos, sondern auch "in breiten Teilen der Basis" gebe es eine Ablehnung einer erneuten Großen Koalition.
Steuere Schulz auf eine solche Koalition zu, so spiele er mit dem Wohlergehen und der Existenz der Partei, so Kühnert. Neben einer GroKo-Neuauflage gebe es noch andere Optionen. Zwar wolle niemand Neuwahlen, aber wenn sich SPD-Positionen in einer möglichen Koaliton mit der Union nicht verwirklichen ließen, sei es legitim, diese abzulehnen. Dann könne man auch erhobenen Hauptes in Neuwahlen gehen.
Christine Heuer: Keine GroKo mehr, stattdessen Opposition. Als Martin Schulz das nach der verlorenen Bundestagswahl ankündigte, da jubelte die SPD ihrem Vorsitzenden noch zu. Aber dann scheiterte Jamaika und die SPD-Spitze hatte nichts eiligeres zu tun, als ihr Nein zur GroKo zu wiederholen. Erst als der Bundespräsident intervenierte, war Martin Schulz bereit, wieder vom Baum runterzuklettern. Bloß ob und wenn ja wie willig die Basis ihm folgt in Gespräche mit der Union, das ist noch sehr die Frage. Erste Antworten gibt es ab heute beim SPD-Parteitag in Berlin.
Gegen eine GroKo sind viele in der SPD, Sigmar Gabriel möglicherweise nicht. Besonders deutlich Nein sagen aber die Jusos, die Jungsozialisten, und deren neuer Bundesvorsitzender Kevin Kühnert ist jetzt am Telefon. Guten Morgen.
Kevin Kühnert: Einen schönen guten Morgen.
Heuer: Wir haben eingangs ja noch einmal diese Passage gehört von Martin Schulz beim Juso-Bundeskongress, wo Sie die Einladenden waren und wo er gesagt hat, ich strebe gar nichts an. Herr Kühnert, was haben Sie gedacht, als Sie das gehört haben?
Kühnert: In der Situation ist relativ klar geworden, finde ich, das ganze Dilemma der SPD in den letzten Wochen, dass unsere Parteispitze da eine Kehrtwende hingelegt hat in einer ganz, ganz zentralen politischen Frage, die nach außen nicht nachvollziehbar war und die, wie wir dort gemerkt haben an diesem Tag, auch nicht erklärbar war, weil nämlich bis heute niemand erklären kann, wie man als Parteivorstand von einem einstimmigen Vorstandsbeschluss, der da lautete, mit uns kann man über alles reden, aber nicht über eine Große Koalition, innerhalb weniger Tage zu einer Situation kommen konnte, wo plötzlich wieder alles offen war. Und das hält eigentlich bis heute an, diese Verwunderung bei mir.
Grundsätzlich sei Schulz ein guter Parteivorsitzender
Heuer: Sie sind verwundert. Ist Martin Schulz aus Ihrer Sicht ein guter Parteivorsitzender?
Kühnert: Ich glaube, die Frage des Parteivorsitzes macht sich nicht nur an dieser Koalition-Nichtkoalition-Frage fest, sondern geht ein bisschen tiefer. Dann würde ich sie grundsätzlich mit Ja beantworten. Martin Schulz ist, das darf man nicht vergessen, ein Parteivorsitzender, der erstens ja noch sehr wenige Monate im Amt ist und einen größten Teil davon sehr, sehr großen Rückhalt an der SPD-Basis genossen hat, ehrlicherweise bis heute. Das merken wir auf den ganzen Regionalkonferenzen, die im Moment stattfinden, und das hat viel damit zu tun, dass er als jemand identifiziert wird, der einen etwas anderen Politikertypus darstellt, als man ihn häufig im Moment findet. Denken Sie an die Schulz-Story, diese so ein bisschen Enthüllungsgeschichte im "Spiegel" über die ganzen Abläufe im Wahlkampf.
Heuer: Da haben wir viel gelernt über den Kanzlerkandidaten der SPD.
Kühnert: Genau. Das hat bei vielen den Eindruck hinterlassen, da ist einer, der ein bisschen anders tickt und an Politik anders herangeht. Ich glaube, dieses Potenzial an ihm sollte man weiterhin nicht unterschätzen.
Heuer: Das heißt, Sie wählen ihn heute wieder?
Kühnert: Ich werde mir die Debatte sehr genau anhören und das auch davon abhängig machen. Ich kann mir aber gut vorstellen, ihn heute zu wählen – einerseits, weil niemand dagegen kandidiert, ist übrigens auch ein Teil unserer Parteikultur im Moment, dass es ganz offensichtlich auch in der Parteispitze in den letzten Wochen große Kritik gab, aber das nicht damit verbunden wird, dass mal jemand aufsteht und sagt, ich kandidiere, ich stelle ein anderes Konzept zur Abstimmung.
"Ich bin gewillt, diesen Vertrauensvorschuss zu geben"
Und ein Zweites ist mir ganz wichtig: Ich glaube, das Dilemma, in dem wir als SPD sind, und zwar völlig unabhängig davon, was wir heute entscheiden werden, wird nur dann irgendwie aufzulösen sein, wenn es Vertrauensvorschuss von verschiedenen Seiten für das gibt, was wir da miteinander tun. Und ich bin gewillt, diesen Vertrauensvorschuss zu geben, in der Hoffnung, dass ich einen Vorsitzenden habe, der kluge und besonnene Entscheidungen trifft und darum weiß, dass er hier einen Laden zusammenhalten muss.
Heuer: Das klingt jetzt, Herr Kühnert, als hätten Sie sich es anders überlegt und würden doch sagen zum Vorstandsantrag, ergebnisoffene Gespräche mit der Union.
Kühnert: Nein, das kann ich Ihnen versprechen, dass ich mich damit nicht abgefunden habe.
Heuer: Dann haben Sie kein Vertrauen.
Kühnert: Inwiefern habe ich kein Vertrauen?
Heuer: Wenn Sie Martin Schulz einen Vertrauensvorschuss geben wollen, dann könnten Sie ja sagen, das macht der Vorstand, das macht der Parteivorsitzende schon richtig und die Parteispitze lässt sich in Gesprächen mit der Union auf keinen schlechten Deal ein.
Kühnert: Ja, gut. Das wäre aber von meiner Seite aus unehrlich, weil wir als Jusos nicht deshalb die Große Koalition ausgeschlossen haben, weil wir die inhaltlichen Hürden jetzt für zu niedrig erachtet haben, die die SPD dort hochzieht, sondern weil wir große Koalitionen aus ganz prinzipiellen inhaltlichen Erwägungen ablehnen.
Heuer: Sie sind ehrlich, aber Martin Schulz dann nicht, denn der hat ja eine Kehrtwende vollzogen, wie Sie selber sagen?
Kühnert: Ja, er hat da unter großem Druck in den letzten Tagen und Wochen eine Kehrtwende vollzogen, und das kritisieren wir auch und das werde ich auch heute auf dem Parteitag kritisieren. Was der Parteivorstand beschließen lassen möchte, sind ergebnisoffene Gespräche, bei denen es keine Präferenz für irgendeine der Varianten gibt. Und sollte heute aus der Abstimmung hervorgehen, dass es diese Gespräche so geben soll – dagegen werden wir uns wehren -, dann muss ich ja trotzdem mit dieser Situation umgehen und dann kann ich auch als Juso-Vorsitzender nicht die Hütte abreißen danach und den Eindruck vermitteln, als würde jetzt die Welt stehen bleiben, sondern auch dann muss ich mich damit auseinandersetzen, was dann passiert, und dann muss das Wort gelten, dass diese Gespräche wirklich ergebnisoffen geführt werden, und dann geht es mir darum, dass ich möchte, dass da ein Parteivorsitzender ist, der darum weiß, dass er eine extrem kritische Situation in seiner Partei hat. Das werden wir versuchen, auch heute deutlich zu machen, dass es eine extreme Ablehnung einer erneuten Großen Koalition nicht nur bei der Jugendorganisation, sondern in breiten Teilen der Basis gibt und dass, wer auf eine neue Große Koalition zusteuert, ein bisschen auch mit dem Wohlergehen und vielleicht auch ein bisschen mit der Existenz dieser Partei spielt.
Parteitag soll "belastbare rote Linien" ergeben
Heuer: Was heißt denn das konkret? Soll die Parteispitze, wenn der Parteitag heute beschließt, ja, es soll ergebnisoffene Gespräche geben mit der Union, soll die Parteispitze dann in solche Gespräche gehen, Maximalforderungen stellen und null Kompromissbereitschaft zeigen?
Kühnert: Genau das ist ja der Punkt, an dem wir als Jusos auch überhaupt keinen Dissens haben. Unser einziger Dissens bewegt sich bei dem Punkt, ob die Große Koalition ein mögliches Ergebnis solcher Gespräche ist. Ansonsten sind wir soweit d'accord. Gespräche müssen geführt werden. Es gibt auch andere Optionen, die auf dem Tisch liegen. Und natürlich muss die Sozialdemokratie mit inhaltlichen Positionen in diese Gespräche reingehen. Wir werden heute auch unabhängig von der Großen Koalitionsfrage darum ringen, wie hoch die Hürden sind, die dort gelegt werden.
Uns ist es als Jusos zu wenig zu sagen, wir haben ein Parteiprogramm aus dem Sommer und das wird schon reichen für Verhandlungen. Uns ist es auch zu wenig, ein Verhandlungsmandat an eine Verhandlungsgruppe zu übertragen, und da kann dann mal so ein bisschen freihändig geschaut werden, welche Position kann man halten und welche nicht, sondern wir möchten schon, dass heute verbindlich Punkte aufgeschrieben werden, die dann auch belastbare rote Linien in Verhandlungen mit der SPD sind, wo ganz klar ist, bis hierhin und nicht weiter kann man mit der SPD gehen.
Heuer: Herr Kühnert, da haben Sie sich viel vorgenommen. Aber lassen Sie uns das mal ganz kurz durchdeklinieren, wirklich kurz. Ist die Bürgerversicherung so eine rote Linie für Sie?
Kühnert: Die Bürgerversicherung ist eine der Kernforderungen der SPD im Sommer gewesen. Ich weiß gar nicht, mit wem wir eine politische Zusammenarbeit ohne dieses Projekt machen sollen.
Heuer: Das heißt, Sie setzen darauf, dass am Ende die Union die Sache scheitern lässt und sagt, darauf können wir uns nicht einlassen?
Kühnert: Nein! Ich setze darauf, dass der Parteitag heute die Große Koalition ausschließt. Aber auch in den Szenarien danach, wenn wir über Tolerierung, Kooperationsmodelle und Ähnliches reden, muss es Absprachen über politische Projekte geben und selbstverständlich müssen da auch SPD-Inhalte vorkommen und da ist die Bürgerversicherung ganz vorneweg ein Projekt.
Heuer: Neuwahlen schließen Sie ja ausdrücklich nicht aus. Der Parteivorstand macht das auch nicht. Aber es ist ja bekannt, dass die SPD-Spitze das möglichst verhindern möchte. Haben Sie eigentlich gar keine Angst vor Neuwahlen, bei denen die SPD dann noch schlechter abschneiden würde?
Kühnert: Niemand möchte Neuwahlen und es liegt auch weder in der Hand der SPD, noch in der Hand einer anderen Partei, Neuwahlen herbeizuführen. In diesem Fall würde der Bundespräsident eine ganz große Rolle spielen.
Eindruck vermeiden, die SPD müsse immer springen
Ich glaube aber schon, insbesondere nachdem die FDP auf so skandalöse Art politische Gespräche jetzt gerade hat platzen lassen, dass meine Partei sich schon eines ganz selbstbewusst deutlich machen kann: Es kann nicht sein, dass hier immer alle miteinander verhandeln, irgendwann zu dem Schluss kommen, sie haben keine Lust oder ihnen ist sonst eine Laus über die Leber gelaufen, und am Ende muss immer und unter allen Umständen die SPD springen und in eine Große Koalition gehen. Auch wir haben Prinzipien, die uns antreiben, und wenn wir die nicht verwirklichen können in politischen Konstellationen, dann ist es ein legitimer Standpunkt, auch zu sagen, es war einen Versuch wert, aber es hat nicht geklappt. Und wenn dann am Ende Neuwahlen dabei herauskommen, dann kann man das erhobenen Hauptes tun. Ich bin Optimist von Hause aus. Wenn ich mit der Annahme in Neuwahlen gehen würde, dass wir daraus geschwächt hervorgehen, dann wäre ich, glaube ich, in einer politischen Partei falsch aufgehoben.
Heuer: Fänden Sie, wenn es zu Neuwahlen käme, dass Martin Schulz wieder der Kanzlerkandidat Ihrer Partei sein sollte?
Kühnert: Sehen Sie es mir nach, aber wir stehen jetzt, glaube ich, wirklich nicht kurz vor Neuwahlen und daher ist das ganz bestimmt nicht die aktuelle Frage.
Heuer: Ich hake immer noch ein bisschen an dem Vertrauen, Herr Kühnert, und frage mich, wie stark ist denn Ihr Vertrauen eigentlich in diesen Vorsitzenden Martin Schulz. Deshalb stelle ich natürlich die Frage.
Kühnert: Ja. Aber die Frage von einer Kanzlerkandidatur ist nicht nur eine, die auf Vertrauen basiert, sondern das ist immer auch eine Frage, will eine Person das, passt das zum Programm, will das die Partei. Und wirklich: Das entscheiden wir dann, wenn es soweit ist, miteinander als SPD. Ich glaube, wir haben jetzt eine richtig große Aufgabe mit diesem Parteitag vor uns, uns überhaupt für die Zukunft gut aufzustellen. Mein Anspruch ist, gerade auch als Vertreter der Jugendorganisation der SPD, dass wir auch in fünf, zehn, 20 Jahren noch eine Partei haben, die überhaupt darüber nachdenkt, Kanzlerkandidatinnen und Kandidaten aufzustellen, ohne dass alle in schallendes Gelächter ausbrechen, und dafür würde ich gerne heute ein paar Grundlagen treffen.
Heuer: Kevin Kühnert, der neue Bundesvorsitzende der Jungsozialisten. Ich bedanke mich sehr für das Gespräch, Herr Kühnert.
Kühnert: Sehr gerne!
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