Philipp May: Dass die Union bei der Bundestagswahl klar vor der SPD landen wird und Angela Merkel somit Kanzlerin bleibt, das scheint sechs Tage davor schon klar. Und doch wächst die Unruhe: Mit wem wird Merkel dann regieren und wer wird dritte Kraft? Tatsächlich die AfD, wie aktuelle Meinungsumfragen nahelegen?
Mitgehört hat Karl-Rudolf Korte, Politikwissenschaftler von der Uni Duisburg-Essen. Schönen guten Tag.
Karl-Rudolf Korte: Hallo!
"Jamaika oder Große Koalition wahrscheinlich"
May: Herr Korte, Sie haben es gehört: AfD ante portas. Läuft deswegen jetzt tatsächlich schon alles auf Jamaika hinaus?
Korte: Nein, das kann man so nicht sagen, das ist in der Tat konkret von kleinsten Veränderungen am Wahlsonntag ableitbar. Insofern würde ich da im Moment nicht viel drum geben. Die Konstellationen sind wahrscheinlich Jamaika oder Große Koalition, aber die letzten Koalitionsverhandlungen haben ja 85 Tage gedauert. Was am Ende herauskommt, wissen wir im Moment nicht. Aber die Optionen laufen im Moment auf die beiden zu, aber welche Stärke am Ende favorisiert wird, das kann man nicht absehen.
Große Koalition "führt systematisch zur Debattenallergie"
May: Die SPD hat es jetzt schon zweimal in eine Große Koalition geworfen. Würden Sie ihr wirklich dazu raten, das noch ein drittes Mal einzugehen, aus staatspolitischer Verantwortung?
Korte: Aus staatspolitischer Verantwortung könnte es durchaus eine Notwendigkeit sein, da wieder einzutreten. So könnte es die SPD für sich selbst interpretieren, denn wir erinnern uns an die Zeit, in der die SPD auch in einer Oppositionsrolle war. Dort hat sie danach, mit Steinbrück angetreten, auch nicht bessere Prozentwerte erreicht. Aus der Regierung heraus, oder aus der Opposition heraus hat die SPD …
May: Na ja, ein bisschen schon.
Korte: … etwas, aber nur minimal davon profitiert. Als Demokrat oder als Bürger kann man sich natürlich so etwas nicht wünschen, denn das führt systematisch zur Debattenallergie und macht in der Tat Rechte wie Linke viel stärker.
Etwas Attraktives für soziale Aufsteiger fehlt
May: Aber warum gelingt es denn der SPD seit Jahren nicht, die Unzufriedenen, die es ja vor allen Dingen jetzt gerade gibt ganz offensichtlich, warum gelingt es der SPD nicht, die einzufangen - trotz Gerechtigkeitskampagne?
Korte: Ja, weil durchaus soziale Gerechtigkeitsfragen eine Rolle spielen, aber eben auch soziale Sicherheitsfragen und da sich viele eher an die Union wenden mit ihren Anliegen, und weil die Partei es bislang nicht geschafft hat, auch für soziale Aufsteiger etwas Attraktives anzubieten, als sozialer Aufsteiger ein Thema zu haben, mit dem man auf jeden Fall nur mit der SPD nach der Wahl besser bedient ist. Das ist nicht wirklich erkennbar, denn der Grundkonflikt Arbeit und Kapital - das ist ja die gesellschaftspolitische Grundkonfliktlinie, die die SPD abdeckt -, der besteht natürlich und die vorzeigbaren Minister der letzten, der jetzt amtierenden Regierung haben ja auch alle ihre Punkte effektiv abgearbeitet. Es liegt also nicht so sehr an der eigenen Programmatik, sondern an der Zukunftsperspektive auch für soziale Aufsteiger.
Schulz hat sein Pfund nicht genutzt
May: Aber es waren ja am Anfang des Jahres – zumindest belegen das die Umfragen – viele Leute durchaus bereit, der SPD eine Chance zu geben und Schulz zu wählen. Was ist dann passiert? Was hat die SPD dann falsch gemacht? Warum wird sie jetzt nicht mehr als Alternative wahrgenommen?
Korte: Ja, es war eine Projektionsfläche. Hoffnungen wurden damit verbunden, mit einer neuen Person, die auch einen antietablierten Scharm eingebracht hat in die Berliner Republik, in der er nicht bekannt war bislang. Man war neugierig auf die Person. Aber er hat kein Alleinstellungsmerkmal gefunden, für das er identifizierbar steht. Es sind Reparaturarbeiten am Wohlfahrtsstaat, die die Große Koalition beide ja zusammen vorschlagen und nicht wirklich unterscheiden. Und er hat auch nicht das Pfund genutzt, dass er neben dem kommunalpolitischen Basislager, was er in Würselen ja hat und mit dem er immer versucht zu punkten, das Europäische, das Große nicht herausgestrichen hat. Denn er hat genauso viele Staatschefs und Staatsfrauen nicht nur kennengelernt, sondern mit ihnen auch verhandelt, vom Kanada-Freihandelsabkommen genauso wie mit der Türkei alles verhandelt. Insofern hat er auch einen internationalen Auftritt. Was ihm wahrscheinlich fehlt und der SPD, ist dieses jugendliche Trudeau-, Macronhafte, das was so einen stärkeren Kennedy-Style in der Politik einpflegt.
"Der Sog der Mitte ist grenzenlos auch bei jungen Leuten"
May: Jetzt haben Sie Trudeau und Macron ins Spiel gebracht. Ich würde jetzt mal zwei andere Namen ins Spiel werfen, und zwar Corbyn, Chef der Labour Party in Großbritannien, dezidiert links, oder auch Bernie Sanders, beide wenig jugendlich, aber sehr erfolgreich gerade bei den Jungen in den USA. War es möglicherweise ein Fehler der SPD unter Martin Schulz eine Koalition mit Links und eine Hinwendung zu Links auszuschließen?
Korte: Nein, denn die politische Kultur hier ist eine andere. Der Sog der Mitte ist grenzenlos auch bei jungen Leuten, die auch auf Sicherheit setzen und nicht auf Veränderung. Wer schützt die Wähler vor Veränderungen? Das ist das Hauptmotiv der deutschen Wähler, auch der jungen Leute, die nicht ohne Grund - die meisten zumindest - in den öffentlichen Dienst wollen und nicht ein eigenes Unternehmen gründen. Die Sicherheitsbereitschaft hier auch von jungen Leuten ist ganz anders als im angelsächsischen Kontext. Insofern ist das durchaus richtig, hier mit anderen Kandidaten versuchen, Mehrheiten am Ende zu generieren. Es ist nicht vergleichbar in der Radikalität, in der Angelsachsen auf Veränderung setzen, auch der Radikalität, mit der sie auch den sozialen Konflikt zum Hauptthema machen.
Alternativen in der Opposition
May: Jetzt hört man aus der Parteizentrale, der Wunsch nach einer "Groko" ist schon da. Sind ja auch schöne Posten, Außenminister zum Beispiel. Glauben Sie, dass die Parteibasis da mitmachen könnte oder noch mal mitmachen wird?
Korte: Formal ist durchaus die Frage, ob man einen Mitgliederentscheid noch mal braucht. Man könnte ja sagen, der letzte ist immerwährend, der gilt noch, weil die Große Koalition hat sich nicht wirklich verändert, das wird einfach fortgesetzt. Ob man damit durchkommt, bleibt abzuwarten. Es kommt immer auf die Alternativen an: Was kann man an Alternativen erreichen aus einer starken Opposition heraus? Sicherlich weniger gestalten, aber für das Ende einer Debattenallergie wäre es natürlich gut, in Deutschland eine große, starke, kräftige, auch vielparteienhafte Opposition wieder kennen zu können. Ob die SPD sich darauf einlässt, ist schwer zu sagen. Wir haben beim letzten Mal ja auch innerhalb der 85 Tage sehr unterschiedliche Akzente kennengelernt. Von NRW aus noch mal gesehen war es über viele Wochen völlig unverständlich und völlig unvorstellbar, dass man in eine Große Koalition eintritt, und trotzdem hat es am Ende funktioniert.
Staatspolitische Verantwortung
May: Was ist denn jetzt – wir haben das gerade im Beitrag gehört -, wenn es tatsächlich so käme, dass die AfD drittstärkste Kraft wird? Müsste die SPD dann zwingend in die Opposition?
Korte: Nein. Es gibt nicht diese Verantwortung, nun für die anderen Parteien oder auch aus Größe die Demokratie zu retten, heraus zu agieren. Jede Partei möchte ein Maximum an Inhalten umsetzen, in welcher Form auch immer, mit Partner, ohne Partner. Es wird nicht die höhere Aufforderung geben, das hehre Ziel, nun die Opposition dadurch zu stärken. Das ist in den Karrieremustern, etwas zu verhandeln, derjenigen, die dann verhandeln, nicht so wichtig, als am Ende die Möglichkeit zu sehen, aus der eigenen Programmatik des Wahlkampfs eine Mehrheit zu formen, die auch gestaltbare Ergebnisse vorweisen kann.
May: Wie kann sich die SPD noch aus ihrem Tief befreien, eine Woche vor der Wahl? Einschätzungen waren das von Karl-Rudolf Korte, Politikwissenschaftler an der Uni Duisburg-Essen. Herr Korte, vielen Dank für das Gespräch.
Korte: Bitte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.