In der Hauptstadt wirkte man überrascht. Akteure der Parteien, der Fraktionen, aber auch Journalistinnen und Journalisten wurden auf dem falschen Fuß erwischt, als sich die SPD-Mitglieder mehrheitlich gegen Vizekanzler und Bundesfinanzminister Olaf Scholz und die Brandenburgerin Klara Geywitz an seiner Seite entschieden.
Die Symptome der Überraschung, das verwunderte Augenreiben, es ähnelte jenem nach dem plötzlichen Jamaika-Aus durch den FDP-Rückzug im November 2017 oder auch nach der überraschenden Wahl von Ralph Brinkhaus zum Chef der Unions-Bundestagsfraktion im September 2018. Nun also Staunen über die Kür der künftigen Vorsitzenden der SPD. In der TV-Sendung "Anne Will" wurde das turbulente Wochenende so zusammengefasst:
"Wer Wetten abgegeben hätte und Umfragen gelesen hatte, für den Stand eigentlich fest, dass Klara Geywitz und Olaf Scholz, die Stichwahl um den SPD-Vorsitz gewinnen würden und es auch mit der GroKo wahrscheinlich einfach so weitergehen würde wie bisher, aber die SPD hat sich selbst überrascht und das GroKo-kritische Duo gewählt. Bei uns sind Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans…"
Lächelnd saßen die beiden da auf dem Sofa. 53,06 Prozent hatten Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans in der Mitgliederbefragung zum Partei-Vorsitz erhalten. Satz und Sieg für das Duo, das mit dem Rückenwind von linker SPD-Basis und Jung-Sozialisten sowie dem Segen des Landesverbandes NRW aufs Siegertreppchen gelangte.
Bedrohliche Lage der SPD
Esken, 1961 in Stuttgart geboren, ist ausgebildete Informatikerin, seit 2013 sitzt im Bundestag, kümmert sich dort um die Innen- und Digital-Politik. Norbert Walter-Borjans, parteiintern mit dem Kosenamen "NoWaBo" ausgestattet, ist promovierter Volkswirt, war Sprecher des langjährigen NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau, führte sieben Jahre lang als NRW-Finanzminister an Rhein und Ruhr die Geschäfte, und war mit seinen 67 Jahren eigentlich schon im politischen Ruhestand. Doch: Die bedrohliche Lage der SPD brachte Esken und Walter-Borjans – die beide eher links stehen – zusammen. Und sie lieferten einen offensiven Wahlkampf um den Parteivorsitz:
"Die GroKo schafft keine Zukunft. Die GroKo hat keine Zukunft. Ja, ich bin der Meinung, dass wir aus der Großen Koalition aussteigen sollten. Nach Bewertung, dessen, was wir bisher geschafft haben, dessen, was wir noch schaffen können und dessen, was wir nie reinschreiben konnten, in diesen Koalitionsvertrag."
"Wir haben eindeutig gesagt, es geht um Inhalte. Dass wir beim Klima noch ein Stück mehr machen müssen, dass es massive Investitionen geben muss, dass die Verteilungsfrage, das Auseinanderdriften, dass die gestellt werden muss, und dass wir da klare Positionen an die Adresse des Koalitionspartners definieren müssen."
"Wir werden ins Gespräch kommen, wir werden sehen, zu welchen Ergebnissen wir kommen."
Das mediale Echo auf den Wahlerfolg der neuen Doppelspitze ging überwiegend in diese Richtung:
"Jetzt zerlege sich die SPD endgültig".
Hieß es bei "n-tv".
"Eine Partei dankt ab"
Kommentierte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung",
"Adieu, Sozialdemokraten!"
Rief der Berliner "Tagesspiegel" den Genossinnen und Genossen hinterher – und der Verleger des politischen Magazins "Cicero", Christoph Schwennicke, eröffnete den Abend bei "Anne Will" mit folgenden Worten:
"Ich glaube, dass Sie beide, von dem, was Sie mitbringen, nicht genug Führungserfahrung haben für diese Aufgabe, die da auf Sie zukommt. Ich weiß gar nicht, ob Sie sich im Klaren darüber sind, was da auf sie zukommt. Ich glaube, dass höchste Amt, was sie innehatten, das war, nicht in der Partei, das einer Vize-Vorsitzenden im Landeselternbeirat."
Erklärte der frühere Hauptstadt-Korrespondent von "Süddeutscher Zeitung" und "Spiegel". Das politische Berlin konnte sich eine gewisse Häme in Richtung der Wahlsiegerin Esken nicht verkneifen und auch Walter-Borjans bekam sein Fett weg:
"Das ist bestimmt auch ein ganz schön anstrengender Posten, wenn man so in Elternversammlungen ist, aber natürlich mitnichten vergleichbar mit dem was jetzt auf Sie zukommt. Und Sie waren immer ein Mann der Exekutive und nicht der Partei, Herr Walter-Borjans. Deswegen stelle ich da die Eignung klar in Frage. Und außerdem geht es einher mit einem klaren Linksruck innerhalb der SPD. Das mag sich dann ganz gut anfühlen, aber es sitzen bei Ihnen auch ganz viele auf gepackten Koffern. Und ich hab in den letzten 24 Stunden auch viel mit Leuten aus der Fraktion telefoniert, da ist tatsächlich immer noch blankes Entsetzen und es gibt auch Leute, die sagen: Okay, wenn wir uns dafür entscheiden, einen quasi eher links-sektiererischen Weg einzuschlagen, dann habe ich in dieser Partei nichts mehr verloren."
Können die SPD-Vorsitz?
Und was wird aus der GroKo? Um diese beiden Fragen dreht sich die Debatte nach dem Wahlerfolg von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Letzterer stammt aus dem mitgliederstarken SPD-Landesverband Nordrhein-Westfalen. Dort, im Westen, räumte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet von der CDU am Morgen nach der Verkündung des Ergebnisses im Deutschlandfunk ein, dass er im ersten Moment auch überrascht gewesen sei, als die Beiden das Rennen gemacht hatten, dass aber, andererseits - bei genauerem Hinsehen - auch einiges für das Duo gesprochen habe:
"Wenn man sich im Land Nordrhein-Westfalen umgehört hat – wo die meisten SPD-Mitglieder leben –, dann konnte man nicht so überrascht sein, denn das war in vielen Gesprächen schon im Vorfeld zu spüren. Und immer, wenn ich nach Berlin kam, hörte ich glatt das Gegenteil. Also, in Berlin hat, glaube ich, von den politischen Akteuren, auch den Journalisten, kaum jemand das für möglich gehalten. Das zeigt mir manchmal, wie weit die Wahrnehmung doch weg ist von dem, was an der Basis passiert."
Nordrhein-Westfalen gilt als die Herzkammer der Sozialdemokratie, ist die politische Heimat des männlichen Teils der künftigen SPD-Spitze. Und NRW, Deutschlands mit Abstand bevölkerungsreichstes Bundesland, war in der Frage der SPD-Führung wohl ein ausschlaggebender Faktor. Kein Zufall war auch, dass in NRW eine der ersten roten Karten in die Höhe gehalten wurde, als es um die Frage ging: Koalitionsvertrag der GroKo nachverhandeln oder nicht? Der CDU-Mann und nordrhein-westfälische Ministerpräsident, Armin Laschet, schob allen Wünschen der designierten SPD-Spitze umgehend einen Riegel vor – ihm werden Ambitionen im Bund nachgesagt, aber ein Scheitern der GroKo bereits jetzt, käme ihm nicht zupass. Und so bremste Laschet den Elan der Sozialdemokraten:
"Der Koalitionsvertrag gilt. Und der Koalitionsvertrag beschreibt für eine Legislaturperiode, für vier Jahre, welche Themen man gemeinsam bearbeiten will, wo es Gemeinsamkeiten gibt. Und der ist verhandelt worden – ich war ja in Teilen mit dabei – in vielen Tag und Nächten, wo viele, viele Kompromisse gemacht wurden, sodass am Ende ein gutes Werk auf dem Tisch lag. Und das ist in jeder Regierung in ganz Deutschland, der gilt bis zum Ende der Periode. Und man kann jetzt nicht nur, weil Parteivorsitzende wechseln, den Koalitionsvertrag neu machen."
Stattdessen, so Laschet, solle sich die Große Koalition im Bund aufs Arbeiten und die Inhalte konzentrieren, statt auf Spekulationen rund um ihr vorzeitiges Ableben:
"Na ja, man kommt aus der Defensive in Berlin, wenn man gute Arbeit leistet, wenn man ein paar Dinge bewegt, die für die Bürger wichtig sind. Ich denke, wenn dieses Klimapaket jetzt beschlossen wird, wird man erkennen, dass das seine Wirkung erzielt. Wir haben viele andere Themen, die jetzt gerade in Berlin erörtert werden. Wir haben das Thema der Grundrente gehabt, das gelöst worden ist. Also, ich glaube, wenn man Probleme löst, steigen Umfragen. Und wenn man streitet und wenn man jetzt tatsächlich beginnen würde Koalitionsverträge wieder neu zu verhandeln, ich glaube, dann wird die Wahrnehmung der Großen Koalition noch schlechter."
Starker Rückhalt aus dem Landesverband NRW
Der Christdemokrat Laschet ist stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU, Walter-Borjans nun designierter Chef der Sozialdemokraten: Zwei Antipode in der GroKo-Frage, zwei Männer aus dem Westen, die zu Anfang des Jahres vermutlich wenige auf dem Zettel hatten, wenn es um Zukunftsfragen der Bundesrepublik ging. Der eine, Laschet, CDU, hat Interesse am Fortbestand der Großen Koalition im Bund. Der andere, Walter-Borjans, SPD, sägt nun an der GroKo.
Die Sülzburgstraße in Köln. Es ist der 1. September, der Tag an dem die Bewerbungsphase für den SPD-Vorsitz endet. Norbert Walter-Borjans steht – zu diesem Zeitpunkt nahezu unerkannt – auf dem Straßenfest im Kölner Stadtteil Sülz. Die Menschen schieben sich vorbei an einem Karussell, am Stand für gebrannte Mandeln oder Fan-Utensilien des 1. FC Köln. Für das Interview mit dem Deutschlandfunk steht Walter-Borjans ein wenig abseits, hinter dem Zelt, in dem ein paar Sozialdemokraten Kugelschreiber und Flyer verteilen. Er blickt in diesem Moment auf turbulente 36 Stunden zurück, denn kurz zuvor hatte ihn der NRW-Landesverband der SPD offiziell für das Rennen um den Parteivorsitz nominiert:
"Den Reaktionen, die dann danach kamen, vor allen Dingen von Jüngeren, sowohl aus dem Bundestag, aus dem Landtag, von den Jusos, auch von Nicht-Parteimitgliedern. Ich habe gesagt, von Menschen, die der SPD nahestehen, aber auch von Menschen, die ihr gerne wieder nahestehen möchten, da empfindet man dann schon eine Verantwortung, allerdings auch einen Reiz und das mündet jetzt langsam in Leidenschaft."
An diesem Tag eins seines offiziellen Wahlkampfes wirkte Norbert Walter-Borjans bereits zuversichtlich. Ihm war bewusst, was viele in der Hauptstadt Berlin aus dem Blick verloren hatten: Der SPD-Landesverband Nordrhein-Westfalen hatte ihn und Saskia Esken offiziell nominiert. Ein starker Rückhalt.
Selbstverständlich war das nicht, denn zwei weitere Kandidatenduos mit NRW-Wurzeln waren bundesweit an den Start gegangen: Die ehemalige NRW-Familienministerin Christina Kampmann an der Seite von Staatsminister Michael Roth, sowie der damalige SPD-Bundestags-Fraktionsvize Karl Lauterbach mit der Berliner Bundestagsabgeordneten Nina Scheer. Aber die offizielle Nominierung durch den NRW-Landesverband erhielten am Ende nur Walter-Borjans und Esken. Auch und gerade, weil sie Spätstarter waren und damit recht unverbraucht in den Bewerbungs-Marathon einstiegen.
Sebastian Hartmann, SPD-Bundestagsabgeordneter und Landeschef in NRW, war jedenfalls zufrieden mit seiner Truppe, so viel Auswahl war nie, meinte er: "Ich bin, als Vorsitzender der nordrhein-westfälischen SPD stolz darauf, dass wir so gute Angebote an die Mitgliedschaft machen können mit nordrhein-westfälischer Beteiligung."
Doch bei den NRW-Mitstreitern kam die Überraschungs-Nominierung durch die Landesverbandsspitze weniger gut an.
Karl Lauterbach etwa sagte: "Man muss mit Worten wir 'abgekartet' vorsichtig sein, aber es macht natürlich hier den Eindruck als wenn der Landesvorstand am letzten Tag der Bewerbungsfrist sich einen eigenen Kandidaten backt, der dann auch sagt, ich mach‘s nur, wenn der Landesvorstand mich vorschlägt."
SPD-Landeschef, Sebastian Hartmann, begegnete dieser Kritik so: "Natürlich haben wir als Landesverband das diskutiert und gesagt: Ja, das ist ein Team, wo wir sagen: Das kann die Partei führen."
Neuanfang außerhalb des Groko-Establishments
Walter-Borjans und Esken konnten also nicht zuletzt im Duell mit Bundesfinanzminister Scholz und Klara Geywitz, damit werben, dass der mächtige NRW-Landesverband hinter ihnen stehe. Rund 105.000 der insgesamt circa 420.000 SPD-Mitglieder wohnen an Rhein und Ruhr. Der NRW-Landesverband stellt damit fast ein Viertel der Genossinnen und Genossen. Inhaltlich ist der Verband zwar nicht immer geeint, aber die Kritik an der Großen Koalition, für die das Duo Walter-Borjans-Esken steht, teilen starke Player wie der SPD-Fraktionschef im Düsseldorfer Landtag, Thomas Kutschaty. Und dann waren da noch die Jusos, die Jugendorganisation der SPD um deren Vorsitzender Kevin Kühnert, 80.000-Mitglieder-stark, die das Duo ebenfalls zu ihren Kandidaten machte.
Auf dem Straßenfest in Köln-Sülz, mitten im Wahlkampf um die SPD-Spitze, zieht Walter-Borjans bereits von Anfang an die Karte "Glaubwürdigkeit": Das Duo, sein Duo, stehe – obwohl er Ex-Minister in NRW und sie Bundestagsabgeordnete – für einen Neuanfang außerhalb des Groko-Establishments:
"Also, Saskia Esken und ich haben uns in den letzten Wochen intensiv sehr viel unterhalten und das Schöne ist ja, dass sie auch eine Person ist, die auf eine andere Art genauso mit Standfestigkeit verbunden wird, wie das bei mir im Zusammenhang mit Steuer-CDs oder mit dem Abkommen mit der Schweiz, dem damals geplanten, gesehen wird. Ein Grund des Zuspruchs für uns kommt daher, dass die Leute uns sagen: Ihr habt da was gemacht. Also ihr seid nicht die, die irgendeinen Text schreiben und jetzt wieder ein Programm anbieten, sondern von denen wir was wissen."
Bei Esken war es der Protest gegen die Einführung der so genannten Upload-Filter, die als Artikel 13 in der Diskussion um die EU-Urheberrechtsreform Schlagzeilen machte. Als Walter-Borjans Markenzeichen gelten der Aufkauf von Steuer-CDs und die Jagd auf Steuersünder. Für einige Millionen Euro hatte er als NRW-Finanzminister mit dem Aufkauf von Daten – vor allem aus der Schweiz – Milliardensummen für den Fiskus generiert. "Robin Hood", hatte ihn die Opposition getauft. Als Schimpfwort gedacht, wurde dies zum Ritterschlag, auf dem sich Walter-Borjans sein Image aufbaute. Später – im Ruhestand – schrieb er ein Buch mit dem Titel "Steuern – der große Bluff" und ging auf Lese-Reise damit. Tuchfühlung mit der Basis, von der der designierte SPD-Chef im Wahlkampf sagte:
"Und insofern ist das erste Mal, was wir machen, uns so zu geben, wie wir sind. Also, ich muss jetzt nicht anfangen, das Programm zu dichten, von dem ich glaube, dass es Menschen erreichen kann, sondern die Erfahrung der letzten Monate bei mir war, dass sie einfach auch unterstützen, was ich gemacht habe und was ich auch weitermachen möchte."
Sogar die Geschichten von vier verfassungswidrigen Haushalten, die er in NRW als Finanzminister unter SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft vorgelegt hatte und die der damalige FDP-Fraktionsvorsitzende in NRW und heutige FDP-Chef Christian Lindner publikumswirksam geißelte.
"143 Milliarden Euro Schuldenstand. Das ist die Schlussbilanz des Kabinetts Kraftikakis. Griechische Verhältnisse am Rhein."
Selbst diese Kritik perlt an der Person Walter-Borjans ab. Ein Pluspunkt in Zeiten, in denen immer mehr Ökonomen mehr Investitionen fordern und sich sein Zielpublikum in der SPD nach einer Abkehr von der "schwarzen Null" sehnt. Zu guter Letzt trug vermutlich zum Wahlerfolg auch bei, dass das Duo Esken/Walter-Borjans wohl am ehesten auf Augenhöhe agierte: Prominenz hin oder her, der Ex-Minister ließ seiner Mitstreiterin bei den Besuchen an der Basis häufig den Vortritt:
"Ich hab ihm digitalen Raum eine starke Wahrnehmung. Herr Borjans hat in der aktiven Politik als Finanzminister mit seiner Buchpräsentation natürlich auch. Und jetzt wollen wir gemeinsam für die SPD stehen und das kriegen wir auch gut gemeinsam hin."
"Ich habe nicht den Eindruck, dass auf diesem Tandem einer den Lenker in der Hand hat und der andere nur strampeln darf."
Jetzt also wollen sich beide gemeinsam für die SPD abstrampeln: Erst geht es zum Parteitag, der sie ins Amt wählen soll, und zu dem sie mit einem Leitantrag reisen, in dem - überraschenderweise - die Frage, ob die Große Koalition weitergeführt oder beendet werden solle, nicht im Vordergrund steht. Entscheidend sei, so heißt es da, ob - Zitat - "wir jetzt mit CDU und CSU die Weichen richtig stellen können – oder eben nicht". In der Öffentlichkeit ist das für viele bereits ein Umfallen des designierten Vorsitzenden-Paares. Doch, ob es letztendlich ein "Nachverhandeln" oder nur "Gespräche" geben soll, die neue SPD-Spitze möchte mehr Investitionen, die Abkehr von der "Schwarzen" Null. Dazu: Klimaschutz. Und Digitalisierung. Das "Aus für die GroKo" schwebt dennoch als Szenario weiter über der Szene.
Lage der Union keineswegs bequemer als die der SPD
Juso-Chef Kevin Kühnert stellte im Interview mit der "Rheinischen Post" jedenfalls klar, dass man abwägen müsse zwischen "nachverhandeln" innerhalb der GroKo und dem Vertrauensverlust, den gerade junge Menschen gegenüber der Politik hätten. Dennoch: Aus Sicht des Gro-Ko-Partners Union ist klar. Mindestlohn-Erhöhungen oder weitreichenden Nachbesserungen beim Klima-Paket kommen nicht infrage. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet im Gespräch mit dem "Deutschlandfunk":
"Na ja - nichts davon gibt es. Das Klimapaket hat gerade der Bundesrat, am Freitag, beschlossen. Das geht jetzt nochmal in einen Vermittlungsausschuss. Die SPD-regierten Länder haben gesagt, möglichst wenig daran verändern, denn es ist ein guter Kompromiss‘, und ich kann mir nicht vorstellen, dass jetzt auch die SPD-Führung in Berlin, die Abgeordneten in Berlin Lust haben, jetzt mit Walter-Borjans und Frau Esken noch mal neu die Klimapolitik zu diskutieren."
Denn die Lage der Union in der Großen Koalition ist keineswegs bequemer als die der SPD. In der Union schwelt die Machtfrage, die Zeit nach der Großen Koalition und das mutmaßliche Ende der Ära Merkel beschäftigen Christdemokraten und -Christsoziale. Die CDU-Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer hat – angesichts niedriger, persönlicher Beliebtheitswerte – aktuell kein Interesse an Neuwahlen; ihr Konkurrent, Friedrich Merz, brachte zuletzt eine Minderheitsregierung ins Spiel und Armin Laschet, der CDU-Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, der von vielen als der lachende Dritte ins Spiel gebracht wird, läuft sich zwar auf dem internationalen Parkett zunehmend warm und hält seinen Namen im Inland im Spiel, aber Laschet setzt zunächst auf Fortbestand der Großen Koalition in Berlin. Das hat auch inhaltliche Gründe, Chaos in Berlin kann das Kohleland NRW, das auf Milliarden-Fördergelder hofft, gerade nicht gebrauchen:
"Meine Erwartung ist, auch als Ministerpräsident, dass sie ihre Arbeit macht und dass sie bis zum Ende der Wahlperiode das erledigt, was viele von ihr erwarten. Wir stehen mitten in dem Kohleausstieg. Die ersten Entwürfe sind da, es ist vom Kabinett noch nicht beschlossen, Bundestag und Bundesrat habe es noch gar nicht beschlossen. Tausende Beschäftigte erwarten hier eine klare Antwort, die Industrie braucht Investitionssicherheit. Und in so einer Phase, die unsere Volkswirtschaft unmittelbar betrifft, einfach Neuwahlen zu machen, ist unverantwortlich."
Laschet hat aber nicht nur inhaltliche Gründe, wenn er auf die Bremse tritt und die SPD vor dem großen Knall warnt. Im Mai 2017 war er recht überraschend an die Spitze Nordrhein-Westfalens gewählt worden und er hat gerade einmal die Hälfte der ersten Legislaturperiode hinter sich. Bei einem Griff nach der Macht in Berlin mit ungewissem Ausgang, müsste er das Amt an Rhein und Ruhr wohl aufgeben. Ein zu früher Zeitpunkt. Auch deshalb will der CDU-Ministerpräsident aus Nordrhein-Westfalen jetzt keinen Zoff herbeireden:
"Jetzt warten wir erst mal ab, was für Angriffe kommen und dann werden die Richtigen auch antworten."
Der CDU-Mann Laschet aus NRW spielt auf Zeit, der designierte SPD-Chef Walter-Borjans aus NRW steht in der GroKo-Frage unter Druck. Wie es weitergeht, wird nun der Parteitag der Sozialdemokraten zeigen – und dabei wohl auch die Risse innerhalb der Partei sichtbar machen.