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SPD-Vorsitzende auf Sommertour
Nahles will näher ran

SPD-Chefin Andrea Nahles ist neugierig: Auf ihrer Sommertour sucht sie den Kontakt mit Bürgern und potentiellen Wählern, um sich aus der Nähe anzuschauen, was sie beschäftigt und besorgt. Ganz vorne dabei sind zwei große Themen: Digitale Bildung und Luxussanierungen von Mietwohnungen.

Von Frank Capellan |
    Hessen, Frankfurt am Main: Andrea Nahles (M), SPD-Vorsitzende, schaut zu Mieter Thomas Ekoos-Heinzelmann, der seine Situation schildert. Nahles besucht im Rahmen ihrer Sommerreise auch Hessen. Die SPD Vorsitzende spricht in der Mainmetropole mit Mietern im Stadtteil Ostend, die sich seit fünf Jahren gegen die Gentrifizierung wehren.
    Kaffee und Kuchen: SPD-Chefin Andrea Nahles bei Mietern in Frankfurt, die sich gegen Gentrifizierung wehren (dpa)
    "So jetzt einfach reinwerfen! Ich muss näher ran!"
    Andrea Nahles packt der Ehrgeiz, jetzt endlich mal einen Korb machen! Sie kurbelt an den Rädern ihres Rollstuhls, dreht nach links, dann vorwärts. Nahles packt den Ball - und … Versenkt! Treffer! Nahles ist zu Gast beim RSV Lahn-Dill im hessischen Wetzlar. Der Verein ist eine Bank im Rollstuhl-Basketball. Viele Spieler sind in der Nationalmannschaft und bereiten sich gerade auf die WM vor.
    Die Parteichefin kann aber heute erst einmal erfahren, was gelebte Inklusion bedeutet, denn auch Nichtbehinderte dürfen mit aufs Feld, sie nutzen den Rollstuhl als Sportgerät, nicht als Hilfsmittel. Für Nahles und ihr Team SPD Bund stehen einige der wendigen Stühle bereit - für die 48-Jährige eine ganz neue Erfahrung.
    SPD-Chefin Andrea Nahles sitzt in einem Rollstuhl und spielt Rollstuhl-Basketball beim Verein RSV Lahn-Dill.
    Lehrstunde im Rollstuhl-Basketball: Andrea Nahles beim RSV Lahn-Dill (Deutschlandradio / Frank Capellan)
    "Der Rollstuhl, da war ich von mir selber überrascht, wie ich das konnte. Das Werfen hingegen war viel schwieriger als ich es kenne, auch vom Spiel mit meiner Tochter!"
    Mit Kindern den Stromkreis schließen
    Erkenntnisgewinne, Sinn einer Sommerreise. Los geht es damit am Morgen in der Haba-Digitalwerkstatt in Frankfurt. Ein Hersteller von Holzspielzeug puscht die Digitalisierung. Spielerisch lernen sechs bis zwölfjährige in Workshops und Ferienkursen, wie ein Stromkreis funktioniert, was ein Algorithmus ist oder wie ein kleiner Roboter programmiert wird.
    "Wie lange habt Ihr denn dafür gebraucht?" "Ungefähr zwei Stunden." "Uii, das ist ja ziemlich gut!"
    Zwei Zehnjährige setzen stolz ihre Mini-Wägelchen zu Füßen der früheren Arbeitsministerin in Bewegung. Alles klappt wie am Schnürchen, die beiden sind erleichtert, schließlich wissen sie, mit wem sie es da zu tun haben.
    "Ich hab sie im Fernsehen gesehen und die haben uns schon gesagt, dass sie kommt!"
    "Stromkreis schließen, bitte."
    Dann wird die Arbeiterführerin geerdet. Die Kinder fassen sich an den Händen, schließen einen Stromkreis, bringen ein elektronisches Klavier zum Spielen. Nahles ist zuständig für die Erdung.
    Nahles schimpft, als habe sie nie mitregiert
    Digitale Bildung, Neuland für die meisten Schulen, klagt Jessica Cafaro, Leiterin des Projekts. Was die Kinder hier privat lernen können, findet im Unterricht doch gar nicht statt.
    "Es kommt nicht nur zu kurz, es kommt gar nicht an. Außer an Schulen, die Budgets haben, das ist deren Ansporn, die wollen digitaler werden. Aber ganz normale öffentliche Schulen haben einfach kein Budget. Andra Nahles: "Die ganze letzte Legislaturperiode wurde vergeigt. Und das kann man auch mit Namen und Adresse benennen. Nämlich das Bundesbildungsministerium hat das nicht hingekriegt!"
    Andrea Nahles schimpft los als habe sie nie mitregiert. 2,4 Milliarden wurden für den Digitalpakt bereitgestellt, doch noch kommt das Geld nirgends an. Sie erzählt von ihrer siebenjährigen Tochter, Zweitklässlerin in einer Eifel-Grundschule. Nahles erlebt die Vorbehalte gegenüber der Digitalisierung ganz persönlich: "Viele entwickeln Debatten darüber, wann man ein Whiteboard in der Grundschule einsetzt. Ja, Entschuldigung. Möglichst bald und möglichst überall. In dieser Legislaturperiode muss der Turnaround an den deutschen Schulen bei der Digitalen Bildung kommen."
    Vieles muss sich ändern, zum Guten. Auch und gerade für die SPD. Das ist ihre Mission. Eine halbe Stunde später besucht die Vorsitzende eine Mietwohnung im Frankfurter Ostend. Ein Baugerüst steht draußen vor dem Balkon. An den Fenstern hängen Schilder "Wir bleiben!"
    Besuch bei besorgten Mietern
    "Sie sind in Miete seit 59 Jahren hier? Ja! Dann setzen wir uns doch mal hin, damit wir mal reden können. Soweit Plätze da sind."
    Die 83-jährige Marianne Ried soll weichen, so wie viele Bewohner der Wingertstraße. Die alte Dame hat Kaffee gekocht und viel Kuchen besorgt. Das Haus, in dem sie so lange wohnt, wird zwangsmodernisiert, sagt sie. Spekulanten haben es gekauft, bauen um und wollen dann die Wohnungen mit großem Gewinn wieder verkaufen. Die Altmieter sind die Dummen. Die wollen uns rausekeln, erzählt Almuth Meyer von der örtlichen Bürgerinitiative, ganz subtil.
    "Immer wieder Heizungsausfälle, dann mal zwei Wochen kein Telefon. Dann kein Heißwasser. Aber die Nachbarn gegenüber, die wissen schon Bescheid, wenn ich wieder anrufe und sage: Uschi, kann ich mal bei Dir duschen? Ei sicher, bring die anderen mit."
    Nahles lacht, aber sie weiß, dass sie gerade ein akutes Gesellschaftsproblem besichtigt. Von Gentrifizierung spricht die Politik. Ganze Stadteile verändern sich, ältere Menschen oder Geringverdiener müssen gehen, weil sie sich das Wohnen in sanierten Luxushäusern gar nicht mehr leisten können.
    Almuth Meyer: "Die Formulierung war, sie hätten noch jeden rausgekriegt und wenn es sein muss, auch in drei Monaten. Wir bräuchten gar nicht erst mit Mieterschutz oder mit Rechtsanwalt zu kommen!"
    Andrea Nahles, SPD-Vorsitzende, sitzt mit Mietern in Hessen am Tisch bei Kaffee und Kuchen.
    Ein Stück Kuchen bitte: Nahles spricht mit Mietern, deren Wohnungen luxussaniert werden sollen, über deren Sorgen (Deutschlandradio / Frank Capellan)
    Wieder packt sie der Ehrgeiz. Ist es nicht die sozialdemokratische Verbraucherschutzministerin, die sich einen besseren Mieterschutz auf die Fahnen geschrieben hat? Nahles spricht über die Modernisierungsumlage, die Eigentümer sollen nach dem Umbau weniger auf die Miete draufschlagen dürfen, eine Obergrenze ist in Planung.
    "Als Fraktionsvorsitzende habe ich viel zu tun, dass wir das durchkriegen. Und wir können bundespolitisch einiges machen. Steuerpolitisch sowieso!"
    Wohnungsnot: Pflichtthema für die SPD
    Frau Ried hört zu, gibt es doch noch Hoffnung, dass sie weiter hier wohnen kann? Die oberste Sozialdemokratin rennt hier jedenfalls offene Türen ein, wird freundlich aufgenommen, noch einen Kaffee? Nahles winkt ab, zu heiß.
    "Nee Leute, ein Wasser wäre mir wirklich lieber!"
    Wenn die SPD mit einem Thema punkten möchte, dann mit diesem. Wohnungsnot und -missstände bekämpfen, das ist sozialdemokratische Pflicht.
    Arijana Neumann hat die Vorsitzende hier hin geholt. Sie arbeitet für den Frankfurter OB, kennt die Probleme, kandidiert gerade für den hessischen Landtag: "Wir haben ja eine Oberbürgermeisterwahl vor ein paar Wochen gewonnen, mit 70 Prozent, obwohl die SPD im Bund bei 17 Prozent liegt. Also irgendwas machen wir richtig. Und das möchte ich jetzt im Landtagswahlkampf fortsetzen. Mir macht das viel Spaß. Mir muss niemand sagen, dass ich rausgehen muss. Ich mache das seit vielen Jahren und ich mache das gerne!"
    Wir müssen rausgehen, dahin, wo es brodelt, wo es riecht und gelegentlich auch stinkt, hatte Vorgänger Sigmar Gabriel vor fast zehn Jahren gefordert. Doch der Abstieg der deutschen Sozialdemokratie ging weiter. Auf den Ex-SPD-Chef ist Nahles nicht mehr gut zu sprechen, seine markige Ankündigung aber will sie sich wieder zu Herzen nehmen: "Wenn wir die Stimme für die Alltagssorgen der Leute werden und sie uns zutrauen, dass wir was tun für sie, dann ist das genau richtig!"