An dem Gerechtigkeitswahlkampf, den der designierte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz angekündigt hat, sei "eigentlich nicht viel Neues", sagte Stephan Lessenich, Soziologe an der Ludwig-Maximilian-Universität München, im Deutschlandfunk. "Jedenfalls nicht so lange die SPD nicht genauer bestimmt, was sie denn unter Gerechtigkeit versteht." Denn mittlerweile hätten sich alle Parteien dieses Thema auf die Fahne geschrieben, weil auch die "Verteilungs-Ungleichheit" deutlich zugenommen habe, gab der Soziologe zu bedenken.
Spreche man über die SPD, müsse man auch über die Agenda 2010 sprechen, betonte Lessenich. Infolge dieser Reform hätten sich die Lebensverhältnisse für viele Menschen geändert. "Und die Sozialdemokratie steht hinter der Verunsicherung von Milieus in dieser Gesellschaft." Dass die Parteien aber die untere Mittelschicht in den vergangenen Jahren gar nicht mehr im Auge gehabt hätten, könne man so allgemein nicht behaupten.
Schulz ist als Person unbelastet
Schulz habe den Vorteil, dass er "neu ins Spiel einsteigt" und nicht vorher Teil von innen- oder regierungspolitischen Auseinandersetzungen gewesen sei, erklärte Lessenich. "Von daher kann er als Person relativ unbelastet ins Spiel gehen, aber natürlich nicht als Parteivertreter." Seine strategischen Möglichkeiten seien zwar etwas größer als die, die Sigmar Gabriel gehabt hätte, so der Soziologe. Aber Schulz stehe nicht für eine linke sozialdemokratische Position und werde sich letztlich kaum von den Positionen der Agenda 2010 entfernen. Das Zitat "Hart arbeiten und nach den Regeln spielen" von Schulz klinge nicht nach einer deutlichen Veränderung der Programmatik.
Es könne aber sein, dass sich unter Schulz die Möglichkeiten für Rot-Rot-Grün durch eine Annäherung der Parteien tendenziell verbesserten. Rein wahlpolitisch werde sich das aber wahrscheinlich nicht realisieren lassen.
Das Interview in voller Länge:
Stephanie Rohde: Morgen trifft sich die SPD, um Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten zu küren, und dann wird er auch eine programmatische Rede halten. Kann die SPD mit diesem Gerechtigkeitswahlkampf, den Martin Schulz da kurz zitiert hat oder skizziert hat, mehr Wähler an sich binden, und wie müssen anderen Parteien jetzt aufstellen. Darüber möchte ich sprechen mit Stephan Lessenich, er ist Soziologe an der Ludwig-Maximilian-Universität in München und Mitglied im Thinktank Institut Solidarische Moderne, in dem sich Grüne, SPD und Linkspartei zu Dialogveranstaltungen treffen. Guten Morgen, Herr Lessenich!
Stephan Lessenich: Guten Morgen, Frau Rohde!
"Der Sozialdemokratie bleibt gar nichts anderes übrig, als auf Gerechtigkeit zu setzen"
Rohde: Martin Schulz hat einen Gerechtigkeitswahlkampf angekündigt. Sigmar Gabriel redet ja seit Jahren von nichts anderem, also was ist neu daran?
Lessenich: Es ist eigentlich nicht viel neu daran, muss man sagen, jedenfalls nicht solange die SPD nicht genauer bestimmt, was sie denn unter Gerechtigkeit versteht, weil mittlerweile können sich ja, glaube ich, alle Parteien, die im Bundestag vertreten sind, auf eine entsprechende Gerechtigkeitsagenda, wenn man sie nur ganz abstrakt benennt, einigen, und der Sozialdemokratie bleibt natürlich gar nichts anderes übrig, als auch auf Gerechtigkeit zu setzen. Es gibt einfach ein breites Klima in der Gesellschaft, dass die Verteilungsungleichheit übermäßig zugenommen hat – selbst gestandene Ökonomen und ökonomische Institute sagen das –, und im Grunde genommen ist da die Sozialdemokratie ja nicht an der Spitze der Bewegung, sondern springt jetzt auf einen fahrenden Zug auf.
Rohde: Parteienforscher wie Elmar Wiesendahl beispielsweise, die sprechen davon, dass Parteien, unter anderem auch die SPD, diese soziale Ungerechtigkeit, die Sie da gerade angedeutet haben, noch verfestigt haben und sich gar nicht um die Abgehängten gekümmert haben. Würden Sie dem zustimmen?
Lessenich: Na ja, das ist jetzt mittlerweile ein Deutungskonsens, der sich eingestellt hat in der Sozialwissenschaft, wie Sie zitieren, aber auch in der öffentlichen Meinung, dass, kollektiv von allen Parteien, die sozial Abgehängten nicht mehr im Blick gewesen seien und man sich deshalb eben radikal umorientieren müsse. Das ist, glaube ich, nur teilweise richtig. Also selbstverständlich gerade wenn man über die SPD spricht, dann muss man über die Agenda 2010 sprechen und mit der Reform des Arbeitslosensicherungsregimes und der Abkehr von der Lebensstandardsicherung und der Möglichkeit, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit doch deutliche Einkommenseinbußen hinzunehmen, haben sich natürlich für viele Leute die Verhältnisse verändert, und die Sozialdemokratie steht hinter der Verunsicherung von Milieus in dieser Gesellschaft, aber dass die Parteien in Gänze die unteren Mittelschichten beispielsweise nicht mehr im Auge gehabt hätten, kann man, glaube ich, so allgemein nicht behaupten.
"Schulz kann als Person relativ unbelastet ins Spiel gehen"
Rohde: Martin Schulz ist ja noch nie als Kritiker dieser Politik der Agenda 2010 aufgefallen. Wie glaubwürdig wird er denn jetzt einen neuen Kurs verkaufen können?
Lessenich: Na ja, einerseits hat er tatsächlich den Vorteil, dass er jetzt neu ins Spiel einsteigt und nicht vorher Teil von innenpolitischen Auseinandersetzungen oder auch von regierungspolitischen Konflikten war. Von daher kann er als Person relativ unbelastet ins Spiel gehen, aber natürlich nicht als Parteivertreter. In der SPD sind da natürlich die Fronten auch abgesteckt, und insgesamt steht er ja jetzt nicht für eine eher linke sozialdemokratische Position. Von daher glaube ich, dass einerseits seine strategischen Möglichkeiten etwas größer sind als die, die Sigmar Gabriel gehabt hätte, aber letztlich glaube ich, die Bewegung hin zu Positionen, die sich auch von der Agenda 2010 entfernen, wird wahrscheinlich gering sein, und wenn wir gerade das Zitat gehört haben, hart arbeiten und nach den Regeln spielen, das klingt jetzt nicht nach einer deutlichen Veränderung der Programmatik.
Rohde: Sie sind ja in einer Denkfabrik, Institut Solidarische Moderne, wo sich Grüne, SPD und Linkspartei treffen zu Dialogveranstaltungen. Haben Sie mit Martin Schulz jetzt mehr Hoffnungen, dass es eine Option auf Rot-Rot-Grün gibt?
Lessenich: Ja, wie schon angedeutet, da seine Spielräume womöglich etwas größer sind als von Spielern, die jetzt schon lange mit dabei waren innenpolitisch, könnte es sein, dass durch seine Wahl zum Spitzenkandidaten tatsächlich sich die Möglichkeiten für Rot-Rot-Grün tendenziell etwas verbessern und nach der Bundestagswahl …
Wahrscheinlichkeit einer linken Regierung eher gering
Rohde: Obwohl die Umfragen nicht gut aussehen.
Lessenich: Ja, jetzt erst mal, was jetzt eine potentielle Einigung der drei Parteien auf ein Regierungsprogramm angehen könnte. Ich glaube auch, dass rein wahlpolitisch das wahrscheinlich nicht sich realisieren wird, aber ich glaube, die Möglichkeiten, eine entsprechende Annäherung der Parteien zu organisieren, steigen wahrscheinlich. Wie angedeutet, würde ich aber sagen, selbst wenn eine Linksregierung erst mal auf dem Papier wahrscheinlicher werden könnte, ist die Wahrscheinlichkeit einer linken Regierung, die tatsächlich beispielsweise von der Agendaprogrammatik deutlich sich absetzt und in eine andere Richtung geht, die Möglichkeiten sehe ich als eher beschränkt.
Rohde: Und hinzukommt ja auch noch, dass die Spitzenkandidaten der Grünen, Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt, Signale der Offenheit an die CDU gesendet haben. Ist das eine richtige Strategie, um möglicherweise auf Martin Schulz zu reagieren?
Lessenich: Na ja, für jede Partei ist es wahrscheinlich, wenn sie sich alleine die richtige Strategie, sich nach alle Richtungen offenzuhalten und nicht schon einseitige Festlegung vorzunehmen, was die Grünen angeht, und was die Gerechtigkeitsfrage angeht, ist ja schon mal bemerkenswert, dass gerade Katrin Göring-Eckardt sich beeilt hat zu sagen, dass die Vermögensfrage, Vermögenssteuer nicht zum zentralen Programmfeld der Grünen gehört und gegebenenfalls auch hinten angestellt werden kann für die nächste Regierungsperiode. Also insofern ist es für die Grünen strategisch vermutlich einerseits sinnvoll, auch Distanz zur SPD zu wahren, aber auch inhaltlich glaube ich, dass mit den Grünen jetzt ein verschärfter Gerechtigkeitskurs jenseits von einer Anpassung von Einkommenssteuersätzen wahrscheinlich auch nicht möglich sein wird.
Rohde: Schauen wir noch auf die Linken, die haben sich relativ verhalten geäußert gegenüber Martin Schulz, aber Sahra Wagenknecht hat einen interessanten Satz gesagt in der vergangenen Woche. Sie hat gesagt, ich werde die Türe nicht zuschlagen. Ist das schon eine Annäherung an die SPD?
Lessenich: Na ja, Sahra Wagenknecht sagt viele interessante Dinge in den letzten Wochen. Sie wird die Tür nicht zuschlagen spricht einerseits für eine starke Personalisierung. Darauf hat sich aber die Linkspartei ja wohl auch geeinigt, dass sie insbesondere Sahra Wagenknecht in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfs stellen möchte, und da hören wir ja zwar auch eine Gerechtigkeitsprogrammatik raus bei ihr, aber eine, die ganz stark nationale Züge trägt, also die national Abgehängten in den Blick zu nehmen und Parteipolitik für sie zu machen, und das hat natürlich auch gerade bei Frau Wagenknecht stark ausgrenzende Züge. Also ihre Positionierungen in der Flüchtlingsfrage sprechen nicht dafür, dass das eine universalistische Gerechtigkeitsprogrammatik werden wird.
Rohde: Sagt der Soziologe Stephan Lessenich. Vielen Dank für das Gespräch hier im Deutschlandfunk heute Morgen!
Lessenich: Ja, ich bedanke mich bei Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.