Ann-Kathrin Büüsker: Wo will die SPD nun hin? – Fragen wir nach bei Matthias Miersch, Mitglied im SPD-Parteivorstand, Sprecher der Parlamentarischen Linken, des linken Flügels der SPD. Guten Morgen, Herr Miersch.
Matthias Miersch: Guten Morgen, Frau Büüsker.
Büüsker: Gerechtigkeit, Zukunft, Europa – das sind ja die drei großen Schlagworte, die Martin Schulz als Prämisse für sein Programm herausgegeben hat. Ich hätte von Ihnen gerne zu Beginn unseres Gespräches eine Definition. Herr Miersch, wie definiert die SPD Gerechtigkeit?
Miersch: Ich glaube, es muss rauskommen, dass jeder seinen Anteil an dem Zusammenhalt der zukünftigen Gesellschaft hat, und zwar einen Anteil, der nach seiner Leistungsfähigkeit geht. Daran kann man vieles festmachen, beispielsweise wer ist zuständig, wenn es um das große Thema soziale Sicherheit, beispielsweise Zukunft der Krankenversicherung geht. Wer bringt welchen Anteil, wenn es um das große Zukunftsthema Bildung geht, wer bringt welchen Anteil, wenn es um das große Thema Infrastruktur, digitalen Ausbau etc. geht. Und daran kann man es festmachen und da merken wir augenblicklich, dass diese Gesellschaft auseinanderdriftet. Deswegen brauchen wir Rahmenbedingungen des Staates, die diese Gesellschaft zusammenhalten, auch zukünftig.
Büüsker: Das heißt, die SPD versteht dann nach dieser Definition Gerechtigkeit auch als Umverteilung?
Miersch: Umverteilung nicht abstrakt, sondern als gesellschaftlicher Zusammenhalt. Wenn wir eine starke und eine Gesellschaft wollen, die die Schwachen auch mitnimmt, aber auch vor allen Dingen die Leistungsträger in der Mitte, sage ich mal, ausreichend berücksichtigt, dann heißt das, dass die, die augenblicklich ganz viel haben, wie uns beispielsweise der Internationale Währungsfonds ja attestiert, dass die mehr Beitrag leisten müssen, damit wir beispielsweise mehr Lehrer, mehr Erzieher, mehr Polizisten haben.
Büüsker: Dann versuchen wir, das auf eine praktische Ebene zu bringen. Das bedeutet dann, dass die SPD Vermögen stärker besteuern wird?
Miersch: Im Moment und augenblicklich diskutieren wir. Es gibt unterschiedliche Modelle. Das, was im Moment im Programm drin ist, finde ich, geht in die richtige Richtung. Dort wird davon gesprochen, dass Vermögende einen größeren Anteil am Gesamtaufkommen leisten müssen. Dann wird davon gesprochen, dass wir Kapital und Arbeit wieder gleich besteuern wollen. Dann wird von einer höheren Belastung großer Erbschaften geredet. Das ist alles im Portfolio und das, was Stephan Weil jetzt vorgelegt hat, nämlich die Frage, sind wir eigentlich beim Spitzensteuersatz richtig aufgestellt, ist auch eine Frage. Und wir müssen jetzt in den nächsten Wochen in der Partei diskutieren, an welchen Schrauben von diesen möglichen Steuern beziehungsweise Abgaben wollen wir drehen. Und ich will dazu ausdrücklich sagen: Ich würde immer dazu raten, es nicht abstrakt zu machen. Es ist nicht nur eine Neiddebatte, wie sie von einigen Teilen vielleicht in anderen Parteien angestachelt wird, sondern es dient dazu, wirklich den Staat handlungsfähig in Zukunft aufzustellen. Deswegen würde ich sehr, sehr deutlich immer wieder sagen: Wenn wir Gebührenfreiheit für Kitas beispielsweise fordern, kostet das die Summe X, und um das zu erreichen, müssen wir beispielsweise die Vermögenden an der Stelle mehr belasten.
Büüsker: Dann lassen Sie uns gemeinsam versuchen, es konkreter zu machen mit Blick auf das Programm. Es steht ja unter anderem drin und das sagt Martin Schulz, seit er Kanzlerkandidat geworden ist, die SPD will Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen entlasten. Das ist eine Idee. Aber wie soll das konkret funktionieren?
"Viele Leute spüren sehr starke Belastung"
Miersch: Beispielsweise wenn ich augenblicklich Krankenschwester bin, um dieses Beispiel immer wieder auch zu bemühen, dann stelle ich fest, dass ich beispielsweise bei der Krankenversicherung völlig anders dastehen würde, wenn wir wieder zur Parität zurückkehren würden, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer den gleichen Beitrag zahlen. Die Krankenschwester ist häufig auch in einem Einkommenssegment, wo man merkt, die Sozialstaffeln, die wir durchaus im Kitabereich in den Kommunen haben, greifen dort nicht mehr. Das heißt, sie wird voll belastet, wenn es um Gebühren im Kitabereich geht. Und da sagen wir: Wenn wir diesen Bildungsaspekt als Staat qualitativ hochwertig und gebührenfrei stellen, haben genau diese Leute, die viel für diese Gesellschaft tun, eine spürbare Entlastung. Und das ist das, was Martin Schulz sagt, das ist die Wirklichkeit von vielen Leuten, die nämlich an dieser Stelle hart arbeiten, aber an der Stelle auch sehr starke Belastungen spüren.
Büüsker: Dann keine Steuerentlastung, sondern Entlastung auf, ich sage mal, sozialem Wege?
Miersch: Die zentrale Aussage muss nach meiner Auffassung sein, genau an diesen Stellen zu entlasten. Wenn dann durch Steuermehreinnahmen etc. noch Spielraum ist, kann man über Steuersenkungen reden. Aber Sie haben in Ihrem Beitrag zurecht darauf angesprochen: Es sind teilweise Bereiche zwischen 150 Euro, 350 Euro im Jahr. Die Kitabeiträge oder auch die Krankenversicherungsbeiträge, jährlich berechnet, würden eine stärkere Entlastung darstellen, und deswegen würde ich – und so habe ich auch Martin Schulz verstanden – an dieser Stelle ansetzen. Das heißt, als Erstes zum Beispiel zur Parität zurückkehren, dann die Gebührenfreiheit im Kitabereich, im Bildungsbereich durchsetzen. Da sprechen wir auch über Ausbildungsberufe im Pflegebereich etc.
Büüsker: Herr Miersch, Sie haben eben das Steuerkonzept von Stephan Weil, dem niedersächsischen Ministerpräsidenten angesprochen. Das hat ja durchaus in Berlin für ein bisschen Verwirrung gesorgt. Dann hieß es am Montag, dass das Regierungsprogramm der SPD eigentlich erst am 22. Mai diskutiert, beschlossen und veröffentlicht werden soll. Nachdem dieses Steuerkonzept von Stephan Weil plötzlich auf dem Markt war, da wurde der Programmentwurf der SPD irgendwie auch an die Presse durchgestochen. Zieht die SPD in diesen Fragen an einem Strang, oder ist sie zerstritten?
Miersch: Nein. Sie zieht natürlich an einem Strang, und das ist das, was jetzt in jeder demokratischen Partei, denke ich, ein normaler Prozess ist. Das heißt, es wird ein Entwurf vorgelegt. Dass natürlich im Berliner Bereich alles, was schriftlich vorgelegt wird, auch sofort das Licht der Öffentlichkeit erblickt, ist, glaube ich, normaler Standard. Jetzt muss diskutiert werden. Im Übrigen: Wir haben ja vorher einen anderthalbjährigen Prozess in mehreren Projektarbeitsgruppen gehabt, auch mit der Zivilgesellschaft, auch mit Verbänden. Und das ist jetzt das Ergebnis. Und wir werden in den nächsten vier Wochen mit den Gliederungen auch noch mal zusammen diskutieren, ob dieser Entwurf ausreichend Konturen aufweist. Ich glaube, es ist eine sehr, sehr gute Grundlage, weil er deutlich macht, worum es uns geht. Es geht nicht nur um abstrakte Umverteilung, sondern es geht darum, dass wir ein Bild von Deutschlands Zukunft mit entwickeln, wo die Kanzlerin nur einfach sich, sage ich mal, auf Bilder beruft, wollen wir durch klare Konzepte einen handlungsfähigen Staat der Zukunft aufbauen. Da, glaube ich, haben wir eine gute Grundlage. Und das, was Stephan Weil jetzt gemacht hat, ist ein Debattenbeitrag, der natürlich in diese Diskussion mit einfließen muss.
Büüsker: Aber ist es so schlau, diese Debatte tatsächlich in der Öffentlichkeit zu führen? Wenn wir ein paar Monate zurückdenken und auf die Union gucken, die hat auch Programmdebatten in der Öffentlichkeit geführt mit Blick auf die Flüchtlingskrise, und das hat den Umfragewerten der Partei doch erheblich geschadet. Geht die SPD nicht ein erhebliches Risiko ein, wenn sie diese inhaltliche Debatte tatsächlich in der Öffentlichkeit führt?
"Martin Schulz ist sehr, sehr nahe an der Wirklichkeit der einzelnen Familien"
Miersch: Nein, das sehe ich anders. Ich glaube wirklich, zur Politik und zum parteiinternen Diskurs gehört natürlich auch eine Auseinandersetzung, und die Bürgerinnen und Bürger sollen sehen, an welchen Stellen wir uns wirklich Mühe geben, um den besten Weg einzuschlagen. Und dann, wenn entschieden ist, also am 25. Juni dann in Dortmund, dann wird die Partei – da bin ich mir ganz sicher – das bewerkstelligen, was notwendig ist, um einen erfolgreichen Wahlkampf zu führen, nämlich sehr geschlossen aufzutreten als Partei, mit einem Programm, was sehr deutlich macht, wo die Unterschiede zu den politischen Mitbewerbern sind. Und mit einer Person, von der ich nach wie vor fest davon überzeugt bin, dass sie sehr glaubwürdig an der Spitze steht. Martin Schulz, der in den letzten Wochen gezeigt hat, dass er sehr, sehr nahe in der Wirklichkeit der einzelnen Familien auch ist und weiß, welche Anforderungen wir haben.
Büüsker: Herr Miersch, wenn ich ganz kurz unterbrechen darf? Sie haben gerade ein Stichwort genannt, was ich gerne noch mal aufgreifen würde, nämlich die Unterschiede zwischen den Parteien, die Sie herausstellen wollen. Jetzt macht die SPD aber plötzlich auch Wahlkampf mit innerer Sicherheit. Wo unterscheidet sie sich dann noch von der CDU?
Miersch: Zu einem handlungsfähigen Staat gehört auch, dass diese Gemeinschaft dem Einzelnen Sicherheit zukommen lässt. Und wir haben in den letzten Jahren auch in der Großen Koalition ja immer darum gerungen, ob man beispielsweise in mehr Polizei investiert. Die CDU wollte an vielen Stellen immer nur bloße Strafverschärfung. Das ist aus meiner Sicht an vielen Stellen völlige Symbolpolitik. Und es hat eben gehapert, beispielsweise die Länder auch ausreichend mit Polizistinnen und Polizisten auszustatten. Das haben wir in der Großen Koalition ein bisschen korrigiert, aber das Thema innere Sicherheit gehört genauso wie das Thema soziale Sicherheit zu einem handlungsfähigen Staat. Und den zu finanzieren, da, glaube ich, gibt es einen großen Unterschied, denn wenn Herr Schäuble von diesem Fetisch der schwarzen Null spricht, dann investiert er null in die Zukunft und er wird viel, viel höhere Folgelasten ernten, wenn wir da nicht umsteuern. Das ist der große Unterschied in den Konzeptionen zum Beispiel zwischen CDU/CSU und der SPD.
Büüsker: So die Einschätzung von Matthias Miersch, Sprecher der Parlamentarischen Linken, Mitglied der SPD. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk, Herr Miersch.
Miersch: Ich danke Ihnen, Frau Büüsker.
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