Dirk-Oliver Heckmann: Deutschland kann mehr – das war eine zentrale Message von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz gestern im Willy-Brandt-Haus. Er stellte seinen Zukunftsplan für ein modernes Deutschland vor, mit dem Schulz verlorenen gegangenen Boden wiedergutmachen will. Kernpunkte des Zehn-Punkte-Plans: Schulz will Bildung von der Kita bis zur Hochschule und zum Meister kostenfrei machen. Er will eine Bildungsallianz zwischen Bund und Ländern schmieden. Die SPD fordert ein sogenanntes Chancenkonto für jeden Arbeitnehmer. Sachgrundlose Befristungen sollen abgeschafft und bei der Steuer sollen Familien entlastet werden. Schulz fordert ein eigenes Budget für die Eurozone und mehr Solidarität bei der Flüchtlingspolitik in Europa. Und Schulz will den Staat dazu zwingen, in Bildung und Infrastruktur zu investieren, wenn der Haushalt das zulässt. Dadurch soll mehr Geld in schnelle Internetverbindungen, Straßen und Schienen fließen, aber auch in erneuerbare Energien und in Bildung. – Am Telefon ist dazu Christian Lindner, FDP-Bundesvorsitzender, Spitzenkandidat für die Bundestagswahl. Schönen guten Morgen.
Christian Lindner: Einen guten Morgen! Hallo!
"Wahlkampfmanöver rheinischen Charakters"
Heckmann: Herr Lindner, Schulz will den Staat zu mehr Investitionen zwingen, wenn es die Haushaltslage zulässt, und die lässt es ja ganz offensichtlich zu. Neben der Schuldenbremse bräuchten wir eine Mindestdrehzahl für Investitionen. Ist das nicht völlig richtig, angesichts des riesigen Investitionsstaus in Deutschland?
Lindner: Nach meinem Eindruck handelt es sich um ein Wahlkampfmanöver rheinischen Charakters. Wenn bei den Umfragen gar nichts mehr hilft, dann verteilst Du Kamelle. So interpretiere ich das. Es gibt mehr Geld für die EU. Deutschland soll ausgleichen, was die Briten weniger zahlen. Wofür das Geld eingesetzt werden soll, das wird nicht gesagt. Wenn man der Großen Koalition einen Vorwurf nicht machen kann, dann den, dass die Investition erhöht worden wären. Da schlägt Herr Schulz vor, noch mehr öffentliche Investitionen. Und der Gipfel ist dann das Chancenkonto, wo jedem Erwachsenen 20.000 Euro von der SPD versprochen werden. Für mich ist das Kamelle und entscheidend ist ja, was Herr Schulz nicht gesagt hat, nämlich wie will er die privaten Investitionen im Handwerksbetrieb um die Ecke, im Familienunternehmen, in der Industrie anschieben. Dazu kam gar nichts.
Heckmann: Er will ja vor allem die staatlichen Investitionen anschieben und dadurch auch einen Schub reinbringen. Und Herr Lindner, wir sind uns doch einig, dass es in Deutschland einen großen Investitionsstau gibt, oder?
Lindner: Der Investitionsstau, den wir heute beklagen müssen, der ist vor allem bei den Privaten. Warum haben wir einen so hohen Außenhandelsüberschuss? Weil wir viel exportieren. Aber das Kapital, das wir einnehmen, geht dann auch ins Ausland, weil es in Deutschland nicht attraktive Investitionsbedingungen für die private Hand gibt. Natürlich kann man immer über öffentliche Investitionen sprechen. Im Bereich Breitbandausbau halte ich die auch für erforderlich.
Heckmann: Das hat er ja als Beispiel auch genannt, genauso wie Infrastruktur, Straßen, Autobahnen und so weiter und so fort, Schulen, Bildung.
Lindner: Da passiert zu wenig. Vielleicht lassen Sie mich ganz kurz meinen Punkt machen, Herr Heckmann. Sonst können Sie ja das Interview alleine führen.
Heckmann: Na ja, es soll ja ein Gespräch werden.
Lindner: Ja, genau. Deshalb will ich ja auch meinen Anteil haben.
Heckmann: Bitte.
Lindner: Im Bereich Glasfaserausbau gerne. Da kann man aber die Post- und Telekom-Aktien verkaufen. Dann hat man viele Milliarden, die man investieren könnte. Aber im Bereich Straßenbau hat die Große Koalition mehr Geld in die Hand genommen. Das Problem ist, wie die Kanzlerin völlig zurecht sagt, das Geld fließt nicht ab, weil in vielen Ländern nicht genug baureife Projekte zur Verfügung stehen und die Planungsverfahren zu lange dauern. Unser Kernproblem, das wir jetzt haben, das ist, private Investitionen anschieben. Da stimmen die Rahmenbedingungen nicht. Ich sage es noch mal: Er hat nichts dazu gesagt, was er da tun will. Und alles, was mit Flexibilität und Bürokratieabbau zu tun hat, da haben wir nichts von Herrn Schulz gehört – eher noch mehr. Für mich ist das ein klassisch sozialdemokratisches Programm, das auch problematische Züge in einer Hochkonjunkturphase hat.
"Gute Aspekte sind darin"
Heckmann: Und Sie setzen dagegen das Programm sparen, sparen, sparen?
Lindner: Nein, das Programm Investitionen jetzt, aber auch ein Stück Entlastung für diejenigen, die investieren wollen.
Heckmann: Steuergeschenke würde das Martin Schulz nennen.
Lindner: Bessere, attraktivere Rahmenbedingungen. – Davon können sich die Menschen in der Mitte der Gesellschaft ja selber einen Eindruck machen, die an direkten, indirekten Steuern und Sozialabgaben 60 Prozent zahlen. Kein Wort dazu von Herrn Schulz, wie die Sozialabgaben stabil gehalten werden sollen. Riesen Überschüsse in den Sozialkassen – kein Wort dazu, auch mal wieder eine faire Balance zwischen den Beitragszahlern und dem Staat herzustellen. Da können sich die Leute ja selber ein Urteil machen. Mich hat das jedenfalls nicht überzeugt. Gute Aspekte sind darin. Das Gesamtprogramm trägt aber den Charakter von Kamelle.
Heckmann: Viele sagen ja, Herr Lindner, dass der Wohlstand in Deutschland nicht zuletzt darauf beruhe, dass viele befristete Jobs eingerichtet worden sind, viele prekäre Beschäftigungsverhältnisse geschaffen wurden. Sehen Sie das auch so wie Martin Schulz, dass dem jetzt endlich entgegengewirkt werden muss? Oder setzen Sie eher auf klassisch liberale Konzepte, auch auf die Gefahr hin, dass viele Wähler Sie dann möglicherweise als neoliberal und kalt ansehen werden?
Lindner: Ich glaube, dass die Alternativen so gar nicht stimmen. Ich bekomme jeden Tag E-Mails von Menschen, beispielsweise von hoch qualifizierten und gut verdienenden Dienstleistern aus dem Bereich IT, die freiberuflich arbeiten, aber von Frau Nahles jetzt in die Richtung von prekärer Beschäftigung gerückt werden. Die sind jetzt seit Anfang des Jahres in der Gefahr, als scheinselbständig vom Staat betrachtet zu werden. Das wollen die aber gar nicht. Die fühlen sich so wohl und die sagen nur, bitte lasst uns bei den großen Lebensrisiken nicht im Stich, da brauchen wir den Staat, im Alltag möge er uns in Ruhe lassen. Und bei den befristeten Beschäftigungsverhältnissen handelt es sich ja zu einer sehr hohen Zahl um Menschen zu Beginn ihrer Laufbahn im öffentlichen Dienst, gerade im Wissenschaftsbereich. Und da wollen wir doch mal die SPD-Wissenschaftsminister der Länder fragen, wie die das halten. Da brauchen wir sicherlich eine Veränderung durch einen Wissenschaftstarifvertrag. Aber der größte Befrister bei den Arbeitsverhältnissen ist der Staat selbst. Also soll er seine Politik verändern.
Heckmann: Herr Lindner, Sie haben gerade auch schon das Chancenkonto für Arbeitnehmer angesprochen, das Martin Schulz ja auch gestern vorgeschlagen hat. Damit soll Weiterbildung finanziert werden, Auszeiten sollen finanziert werden, aber auch Starthilfen für die Selbständigkeit gewährt werden. Das müsste Ihnen als Liberaler doch gefallen, oder?
Lindner: Ja, da sind Aspekte drin, die ich gut finde. Ich würde nur ein anderes Mittel wählen. Wir sind der Auffassung, dass in der Tat im Bereich der Weiterbildung die Menschen eine Unterstützung brauchen. Das ist die entscheidende Gerechtigkeitsfrage heute. Es darf keine Biographie eine Sackgasse sein. Durch die Digitalisierung werden viele Jobs wegfallen, aber viele neue entstehen, und die Aufgabe ist, den Menschen den Wechsel von einem Beruf oder einer Branche in eine andere zu erleichtern. Unser Vorschlag wäre eher, dass die Menschen selber eine Rücklage bilden, und zwar aus ihrem Bruttoeinkommen. Und dass sie auch steuerfrei von dieser Rücklage etwas entnehmen können.
"Millionen Menschen sind nicht bedürftig"
Heckmann: Aber viele können das möglicherweise nicht.
Lindner: Ja. Vielleicht, Herr Heckmann, hängt das damit zusammen, dass den Menschen alle Möglichkeiten genommen werden, weil Steuern und Sozialabgaben am Anschlag sind. Und ich bezweifle, dass Ihre Perspektive korrekt ist, ausschließlich auf die Superreichen zu schauen und auf der anderen Seite auf die Menschen, die bedürftig sind.
Heckmann: Wie kommen Sie darauf, dass das meine Perspektive ist?
Lindner: So sind Ihre Fragen angelegt.
Heckmann: Na ja. Ich habe natürlich die Aufgabe, kritische Fragen an Sie zu richten. Das beinhaltet keine Perspektive meinerseits.
Lindner: Ja klar! Ich bin ja auch für die kritischen Fragen dankbar. Sie können natürlich die Perspektive weiten und sagen, dass wir selbstverständlich denen die Hand reichen müssen, die bedürftig sind. Aber dass wir auf der anderen Seite sehen müssen, dass die ganz große Mehrheit in unserem Land, Millionen Menschen eben nicht bedürftig sind, weil sie in einer ganz hervorragenden Weise solidarisch enorm viel abgeben. Und bei denen ist nicht die Aufgabe, dass der Staat ihnen jetzt neues Geld gibt und sie Dankeschön sagen dafür, bei Herrn Schulz oder bei Frau Merkel. Sondern dass zunächst mal von dem, was sie an eigener Leistungskraft haben, etwas bei ihnen verbleibt und wir dann die Zwecke, die für die Zukunft wichtig sind, fördern. Da nenne ich als Beispiel tatsächlich die Weiterbildung. Aber da ist es besser, den Menschen eine steuerliche Möglichkeit zu geben, für sich selber eine Rücklage zu bilden, aus der sie dann für die Weiterbildung etwas entnehmen können als für alle mit der Gießkanne. Hier ist nämlich dann auch derjenige, der es nicht braucht, betroffen. Für alle mit der Gießkanne wird etwas eingerichtet. Und ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, mit der Gießkanne zu fördern, sondern ganz zielgerichtet bei denen, die Hilfe brauchen. Bei den anderen sorgen wir dafür, dass sie in Ruhe gelassen werden.
Heckmann: Herr Lindner, der Punkt ist angekommen. Ich muss noch ein anderes Thema anschneiden, das gestern und in diesen Tagen hochgekommen ist, denn nach der Entscheidung, die Bundeswehrsoldaten aus Incirlik abzuziehen, gibt es jetzt neuen Streit mit Ankara. Die türkische Regierung verweigert den deutschen Parlamentariern einen Besuch bei den deutschen Soldaten im NATO-Stützpunkt Konya. Hier wirken ja Bundeswehrsoldaten im Rahmen einer NATO-Mission am Kampf gegen den IS mit. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde gestern auch in der ARD zu diesem Thema befragt:
O-Ton Angela Merkel: "Also es gilt erst mal dasselbe, was für Incirlik galt, dahingehend, dass unsere Bundestagsabgeordneten natürlich ein Recht haben, die Soldatinnen und Soldaten zu besuchen. Dennoch hängt hier bei Konya sehr viel mehr dran. Es ist in der Tat eine NATO-Mission, an der die Bundesrepublik einen ganz gewichtigen Anteil hat, und deshalb wird auch sicherlich nicht nur die Bundesregierung mit der Türkei sprechen, sondern auch die NATO. Und ich glaube, wir sollten jetzt, ehe wir dann Schlüsse ziehen, erst einmal die Gespräche abwarten und hier weiter auch mit Hilfe der NATO gemeinsam diese Dinge besprechen."
Türkei: "Beitrittsgespräche sollten beendet werden"
Heckmann: Soweit Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern in der ARD. – Sind Sie da auch so gelassen?
Lindner: Ja, die Gelassenheit empfiehlt sich. Es ist eine Aufgabe für die NATO. Der NATO-Generalsekretär muss Gespräche führen und man kann sich nicht fortwährend von Herrn Erdogan treiben lassen. Richtig ist aber, dass das Verhältnis zwischen NATO und Türkei, vor allen Dingen zwischen EU und Türkei auf eine neue Grundlage gestellt werden muss. Ich glaube, die Beitrittsgespräche sollten beendet werden. Zahlungen, Beitrags-Anpassungszahlungen für die Türkei, die Vorbereitung auf den Beitritt finanziell zu fördern, sollten eingestellt werden und Herrn Erdogan sollte ein Grundlagenvertrag angeboten werden. Alles andere macht keinen Sinn mehr.
Heckmann: Merkel hat gesagt, es gäbe einerseits dieses Besuchsrecht der Parlamentarier, andererseits aber auch die Bündnissolidarität mit der NATO. Kann es aus Ihrer Sicht eine solche Abwägung geben?
Lindner: Nein. Es ist eine Parlamentsarmee, das ist völlig klar. Nur es handelt sich jetzt um eine NATO-Mission. Das heißt, wir müssen auch die Folgen für unsere NATO-Partner berücksichtigen. Und deshalb ist das Format, in dem mit Herrn Erdogan gesprochen wird, die NATO. Ich habe keinen Zweifel, dass die Türkei selbst ein Interesse daran hat, Mitglied der NATO zu bleiben, und dass solche Missionen stattfinden. Also muss man seitens der NATO Herrn Erdogan und seiner Regierung deutlich machen, was dafür die Voraussetzungen und Spielregeln sind.
Heckmann: Christian Lindner war das, FDP-Bundesvorsitzender, Spitzenkandidat für die Bundestagswahl. Herr Lindner, ich danke Ihnen für Ihre Zeit und das Gespräch heute Morgen und wünsche Ihnen einen schönen Tag.
Lindner: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.