Ein Samstagmorgen in Roseau, der Hauptstadt des Karibikstaates Dominica. Etwa zwei Dutzend Menschen versammeln sich im Botanischen Garten. Sie machen dies jeden Samstag. Es handelt sich um eine Trainingsgruppe von Athletinnen und Athleten mit geistiger Behinderung. Jede Woche trainieren sie hier, inmitten von Palmen und Mangobäumen. Unweit steht auch ein alter gelber Schulbus, auf den beim Hurrikan David 1979 ein Baum fiel. Der Baum wächst über dem eingedrückten Bus einfach weiter – inzwischen eine der touristischen Sehenswürdigkeiten von Roseau.
Die Trainingsgruppe hat dafür keine Augen. Alle konzentrieren sich auf das Programm: 100 und 200m-Lauf, aber auch Boccia. Boccia ist Wettkampfsport bei den Special Olympics World Games, den Olympischen Spielen für Menschen mit geistiger Behinderung. Die nächste Ausgabe der Special Olympics findet im Juni in Berlin statt. Deshalb ist die Motivation besonders groß, ungeachtet des Krachs des Rasenmähers, der auf diesem improvisierten Trainingsgelände gerade das hohe Gras kürzt.
Michel Detouche: "Gute Pläne für Berlin"
Das Gebet spricht Michel Detouche, ein 54 Jahre alter Athlet, der von den Special Olympics der USA im letzten Jahr mit einer Medaille heimgekommen ist.
Detouche ist auch für die Weltspiele in Berlin nominiert. Jedes Training wird mit einem Gebet begonnen. Es soll Kraft spenden. Daran glaubt auch Detouche: „Ich habe gute Pläne für Berlin. Ich hoffe, Gott gibt mir die Kraft, dass ich das Beste für mein Land tun und es gut repräsentieren kann.“
Detouche hat schon an vielen internationalen Wettkämpfen von Sportlerinnen und Sportlern mit geistiger Behinderung teilgenommen. Er schätzt daran vor allem das Miteinander: „Es ist einfach schön, mit vielen Tausenden Menschen, die ich nie zuvor sah, zusammenzusein. Man schließt Freundschaften, das ist toll. Man trifft neue Leute.“
Manchmal bleibt Michel auch nach den Spielen noch mit ihnen in Verbindung. „Ok, ich kann nicht schreiben, aber ich kann anrufen. Ich kann telefonieren und sagen: Hallo!“ Wochentags arbeitet Michel in einer Werkstatt in Roseau. Abilities Unlimited heißt sie, unbegrenzte Fähigkeiten: “Ich mache alles hier. Ich stelle Körbe her, ich liefere auch Sachen auch aus, bin ein Bote. Ich benutze auch Werkzeuge, ich schneide auch den Rasen hier draußen. Das alles mache ich.“
Mehrere der insgesamt 25 aktiven Special Olympics-Sportler arbeiten in dieser Werkstatt. Sie war vom Hurrikan Maria im Jahr 2017 beschädigt worden, wurde mit internationalen Hilfsgeldern aber wieder neu aufgebaut. Neben Körben werden auch Textilien, Geschirr und Spielzeug hier hergestellt.
Trainer: Sport nutzen, um Möglichkeiten von Menschen mit Einschränkungen aufzuzeigen
Ainsworth Irish, ein früherer Polizeioffizier, engagiert sich sowohl für die Werkstatt als auch für die Sportprogramme. Er ist auch Leiter der Delegation, die nach Berlin kommt. Er sagt:
„Vor Jahren fanden wir heraus, dass es mehr als 400 Kinder mit Behinderungen auf der Insel gibt. Manche Leute trauen sich mit diesen Kindern aber noch nicht hinaus. Deshalb nutzen wir Unified Sport und all diese Maßnahmen, um allen zu zeigen, dass Menschen trotz ihrer Einschränkungen dazu in der Lage sind, Dinge zu machen. Und wir wollen auch zeigen, dass Personen mit intellektuellen Einschränkungen ebenfalls von Gott kommen.“
Irish hatte selbst einen behinderten Sohn. Die Ärzte gaben ihm nur wenige Tage zu leben. Er wurde 27 Jahre alt, und liegt auf dem Friedhof unweit des Botanischen Gartens begraben.
Eine Trainingsstätte für Sportlerinnen und Sportler mit geistigen Einschränkungen befindet sich auch im Gebiet der Kalinago, der etwa 3.000 Abkömmlinge der indigenen Urbevölkerung der Insel. Es handelt sich um die größte Gruppe von Indigenen im gesamten Inselarchipel der Karibik.
Agenette Lucien Francis ist sowohl Trainerin als auch Leiterin der Schule für Kinder mit Behinderungen. 15 der Kinder nehmen auch am Sportprogramm teil: „Wir bringen ihnen am Morgen den Schulstoff bei. Am Nachmittag lehren wir Techniken zum Überleben im Alltag. Dazu gehören handwerkliche Fähigkeiten, Kochen und Gartenarbeit – eben alles, was ihnen helfen kann, Fähigkeiten zu entwickeln. So können die, die es nicht zu höherer Bildung schaffen, für sich etwas kreieren, das ihnen hilft, ein Einkommen zu haben, mit dem sie auch ihren Familien helfen können.“
Keine Begleiterin, keine Teilnahme
Eine dieser Sportlerinnen und Sportler ist Lisa. Sie kann nicht sprechen, ihr Verständnis ist verzögert. Aber wenn man mit ihr redet, reagiert sie sofort. Sie arbeitet auch in einer Werkstatt der Kalinago mit, die traditionelles Kunsthandwerk wie Masken, Statuen und Körbe produziert. Stolz präsentiert sie ihre Goldmedaille, die sie bei den Weltspielen in Abu Dhabi 2019 gewann. Für Berlin ist sie sportlich auch qualifiziert. Weil sie aber eine Begleitung braucht und Agenette Lucien Francis als ihre Trainerin nicht nominiert wurde, muss sie vier Jahre auf die nächsten Weltspiele warten. Lisa guckt tieftraurig, als ich sie darauf anspreche. Dass ihre Heimtrainerin nicht berücksichtigt wurde, statt dessen jemand aus dem Trainingsstab aus der Hauptstadt Roseau, kann man als den auch in Deutschland üblichen Konflikt zwischen zentralen Stützpunkten und Vereinen an der Basis interpretieren.
Nicht alles ist also ideal in der Welt von Special Olympics in Dominica. Das nahe Stadion in Roseau, das man vom Botanischen Garten aus erkennen kann, können die Sportlerinnen und Sportler ebenfalls nicht nutzen. Und für das Boccia-Training hätte Ainsworth Irish gern neue Bälle. Er hofft, sie beim Aufenthalt in Berlin zu bekommen, oder am besten schon jetzt, zum Training. Irish war auch bei den Olympischen Spielen in Sydney 2000 Teil der Delegation aus Dominica. Die Special Olympics aber berühren sein Herz viel tiefer:
„Special Olympics hat diese Menschen geformt. Sie haben sich entwickelt. Hier in Dominica gab es lange dieses Tabu: Leute trauten sich nicht heraus mit diesen Athleten, sie fürchteten, andere würden sie verhöhnen. Aber wir wollen das aufbrechen. Und ich sage immer allen: Die Special Olympics schließen alle in die Arme.“ Auch in Dominica, gerade in Dominica, diesem kleinen, von Hurrikanen geplagten Eiland inmitten der Karibik.