Milch und Fleisch kommen nie zusammen auf den Tisch. Freitags gibt es Fisch. Wein ist tabu. Zum Essen darf man nur die rechte Hand benutzen. Und Fleisch darf man nur dann essen, wenn man nicht gesehen oder gehört hat, wie das Tier geschlachtet wurde.
So lauten einige Vorschriften und Konventionen aus Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus. Und die Liste ließe sich noch sehr lange fortsetzen – denn es ist wohl unmöglich, eine Religion zu finden, die keine Regeln aufgestellt hat für Essen und Trinken.
Religionswissenschaftlich betrachtet, lautet eine Erklärung dafür: Der Mensch ist ein Allesfresser. Deshalb stehen ihm unzählige Nahrungsmittel zur Verfügung, die er gut vertragen kann. Und unzählige Arten der Zubereitung.
Religionen zeigen kulinarische Wege auf
Da könnte der hungrige Homo sapiens schnell die Orientierung verlieren – deshalb helfen ihm Kultur, Tradition und Religion. Sie sagen ihm, was auf den Teller darf und was nicht.
"Eine wichtige Funktion von Religion ist ja, Kontingenz zu bewältigen. Kontingenz bedeutet, es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, was man essen kann. Und religiöse Systeme, die zeigen einen Weg auf und schaffen Struktur und geben sozusagen Halt, um diese verschiedenen Möglichkeiten zu begrenzen."
Mehmet Kalender arbeitet an der Universität Göttingen als Religions- und Islamwissenschaftler. Zwei Aspekte sind ihm besonders wichtig, wenn es darum geht, das Verhältnis von Religion und Ernährung zu erklären: Identität und Ordnung.
Kalender: "Speiseregeln ordnen einerseits zeitlich. Durch diese Regelungen, wann gegessen wird, entsteht eine bestimmte Struktur. Der Tagesablauf oder der Wochenrhythmus, Monatsrhythmus oder der Jahresrhythmus, der wird reguliert."
Wer darf was und wann mit wem essen?
Religionen geben also nicht nur vor, was gegessen werden darf und was nicht. Sondern auch, wann etwas gegessen werden darf und wann nicht – zum Beispiel in Fastenzeiten. Und sie legen auch fest, wer mit wem den Tisch teilen darf und mit wem nicht, erklärt Mehmet Kalender:
"Wenn es Vorstellungen oder Regeln dazu gibt, wer mit wem essen kann. Also wenn Männer und Frauen in getrennten Räumen zum Beispiel essen. Auch zur Unterscheidung von sozialen Stati. Also wenn Angehörige unterschiedlicher Kasten eben nicht zusammen essen können. Oder wenn man Klassenvorstellungen hat, die dazu führen, dass man an unterschiedlichen Orten isst."
Religiöse Speisevorschriften sind eng verknüpft mit Konzepten von Reinheit und Unreinheit, innen und außen. So ziehen Religionen Grenzen – durch Ernährungsregeln.
Ernährung als Abgrenzungsstrategie
Und das nicht nur innerhalb einer Religion, sondern auch zwischen verschiedenen Religionen. Denn Religionen sind bemüht, sich von anderen Religionen abzugrenzen. Sie entwickeln Alleinstellungsmerkmale.
Kalender: "Abgrenzungsstrategien sind zum Beispiel eben: sich anders zu kleiden, andere Dinge zu machen, andere Dinge zu essen."
Wie eine Religion sich durch Speisevorschriften von einer anderen Religion abgrenzt, wird besonders deutlich, wenn sich neue Religionsgemeinschaften entwickeln. Beispiel: Als der Islam entstand, verbot er das Weintrinken. Eine Abgrenzung zu Judentum und Christentum, wo Wein nicht nur erlaubt ist, sondern sogar eine religiöse Bedeutung hat.
Kontinuität oder kulinarischer Bruch?
Noch ein Beispiel:
Kalender: "Das Christentum, das sich in seiner frühen Geschichte mit der Frage auseinandersetzen musste, ob es zum Beispiel die religiösen Speisegebote, die ja sehr umfangreich sind im Judentum, ob es die übernimmt oder nicht. Will man da eine Kontinuität schaffen, oder will man einen klaren Bruch vollziehen?"
Hätte das Christentum sich anders entschieden und die Speisegebote übernommen, hätte es sich dann vielleicht gar nicht zu einer eigenständigen Religion entwickelt, sondern wäre eine Variante des Judentums geblieben?
"Der Mensch ist, was er isst"
Das mag übertrieben klingen, aber: Speiseregeln stiften religiöse Identität. Oder mit dem Philosophen Ludwig Feuerbach gesprochen:
"Der Mensch ist, was er isst."
Du bist, was du isst. Das bedeutet: Du bist Buddhistin, und du zeigst das dadurch - dir selbst und anderen, dass du dich beim Essen und Trinken an bestimmte Regeln hältst, buddhistische Regeln. Deshalb stellen Menschen oft auch ihre Ernährung um, wenn sie die Religion wechseln.
Besonders deutlich wird "Du bist, was du isst" im christlichen Abendmahl. Da stehen Brot und Wein für den Leib Christi. "Der Mensch ist, was er isst", das bedeutet hier: Du bist Christ, und du isst Christus.
Das "Zürcher Wurstessen" 1522
Ernährung spielt also oft eine zentrale Rolle. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist das "Zürcher Wurstessen" vor bald 500 Jahren. Damals hauten einige Reformatoren in Zürich ordentlich rein – und das während der Fastenzeit. Sie setzten sich damit absichtlich hinweg über katholische Fastenregeln, von denen sie in der Bibel nichts finden konnten.
Dieses Wurstessen gilt so als der Startpunkt der Reformation in der Schweiz. Auch hier wurde mit Nahrung eine religiöse Grenze gezogen.
Essen kann Religionen auch verbinden
Aber das Gegenteil ist auch möglich, sagt der Religionswissenschaftler Mehmet Kalender - Speisen können Religionen nicht nur trennen, sondern auch verbinden:
"Andersrum kann man natürlich auch sagen, dass gerade Speisen, gerade das gemeinsame Essen - das Überbrücken auch verschiedener kultureller Grenzen über Essen - eine ganz starke soziale Funktion erfüllen kann. Das kenne ich zum Beispiel aus interreligiösen Veranstaltungen, in denen gerade das gemeinsame Essen zelebriert wird, indem so traditionsspezifische, kulturspezifische Speisen auf den Tisch gestellt werden. Das sind dann natürlich meistens die leckersten Dinge, die man präsentiert. Die dann auch gut wechselseitig ankommen und dadurch eine Brücke geschlagen wird."
Ernährung als "gelebte Religiosität"
Vorausgesetzt natürlich, man hat bei der Zubereitung auch die Speiseregeln der anderen Religionen beachtet, die mit am Tisch sitzen. Wer religionssensibel kocht und isst, der kann so auch eine Menge lernen über andere Religionen, meint Mehmet Kalender:
"In jeder religiösen Tradition gibt es eine gelebte Religiosität, also eine Alltagsreligiosität: der Ort, an dem all das, was in dieser Religion praktisch wichtig ist, eben zum Tragen kommt. Da spielt das Essen eine ganz große Rolle. Und ich glaube, das ist ein ganz legitimer Zugang. Und über das Erfahren kann man nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit der Zunge sich erschließen, wie eine religiöse Tradition tickt. Und ich glaube, das ist ein ganz netter Zugang."
Und im besten Fall auch ein leckerer Zugang – sich also einfach mal in die Religionen nicht nur einlesen, sondern hineinessen.