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Spekulationen über Nachfolger für Charlotte Knobloch

Der Leiter Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Julius Schoeps, sieht in dem möglichen Wechsel an der Spitze des Zentralrats einen Umbruch, bei dem nun die Generation der Holocaust-Nachgeborenen in Führungsfunktionen komme. Die jetzige Vorsitzende, Charlotte Knobloch, habe ihre Arbeit sehr gut gemacht.

Julius Schoeps im Gespräch mit Sandra Schulz |
    Sandra Schulz: Auf der Provokationsskala hatte er wieder einmal hoch gegriffen. Die offizielle Vertretung der Juden in Deutschland befinde sich in einem erbärmlichen Zustand, so der Publizist Henryk M. Broder Mitte Oktober in einem Artikel im Berliner "Tagesspiegel", der gleichzeitig als Bewerbungsschreiben verfasst war. "Meine Kippa liegt im Ring. Warum ich für das Amt des Präsidenten des Zentralrats der Juden kandidiere": Das war der Titel. Der Rückzieher folgte Anfang November. Im Spiegel schrieb Broder damals, er habe es für eine gute Idee gehalten, den Zentralrat ein wenig aufzumischen, was ihm auch gelungen war.

    Jetzt zeichnet sich ein Wechsel an der Spitze des Zentralrats ab. Medien berichten übereinstimmend, zwar noch ohne offizielle Bestätigung, Charlotte Knobloch, die Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, wolle auf eine zweite Kandidatur verzichten. Ihre reguläre Amtszeit endet in rund neun Monaten.

    Wir wollen das in den kommenden Minuten einordnen. Am Telefon begrüße ich Professor Julius Schoeps. Er leitet das Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam. Guten Morgen!

    Julius Schoeps: Guten Morgen!

    Schulz: Herr Schoeps, Charlotte Knobloch ist die letzte Holocaust-Überlebende im Präsidium. Welche Folgen hätte ihr Rückzug?

    Schoeps: Es ist ein Umbruch, der jetzt erfolgt. Jetzt kommt die Generation der Nachgeborenen in die Funktion nach und insofern ist das schon ein Wechsel, der da geschieht, ja.

    Schulz: Welche Rolle spielt das Gedenken an den Holocaust dann künftig?

    Schoeps: Zunehmend weniger. Die Zeitabstände werden größer, die Fragen werden andere, der Zentralrat wird sich in Zukunft über seine Position in Deutschland Gedanken machen müssen.

    Schulz: Die Zeit zitiert die Programmdirektorin des Jüdischen Museums Kugelmann mit einer ganz ähnlichen Einschätzung. Die Selbstdefinition über die Massenvernichtung sei an ein Ende gekommen. Was kommt danach?

    Schoeps: Das ist schwer zu beantworten. Man muss sich eine Position erarbeiten. Die Juden in Deutschland wurden in den Jahrzehnten nach 1945 in gewisser Weise benutzt als Gruppe, an der man etwas wiedergutmachen wollte, und diese Funktion ist vorbei.

    Schulz: Und wenn es jetzt in eine neue Richtung geht, was könnte die Tendenz sein, orthodox, liberal, beides?

    Schoeps: Das ist schwer zu beantworten. Das ist Aufgabe der Gemeinden, sich selbst zu definieren. Es wird orthodoxe Gemeinden geben. Es wird liberale Gemeinden geben. Es wird Gemeinden geben, die stark reformorientiert sind. Das Problem ist, dass die Einheitsgemeinde zunehmend eine Fiktion wird. Die Einheitsgemeinde zerfällt in verschiedene Gruppierungen und damit müssen sich die Juden in Deutschland in Zukunft auseinandersetzen, aber auch die Umgebungsgesellschaft.

    Schulz: Und Teil dieser Auseinandersetzung ist auch, dass das jüdische Leben in Deutschland ja auch durch die erhebliche Zuwanderung in den letzten beiden Jahrzehnten aus vielen Teilen der früheren Sowjetunion ein ganz neues Gesicht bekommen hat. Führt das auch zu neuen Diskussionen?

    Schoeps: Ich bin sehr skeptisch gegenüber solchen Formulierungen. Die Zuwanderung ist 2005 seitens der Bundesregierung gestoppt worden. Es gibt faktisch keine Zuwanderung mehr. Und wenn man sich die Altersstruktur in den Gemeinden ansieht, dann liegt diese bei 57 Jahren. Der Schnitt in der deutschen Bevölkerung ist 42 Jahre. Und wenn man weiß, dass die Sterberate siebenmal höher ist als die Geburtenrate, bin ich sehr skeptisch, was die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland angeht.

    Schulz: Also eine neue Auseinandersetzung, die Jüngeren gegen die Älteren oder die Älteren gegen die Jüngeren, sehen Sie nicht kommen?

    Schoeps: Das glaube ich nicht. Die Fragen werden anders gestellt werden und ich bin sehr gespannt, wer der Nachfolger von Charlotte Knobloch wird, die aus meiner Sicht ihre Arbeit sehr gut gemacht hat.

    Schulz: Jetzt ist im Gespräch ja Dieter Graumann, der bisherige Vizepräsident. Er ist Jahrgang 1950. Würde er den Zentralrat prägen?

    Schoeps: Er ist ein Nachgeborener, wenn man so will, mit einer anderen Perspektive und wir werden alle sehr gespannt sein, ob er auf das Schild gehoben wird, oder ob es jemand anderes sein wird. Wir werden sehen.

    Schulz: Lassen Sie uns noch auf das Verfahren schauen, sozusagen auf das Wie. Bis Sonntag will sich Charlotte Knobloch nicht öffentlich äußern und dann kommen die Vertretungen der Landesverbände, der größten Gemeinden zusammen. Die "Süddeutsche Zeitung" zitiert Mitglieder des Zentralrats mit der Einschätzung, es gebe Intrigen gegen Knobloch. Wie ordnen Sie das ein?

    Schoeps: Ich kann das auch nur beurteilen aus den Medien, die ich lese. Es gibt ganz offensichtlich Intrigen und Streitereien im Zentralrat. Ich hoffe sehr, dass man zu einer gemeinsamen Linie finden wird in Zukunft.

    Schulz: Wie sehr schaden diese Intrigen auch der Institution?

    Schoeps: Jede Intrige schadet. Also insofern sind alle gut beraten, wenn sie sich etwas zurückhalten und gemeinsam versuchen, Lösungen für die Probleme zu finden.

    Schulz: Mitte der Woche hat Charlotte Knobloch gesagt, die jüdische Gemeinschaft sitze nicht mehr auf den sprichwörtlichen gepackten Koffern. Sind es vielleicht auch solche Klarstellungen, die bei vielen Jüngeren auf Unverständnis stoßen?

    Schoeps: Nein. Sie hat ja völlig recht! Das hat sich alles sehr geändert. Es gibt in Deutschland wieder eine jüdische Gemeinschaft, die nicht mehr, um dieses Wort zu gebrauchen, auf gepackten Koffern sitzt, sondern sich hier als deutsche Staatsbürger versteht und hier ihr Leben und ihre Lebensperspektive sieht.

    Schulz: Aber sehnen sich die Jüngeren nicht auch nach einer neuen Leichtigkeit im Umgang? Ist dieses sprichwörtliche "Auf gepackten Koffern Sitzen" für die jüngeren denn überhaupt noch ein Thema?

    Schoeps: Es ist ein Thema, denn die Erinnerungen quälen und die Erinnerungen quälen Juden vielleicht mehr als andere, und insofern bin ich auch sehr gespannt, wie sich das alles entwickeln wird. Vielleicht, und ich würde sehr hoffen, dass man zu einer neuen Unbefangenheit findet im Umgang mit anderen, mit Nichtjuden.

    Schulz: Jude in Deutschland zu sein, was heißt das im Jahr 2010?

    Schoeps: Die Anormalität ist die Normalität.

    Schulz: Professor Julius Schoeps, der Direktor des Moses-Mendelsson-Zentrums für europäisch-jüdische Studien der Universität in Potsdam, heute in den "Informationen am Morgen". Herzlichen Dank!
    Julius H. Schoeps, Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums
    Julius H. Schoeps, Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums (Moses Mendelssohn Zentrum)