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Spiegel-Bestsellerliste "Belletristik", Jahr 2008

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk. Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Kommentiert von Denis Scheck |
    Kälte breitet sich dabei in einem aus. Unsägliche Kälte. Spüren Sie's nicht?

    Die SPIEGEL-Jahresbestsellerliste Belletristik 2008: Inklusive einer Meditation über Blutleere im modernen Vampirroman, einer Verneigung vor einer großen unterschätzten Autorin, einem Gastauftritt von J.K. Rowlings Professor Dumbledore als Literaturkritiker und der frappierenden Feststellung, dass die Deutschen am allerliebsten von Blutsaugern, Drachen und Zwergen, Schlössern und Kathedralen, untergegangenen Reichen wie der Deutschen Demokratischen Republik sowie von Mädchen lesen, die sich seltsame Dinge in ihre Körperöffnungen stecken.

    In diesem Jahr bringen die zehn meistgelesenen Romane der Deutschen wuchtige vier Kilo und 846 Gramm auf die Waage: zusammen 5818 Seiten.

    Platz 10) Stephenie Meyer: "Bis(s) zur Mittagsstunde" (Deutsch von Sylke Hachmeister, Carlsen Verlag, 557 Seiten, 19,90 Euro)

    Auf Seite 99 ihrer ersten Fortsetzung der Liebesgeschichte zwischen einem sehr prüden Mädchen namens Bella und einem sehr skrupulösen Vampir namens Edward schreibt Stephenie Meyer.

    "Die Zeit vergeht. Selbst wenn das Ticken jeder Sekunde schmerzt wie das pochende Blut hinter einer Prellung."

    Ticken Sekunden? Schmerzt Blut? Und schmerzt Blut hinter einer Prellung? So schief wie die Bilder Meyers ist die Konstruktion ihres albernen Romans. Deshalb vergeht die Zeit über diesem Buch sehr, sehr langsam. Und das schmerzt.

    Platz 9) Cornelia Funke: "Tintenherz" (Dressler Verlag, 575 Seiten, 19,90Euro)

    Von Tinte und Blut, Leben und Lesen, Bücher und Tod erzählt Cornelia Funke in ihrem großen Wurf der Fantasy-Literatur. Was wäre, wenn man durch konzentriertes Vorlesen Figuren aus Büchern wirklich lebendig werden lassen - und sich selbst in Bücher hineinlesen könnte? Einige Menschen, Zauberzungen genannt, besitzen dieses Talent - jedenfalls in den Tintenwelt-Romanen von Cornelia Funke, mit denen die deutsche Autorin im abgegrasten Fantasy-Genre etwas wundervoll Originelles und Eigenständiges geschaffen hat.

    Platz 8) Carlos Ruiz Zafon: "Das Spiel des Engels" (Deutsch von Peter Schwaar, S. Fischer Verlag, 712 Seiten, 19,95 Euro)

    Ruiz Zafon schreibt in seiner in den 20er Jahren spielenden Vorgeschichte zu "Der Schatten des Windes" über

    "die Verheißungen, die in den Romanzen und Abenteuern der Groschenromane liegen"."

    Weil er wie John Irving, T.C. Boyle oder Stephen King über einen mitreißenden Sound verfügt, der noch die größten Abstrusitäten plausibel erscheinen lässt, entsteht dabei Literaturliteratur in Form eines herrlichen Schmökers über das alte Barcelona, einen jungen Mann und den ewigen Traum vom perfekten Buch.

    Platz 7) Stephenie Meyer: "Bis(s) zum Abendrot" (Deutsch von Sylke Hachmeister, Carlsen Verlag, 557 Seiten, 19, 90 Euro)

    Eine weitere geschwätzige Fortsetzung dieses öden Fantasy-Liebesromans um das amerikanische Mädchen Bella und ihren gouvernantenhaften Vampir Edward, der erst im Hafen der Ehe kraftvoll zubeißen will. Auf Seite 453 sagt Bella zu Edward:

    ""Dann ist es also so. Du schläfst erst mit mir, wenn wir verheiratet sind."

    Der gelangweilte Leser wünscht sich, Edward hätte Heinrich Heine gelesen: "Und fehlt der Pfaffensegen dabei, die Ehe wird gültig nicht minder.”

    Platz 6) Siegfried Lenz: "Schweigeminute" (Hoffmann und Campe, 128 Seiten, 15,95 Euro)

    Eine kleine, dabei unerwartet kraftvolle Novelle über die Liebe zwischen einem Schüler und seiner Englischlehrerin in der frühen Bundesrepublik. Intensiv und berührend, so abgeklärt und weise wie ein Buch Fontanes, erinnert "Schweigeminute" daran, weshalb Siegfried Lenz zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart zählt.

    Platz 5) Uwe Tellkamp: "Der Turm" (Suhrkamp Verlag, 976 Seiten, 24,80 Euro)

    Ohne Frage: Aus diesem ehrgeizigen Roman lässt sich sehr viel entnehmen über das Leben in der DDR.

    "Vor der Heinrich-Mann-Buchhandlung auf der Prager Straße stand eine lange Schlange: Anne, die eine Chance witterte, fragte sofort, was es gebe: Der Mann vor ihr zuckte die Achseln und sagte, er habe sich nur angestellt, weil schon so viele vor ihm ständen, er lasse sich überraschen."

    So faszinierend Tellkamps Turm als zeitgeschichtliche Nachhilfestunde sein mag, als Kunstwerk scheint er mir durch den allwissenden Blick der historischen Rückschau zum größten Fantasyroman unter all den Fantasyromanen dieser Jahresbestsellerliste zu werden.

    Platz 4) Joanne K. Rowling "Die Märchen von Beedle dem Barden" (Aus den ursprünglichen Runen übertragen von Hermine Granger und aus dem Englischen übersetzt von Klaus Fritz, Carlsen, 110 Seiten, 12,90 Euro)

    Dieser kleine Nachklapp zu den Harry-Potter-Romanen ist nur etwas für Fans. Immerhin erweist sich Rowling in den Albus Dumbledore zugeschriebenen Kommentaren zu den Märchen erfrischend selbstironisch und als scharfe Literaturkritikerin gar vorbildlich:

    "Mrs Bloxams Märchen löste bei Generationen von Zaubererkindern die gleiche Reaktion aus: unkontrolliertes Würgen, gefolgt von einem unmittelbaren Verlangen, dass man ihnen das Buch abnehmen und es zu Brei zerstampfen möge."

    Platz 3) Christopher Paolini: "Eragon. Die Weisheit des Feuers." (Deutsch von Joannis Stefanidis, CBJ Verlag , 864 Seiten, 24,95 Euro)

    Diesen Roman zu lesen ist wie auf der Suche nach Märchenzauber über die ausgelatschten Pfade von Disneyland zu wandeln: So wenig Witz, Phantasie und Kreativität war selten in einem Buch. Paolinis Drachenroman liest sich wie ein seelenloser Klon von J. R. R. Tolkien, Anne McCaffrey und Ursula K. LeGuin.

    Platz 2) Ken Follett: "Die Tore der Welt" (Deutsch von Rainer Schumher und Dietmar Schmidt, Lübbe, 1120 Seiten, 24,95 Euro )

    Ein Roman aus dem Kostümfundus: Follett lässt die Nachkommen des Personals von "Die Säulen der Erde" zweihundert Jahre später durch das 14. Jahrhundert stolpern und fortwährend ihre Köpfe darüber schütteln, wieviel Aberglaube doch in ihrer Welt ist und wie kümmerlich ihre Kenntnisse in Medizin oder Architektur. Ihre übellaunige Besserwisserei steckt regelrecht an: Warum nicht auch das 21. Jahrhundert so betrachten? Zum Beispiel diesen mediokren Historienschinken!

    Platz 1) Charlotte Roche: "Feuchtgebiete" (DuMont, 219 Seiten, 14.90 Euro)

    In Krisenzeiten richtet sich der Blick nach innen. Ganz so weit nach innen wie Charlotte Roches Heldin Helen Memel in sich hineinblickt, muss es für meinen Geschmack nicht sein. Allerdings lässt sich an diesem Buch schön zeigen, wie eng Kunst und Kacke beieinander liegen. Wofür Charlotte Roche gefeiert wird, dafür hat man Günter Brus in den 60ern und Hermes Phettberg in den 90ern fast gekreuzigt.