Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?
Dieses Gehirn freut sich heute, am 80. Geburtstag des französischen Literatur-Zampanos Bernard Pivot, dass wir Deutschen eine etwas agonalere Literaturkritik haben als unsere Nachbarn jenseits des Rheins.
Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Sachbuch - Diesmal mit Handreichungen für Besatzungssoldaten, Lachfibeln buddhistischer Komiker, kritischen Einschätzungen des Islams aus Sicht seiner Opfer sowie zahlreicher Bücher von Has-Beens aus Journalismus und Politik, Funk und Fernsehen: die Bestsellerliste als Friedhof der Untoten.
In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Romane der Deutschen frühlingshaft leichte 3124 Gramm auf die Waage: zusammen 2761 Seiten.
Platz 10) Christian Kracht, Helge Malchow (Hrsg): Leitfaden für Britische Soldaten in Deutschland 1944 (Deutsch von Klaus Modick, Kiepenheuer & Witsch Verlag, 160 S., 8,00 Euro)
Viel hatten sie sich vorgenommen, die Autoren dieser Informationsschrift für Besatzer in Nazi-Deutschland: nichts weniger als das deutsche Wesen wollten sie erklären. Was wir heutigen Leser über 70 Jahre später von ihren Zuschreibungen ablehnen und was wir als Beschreibung unseres Nationalcharakters akzeptieren, darin liegt der beträchtliche Charme dieses schlauen Büchleins.
Platz 9) Ajahn Brahm: "Der Elefant, der das Glück vergaß" (Deutsch von Karin Weingart, Lotos Verlag, 238 Seiten, 16,99 Euro)
Diese buchlange Dönnekes-Sammlung eines buddhistischen Klosterabts verspricht ein "ganz einfaches Trainingsprogramm zur Entwicklung gesunder Emotionen":
"Atmen Sie drei- oder viermal tief ein, um sich zu entspannen. Heben Sie dann die Arme und winkeln Sie sie so an, dass sich die Hände auf der Höhe Ihres Gesichts befinden. Legen Sie Ihre beiden Zeigefinger rechts und links an die Mundwinkel. Dann schauen Sie in den Spiegel und ziehen die Mundwinkel hoch."
Selten so gelacht.
Platz 8) Mahtob Mahmoody: "Endlich frei" (Deutsch von Heide Horn und Rita Seuß, Ehrenwirth, 416 Seiten, 19,99 Euro)
Mahtob Mahmoody ist die Tochter aus dem Buch "Nicht ohne meine Tochter" von Betty Mahmoody über ihre Ehe mit einem aus dem Iran stammenden Ingenieur, der sie nach der islamischen Revolution aus den USA in sein Heimatland lockte und misshandelte, bis ihr schließlich mit ihrer Tochter die Flucht gelang. Mahtob Mahmoody ist inzwischen eine tief gläubige Christin, ihr von amerikanischem Sendungsbewusstsein durchdrungener, auf Vorschulniveau erzählter Text, in dem sie "von all dem Guten" berichtet, "das durch Gottes Gnade aus den negativen Erfahrungen meines Lebens erwachsen ist."
Darunter auch eine schwere Krankheit, ist ein erschütternder Beleg dafür, dass man sehr interessante Dinge erleben kann, ohne sie zu begreifen. Eine niederschmetternde Lektüre.
Platz 7) Thomas Gottschalk: "Herbstblond" (Heyne, 368 Seiten, 19,99 Euro)
Dieser Mann hat mich mein Leben lang verfolgt: Mit seiner Kultur durch Umarmung erstickenden Geistfeindlichkeit, seinem jeden Anflug eines Gedankens sofort im Keim zerstörenden Gute-Laune-Terror, mit seinem Das-lässt-sich-doch-auch-noch-tiefer-legen-Ansatz, der jeden Gedanken in seinen Interviews meuchelt. Gottschalk hat in Deutschenland Unterhaltung noch flacher gemacht, Anti-Intellektualität als Haltung salonfähig werden lassen und Filme wie "Die Supernasen" verbrochen. Dafür schreibt er in seiner Autobiografie Sätze wie:
"Finanzielle Erwägungen haben in meinen Karriere-Entscheidungen nie eine Rolle gespielt." Und triumphiert: "Ich habe 80 Prozent meiner Kritiker überlebt."
Mag sein. Noch fühle ich mich aber quicklebendig. Können Sie daher ermessen, wie es mich schmerzt, sagen zu müssen, dass "Herbstblond" von Thomas Gottschalk ein über weite Strecken passables und einsichtsreiches, gelegentlich sogar amüsantes Buch ist?
Platz 6) Udo Ulfkotte: "Gekaufte Journalisten" (Kopp Verlag, 336 Seiten, 22,95 Euro)
Dieses ärgerlich alberne Buch wirft nur eine Frage auf: Wer hat Udo Ulfkotte geschmiert, eine so üble Stammtisch-Suada über Korruption im Journalismus zu schreiben?
Platz 5) Ayan Hirsi Ali: "Reformiert Euch" (Deutsch von Michael Bayer, Enrico Heinemann, Eva-Maria Schniztler, Knaus, 302 Seiten, 19,99 Euro)
Ayan Hirsi Ali fordert mit sehr guten Argumenten eine Reform der islamischen Welt. In Ländern, wo die Scharia praktiziert wird und Enthauptungen und Steinigungen an der Tagesordnung sind, gehen die Uhren nicht anders, in diesen Ländern sind die Uhren stehengeblieben. Als größtes Hindernis für den Wandel innerhalb der islamischen Welt nennt Hirsi Ali "die Unterdrückung genau der Art von kritischem Denken", das sie in diesem Buch propagiert.
"Es ist nicht zu leugnen", schreibt sie, "dass Gewalt, Frauenfeindlichkeit und Homophobie in allen religiösen Texten existieren, aber der Islam ist die einzige Religion, die bis heute so wörtlich daran festhält." Diese Stimme im öffentlichen Diskurs über die Ursachen islamistischen Terrors hat gefehlt.
Platz 4): Thilo Bode: "Die Freihandelslüge" (DVA, 270 Seiten, 14,99 Euro)
Thilo Bode ist ein kluger Mann und hat nichts gegen Freihandel, denn er weiß wie die Mehrzahl seiner Leser, dass Freihandel die Basis für den Wohlstand der Bundesrepublik Deutschland ist. Sehr wohl hat Bode aber etwas gegen das Transatlantic Trade and Investmentpartnership", kurz TTIP, das Konzernen nützt und der Demokratie und damit uns allen schadet. Warum das so ist und warum dagegen Widerstand nottut, erklärt er überzeugend in diesem Buch.
Platz 3) Hape Kerkeling: "Der Junge muss an die frische Luft" (Piper, 313 Seiten, 19.99 Euro)
In der Beschreibung des Urtraumas seiner Kindheit, des Suizids seiner Mutter, verläuft sich Hape Kerkeling im bräsig Anekdotischen. Mag sich dieses Rührstück auch verkaufen wie warme Semmeln: es ist selbstgerechter Kitsch.
Platz 2) Helmut Schmidt: "Was ich noch sagen wollte" (C.H. Beck Verlag, 239 Seiten, 18,95 Euro)
In diesem ungewöhnlich persönlichen Bändchen lässt Helmut Schmidt Revue passieren, von welchen Vorbildern er Pflichterfüllung und Gelassenheit gelernt hat. Viel kann man Helmut Schmidt dabei vorwerfen, eines aber nicht: dass er dem Zeitgeist nach dem Munde redet. Was Schmidt den Akrobaten des Einerseits-Andererseits voraus hat: Aus seinem Buch lässt sich Orientierung gewinnen. Dafür müssen die Leser schlucken, dass Schmidt autokratische Knochen wie den Vater der chinesischen Modernisierung und Mitverantwortlichen für das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens, Deng Xiaoping, lobt.
Platz 1 der aktuellen Spiegelbestsellerliste Sachbuch: Wilhelm Schmid: "Gelassenheit" (Insel Verlag, 119. Seiten, 8,00 Euro)
Der anhaltende Erfolg dieses kleinen philosophischen Breviers gibt zu der Frage Anlass, warum sich eigentlich so viele Menschen nach mehr Gelassenheit sehnen. Hängt es mit dem Aktualitätsterror des Internets zusammen? Oder doch eher mit unserer Sterblichkeit und dem Lebensgefühl, ungebremst und unaufhaltsam auf einer Rutschbahn in Richtung Tod unterwegs zu sein? Im hektischen Markt der Trostangebote ist diese kleine Schrift ein angenehmes Abrüstungsangebot und eine Einladung zur Besinnung.