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Spieglein, Spieglein an der Wand

Was ist schön? Wie wird Schönes wahrgenommen? Und warum muss man eigentlich als schön gelten? Im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden sollen die Besucher mehr erfahren über traditionelle, kulturelle und soziale Hintergründe des Schönheitsbegriffes.

Von Dörte Hinrichs |
    "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?" – Diese zentrale Märchen-Frage beschäftigt nicht nur die Darstellerinnen, die sich bei der Sendung "Germanys next Topmodel" bewerben und natürlich bei der Beschäftigung mit dem Thema "Schönheit" nicht fehlen dürfen. Diesem Vergleich sind auch die Ausstellungsbesucher selbst ausgesetzt, werden sie doch immer wieder mit dem eigenen Spiegelbild konfrontiert.

    Diese ständige Selbstbespiegelung ist Teil der Inszenierung der Ausstellung "Was ist schön? ", die fünf Erfahrungsräume mit einem 50 Meter langen Spiegel-Korridor verbindet. Auf der einen Seite ist er mit dunkelrotem Samt ausgelegt während gegenüber eine Spiegelwand immer den prüfenden Blick ins eigene Antlitz provoziert.

    "Es ist ja überhaupt eine Voraussetzung dafür, zumindest im Bereich der visuellen Wahrnehmung, dass wir wissen, dass wir es selbst sind, die wir uns im Spiegelbild sehen und begreifen und damit Selbst- und Fremdwahrnehmung überhaupt funktionieren. Sie finden in diesem Raum unter anderem einen Lehrfilm, der anschaulich macht, wie Kinder zwischen dem sechsten und 18. Lebensmonat plötzlich begreifen, dass das Gegenüber im Spiegelbild nicht ein anderer ist, sondern sie selbst. Und man könnte sagen, dass eigentlich in diesem Moment das Drama anfängt, denn ab diesem Zeitpunkt lernen wir den Spiegel zu nutzen, um uns zu vergleichen, zu bewerten und uns auch in Beziehung zu setzen zu anderen."

    Erläutert Doris Müller-Toovey, eine der beiden Kuratorinnen bei einem Rundgang durch die Ausstellung. Das gefilmte Kind, das zunächst den Spiegel wie ein Spielzeug betrachtet, noch ohne Pose davor herumturnt, bis es irgendwann sich darin selbst erkennt, sieht man die Freude an dem Aha-Erlebnis noch an.

    Bis dann eines Tages vielleicht nicht nur das eigene Spiegelbild die Selbstwahrnehmung steuert, sondern eine Jury und Millionen von Zuschauern bei den Castingshows im Fernsehen. Ein mediales Oberflächenphänomen, das nur dem Zeitgeist geschuldet ist, bei dem nur der schöne Körper zählt?

    "Klar, es geht immer nur um die Oberfläche - und natürlich, wenn man sich diese Sendungen anguckt, ist das auch der vorherrschende Eindruck. Was ich aber überraschend fand, wenn man dann mal zuhört, dass die Mädchen immer wieder aufgefordert werden: Zeige dein inneres Selbst, bringe dein Inneres zum Strahlen. Ich denke, das hört sich doch verdammt danach an, dass man diesen alten Spruch wiederbelebt, dass Schönheit von innen kommt. Und dass man offensichtlich selbst in einer Welt wie diesen Medien- und Castingshows, wo es natürlich in erster Linie um Oberfläche geht, mit diesen moralischen Kriterien operiert. Das fand ich ganz interessant und deswegen hat mich auch gefreut, dass wir zu diesem Loop mit diesen 'Germanys next Topmodel'-Fotos auch ein Interview mit Christina von Braun von der Humboldt-Universität präsentieren können, die auf einer kulturwissenschaftlichen Ebene über das Schöne und über das Schöne in Fotos oder in der lebendigen Bewegung ausmacht, spricht."

    "Ein und derselbe Mensch kann auf einem Foto sehr attraktiv aussehen und in Realität nicht besonders begehrenswert oder auffallend sein. Und ein anderer Mensch sehr anziehend sein, weil wir in der körperlichen Begegnung mit einem Menschen Körpersprache wahrnehmen, unter Umständen auch die Stimme, Gerüche, alle möglichen anderen Dinge, Nuancen mit wahrnimmt, die man auf dem Foto wegwischen kann."
    Diese Relativierung von abgebildeter Schönheit durch die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun ist ein Hörbeispiel von vielen, das zeigt, dass bei allen medialen Inszenierungen in der Ausstellung zur Schönheit auch genügend Raum bleibt für die Reflexion darüber.
    "Sehnsucht und Versprechen" heißt die Überschrift unter der der
    Besucher zwischen Erwartung und Entzauberung die Spur der Schönheit aufnimmt. Hautnah wird er mit den Schönen dieser Welt konfrontiert: George Clooney, Brad Pitt, Kevin Bacon, Cate Blanchett, Meryl Streep und Angelina Jolie lächeln einem entgegen. So nah und hell ausgeleuchtet, dass sie schon fast wieder fremd erscheinen in der Fotoserie "Close up" des in New York lebenden deutschen Fotografen Martin Schöller.

    "Es lässt sich wohl feststellen, dass kultur- wie altersübergreifend wir offensichtlich sehr ähnlich auf Gesichter reagieren. Also selbst wenn man Gesichter aus einem anderen Kulturkreis sieht und gefragt wird, welche Gesichter man als schön empfindet, wird die Entscheidung relativ ähnlich zu der sein, die die Leute aus demselben Kulturkreis selber gefällt hätten. Ähnliches gilt für Landschaften, wo wir auch sehr ähnlich entscheiden. Und da scheint es doch so zu sein, dass Landschafts- und Gesichtswahrnehmung in uns etwas aus einer sehr alten evolutionsbiologischen Verankerung heraufholt, was anders ist, wenn wir mit Kunstobjekten oder Designobjekten konfrontiert sind, wo die Unterschiede sehr viel größer sind in der Beurteilung von Schönem."
    Doch was empfinden wir nun als schön, worin liegen universelle Gemeinsamkeiten? Bei aller Vielfalt an Formen und Farben in der Natur scheinen sich landschaftliche Vorlieben herauskristallisiert zu haben, die sich nicht immer genau erklären lassen.

    "Das ist interessant, dass sieben- bis achtjährige Kinder befragt nach ihrer bevorzugten Landschaft, wenn man ihnen eine Reihe von Auswahlen gibt: Sahara, Laubwald, Savanne. Antarktis doch durchgängig oder überwiegend auf die Savanne tippen. Und ich würde mal sagen, das liegt jetzt nicht unbedingt allein an der Savanne, sondern es liegt an den Strukturen dieser Landschaft, die offensichtlich etwas in uns ansprechen, was evolutionsbiologisch tief in uns verankert ist. Es handelt sich um halboffene Landschaften, die die Möglichkeit zum Ausblick bieten, die möglichst Wasser haben, die Verstecke auch anbieten und Orientierungspunkte."
    Inwieweit Landschaften oder generell Naturphänomene unseren Sinn für Ästhetik und Schönheit zum Beispiel auch in der Kunst oder Architektur prägen, das kommt in der Ausstellung ein wenig zu kurz. Dennoch lotet sie ein weites Schönheitsfeld aus, ausgehend vom Menschen als Maß aller Dinge:
    Seit der Antike haben Künstler, Wissenschaftler und Designer versucht, die Schönheit des Menschen zu erklären und zu vermessen. In Zeichnungen und Entwürfen von Vitruv über Albrecht Dürer bis zu Le Corbusier zeigt sich die Suche nach idealen Maßen, denen ein System von Symmetrie und Proportion zugrunde liegt, das oft auf mathematischen Formeln beruht. So bezeichnet der "Goldene Schnitt" die Streckenverhältnisse, mit denen der Mathematiker Euklid im 3. Jh. v. Chr. die idealen Proportionen und den Inbegriff von Ästhetik und Harmonie, in der Natur, Kunst und Architektur festlegte. Doch wer wurde dem gerecht? Die gezeigte Skulptur eines Mannes aus dem 5. Jh. v.Chr. könnte auch heute problemlos über den Laufsteg flanieren, während die 200 Jahre jüngere Venus Medici zu klein wäre, um den gängigen Modelmaßen zu genügen. Das zeigt sich besonders im Kontrast zum lebensgroßen Barbiemodell und zur virtuell generierten "Lara Croft".
    Je ebenmäßiger ein Gesicht ist, je weniger Ecken und Kanten ein Gesicht hat, als umso schöner wird es empfunden haben Untersuchungen anhand von Fotos gezeigt. Genau dieses Ideal wird in der Kunst aber auch hinterfragt, zum Beispiel von Rosemarie Trockel, die mit ihren Gesichtern schöner junger Menschen das Ideal auf die Spitze treibt.

    "Wie Rosemarie Trockel ja in allen ihren Arbeiten vorgeht, setzt sie sich ja immer kritisch mit gesellschaftlichen Phänomenen auseinander. Und sie hat hier in diesen Gesichtern, aber nur in den Gesichtern – sie sehen, dass das im Haar nicht so ist – eine Gesichtshälfte symmetrisch der anderen gespiegelt. Deswegen ist man irgendwie so merkwürdig irritiert, wenn man das sieht. Und sie zielt praktisch in diesen Fotoarbeiten darauf ab, ob unsere Wahrnehmung durch die Manipulation am Körper nicht doch auch gestört wird."
    So Kuratorin Sigrid Walter. Wie weit man selbst vom Schönheitsideal entfernt ist, das erfährt man, wenn man auf einem Hocker mit integrierter Gewichtsanzeige Platz nimmt. Der Schönheitschirurg Stephen Marqard hat über 20 Jahre Schönheitsanalysen und –vermessungen ausgewertet. Aus dem Verhältnis von Nasenbreite zu Mundbreite hat er die Formel für eine "Maske der Schönheit" errechnet. Eine Webcam nimmt das eigene Gesicht auf, überzieht es mit Netzlinien, die den Idealmaßen entsprechen – und schon sieht man, ob und wenn ja wie sehr man aus dem gesellschaftlich vorgegebenen Schönheitsrahmen herausfällt. Doch das muss kein Grund zur Verzweiflung sein: Der Körper ist längst zum formbaren Material geworden und immer mehr Menschen sind bereit, alles Erdenkliche zu tun, um sich dem Schönheitsideal anzunähern.

    "Wir haben also hier neben den vielen künstlerischen Interpretationen des Themas diese sachlich-wissenschaftlichen Aussagen dazu. Und wir trennen das Thema in zwei Bereiche: nämlich die Botox- und Hormonbehandlungen und die Operationen. Und wir haben in dieser kleinen Installation gezeigt wir groß und vielfältig, in dem man diese ganzen Formen, Größen und Farben von Pillen sieht, wie vielfältig dieses Hormon auch angeboten wird, dieses Präparat, und was letztendlich auch für ein riesiger Markt dahinter steht."
    Jährlich unterziehen sich hierzulande 800.000 Frauen und zunehmend auch Männer Schönheitsoperationen. Denn Schönheit verspricht soziale Anerkennung und Erfolg. Das Credo "Schönheit ist machbar" ist deshalb so erfolgreich, weil wir glauben, die ungleich verteilte Schönheit unter den Menschen korrigieren zu können. Eine Statistik verdeutlicht, wie viele Frauen und Männer jeweils sich seit 2004 Fett absaugen, den Bauch straffen oder das Gesicht liften ließen. Die Wachsmaske einer 68-jährigen Frau zeigt ihr Gesicht vor und nach einer Botox-Behandlung – die fast jugendliche Glätte durch die Injektion des Nervengifts steht in merkwürdigem Kontrast zum müden Gesichtsausdruck. In einer Vitrine liegen verschieden große Brustimplantate und ein nicht ganz jugendfreies Foto demonstriert einen neuen Trend:
    "Was allerdings in den letzten Jahren zugenommen hat, sind Vagina-Operationen. Das ist seit 2001. Wenn man fragt, woher das kommt, also das geht einher mit der Intimrasur, dass der 'Playboy' erstmals 2001 eine Intimrasur im Bild gezeigt hat. Und damit eben den Bereich auch freigelegt hat, und sich dadurch für die Frauen auch die Frage ergab, ob man diesen Intimbereich nicht auch optimieren könnte durch Eingriffe."
    Und wer sich nicht dieser angeblichen Selbstoptimierung unterziehen will, muss seine Einstellung zum eigenen Körper optimieren.

    Kritische Reflexion und sinnliches Vergnügen wechseln sich ab und machen die Ausstellung "Was ist schön?" nie oberflächlich. So werden zum Beispiel Erkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie und Hirnforschung anhand eines gläsernen, von innen leuchtenden Modells des menschlichen Gehirns veranschaulicht:

    Die Besucher dürfen selber an Stationen rund um das Gehirn testen, welche Areale aktiv sind, wenn sie die Attraktivität von Gesichtern, grafischen Mustern und Musik bewerten:

    "Bei der Musikwahrnehmung, zum Beispiel wenn ich sage, ich empfinde diese Musik vom Rhythmus oder Tempo her als schön, ist auch das Bewegungsareal mit aktiviert, auch wenn ich mich selbst gar nicht bewege. Also da passiert auch, bevor ich selbst zu tanzen anfange, schon in mir etwas, dass mir diese Bewegung eigentlich souffliert. Und bei der Wahrnehmung von schönen Gesichtern ist es das Belohnungszentrum, das aktiv ist. Das auch aktiv ist in anderen Fällen, wenn ich zum Beispiel andere sinnliche schöne Genüsse habe, wie ein gutes Essen oder einen guten Wein. Oder auch beim Drogenkonsum ist das Belohnungszentrum mit aktiv. Also diese Verschaltungen der unterschiedlichsten Areale macht die Beschäftigung mit dem Thema so spannend."
    Wie welche Musik auf den Menschen wirkt und als schön empfunden wird, auch diese Forschungsergebnisse sind in die Ausstellung eingeflossen. Denn selbst wenn jeder einen individuellen Musikgeschmack hat, gibt es doch eine Art gesellschaftlichen Konsens, was als schön empfunden wird.

    "Es gibt ja in der Musik die sogenannten schönen Stellen, das sind bestimmte kompositorisch angelegte Stellen in der Musik, wenn man da nachfragt, mit Experten spricht oder auch selber eine gewisse Musikerfahrung hat, dann weiß man zum Beispiel, dass es Arien gibt in "La Traviata", die als solche schönen Stellen bezeichnet werden. Solche Beispiele haben wir drin. Dann haben wir ein anderes Kriterium auch mal angelegt: Es gibt zum Beispiel eine Untersuchung von der BBC zum meistgespielten Radiosong aller Zeiten und das war 'Yesterday' von den Beatles, also dieses Beispiel haben wir deswegen auch mit aufgenommen."
    Ein regelmäßiger Rhythmus und Töne, die Entspannung auslösen und einen gleichförmigen Klang produzieren werden häufig als schön empfunden. Stärker noch als visuelle Eindrücke werden beim Musikhören unsere Emotionen und Erinnerungen angesprochen. Dabei spielen Wissen und das Gefühl von Vertrautheit eine wichtige Rolle für unsere Musikwahrnehmung.
    Wer der Schönheit nicht länger ins Auge sehen will, kann sich in einem dunklen Raum in bequeme Hörsessel zurücklehnen, einen Kopfhörer aufsetzen und einfach nur in schönen Geräuschen baden:

    Hörbeispiel:

    "Als schön werden häufig Naturgeräusche wahrgenommen, die relativ ruhig und leise, sowie mit angenehmen Erinnerungen verbunden sind. Dies bestätigt auch eine Internet Umfrage des Schweizer Fernsehens von 2007. Auf Platz 4 gelangte das Bachrauschen (Rauschen), Platz 3 belegten die Meereswellen (Wellen), Platz 2 das Vogelgezwitscher (Zwitschern), auf den 1. Platz gelangte Klassische Musik (Vivaldi: Der Frühling). Für viele Menschen sind mit klassischer Musik angenehme Erfahrungen verbunden, sie regt das vegetative Nervensystem stark an und zeigt deutliche Aktivitäten im sog. Belohnungssystem des Gehirns."
    Nach dem Ohrenschmaus im Dunkeln, den vielen künstlerischen Installationen und wissenschaftlichen Erkenntnissen angesichts der Frage "Was ist schön?" öffnet sich wieder der Spiegelkorridor zur kritischen Selbstreflexion über das Thema. Und gibt am Ende den Blick frei auf einen großen weißen Raum mit dem Titel "Vielfalt und Gestaltung".

    Beim Durchschreiten des weißen Säulenwaldes entdeckt man an den Rückseiten der Pfeiler kleine Monitore. Zu sehen sind zehn Filme der Videokünstlerin Gabriele Nagel, die sich mit sehr subjektiven Positionen zur Gestaltung von Schönem auseinandersetzen. Kuratorin Sigrid Walther über Dimensionen von Schönheit, die vielleicht nicht mehrheitsfähig sind, aber der Suche nach Antworten auf die Frage "Was ist schön?" weitere Facetten abgewinnen.
    "Wenn ich hier geradestehe, dann haben wir eben einen Schlangenzüchter, der auch Körpermassagen anbietet mit seinen Schlangen, und das ist doch ein sehr umstrittenes, eher mit Vorsicht aufgenommenes Thema. Dann haben wir den Mathematiker, der über die Zahl Pi reflektiert. Und was das Interessante bei diesen ganzen Tätigkeiten ist, sie sprechen darüber, was an ihrem Tun schön ist und ästhetisch ist."

    Die Ausstellung "Was ist schön?" ist noch bis zum 2. Januar 2011 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden zu sehen.